Für die einen Reizwort aus dem Munde radikaler Systemkritiker, für die anderen überall präsentes Phänomen eines wuchernden Immobilienmarktes: Spekulativer Leerstand. Zwar wurde er in Berlin noch nicht als fester Bestandteil einer sich anbahnenden Spekulationsblase im großen Stil ausgemacht. Doch ein Blick auf den aktuellen Wohnungsmarkt zeigt: Die Bedingungen, mit ungenutzten Gebäuden Geld zu machen, sind so gut wie lange nicht.
Neukölln ist in Bewegung. Nur das Haus in der Weisestraße 47 steht still. In den Fenstern keine Vorhänge, kein Licht. Die Klingelanlage ist defekt. Im Erdgeschoss sind Rollläden heruntergezogen, auf ihnen kleben ausgebleichte Fetzen alter Veranstaltungsplakate. Der fünfstöckige Altbau, ein dunkelgrauer Klotz, ist das schwarze Schaf dieser begrünten Seitenstraße des Schiller-Kiezes – nicht nur wegen seines Aussehens, auch weil seine 36 Wohnungen bis auf zwei leer stehen, die meisten von ihnen seit vielen Jahren.
Im April rückten ein paar wütende Neuköllner an, die dem Besitzer spekulativen Leerstand vorwarfen, um das Gebäude zu besetzen. Von einem Balkon ließen sie das Transparent „Alle leeren Wohnungen an Hartz-Vier-BezieherInnen“ herunterflattern. Schließlich setzte die Polizei die Immobilien-Eroberer noch am gleichen Tag wieder vor die Tür.
Ruhige Nebenstraße, Altbau, Neukölln. Die Weisestraße 47 wäre eine Wunschadresse vieler Wohnungssuchender. Es ist aber auch eine Adresse, deren Marktwert steigt. Im Jahr 2011 sind, laut Gutachterausschuss für Grundstückswerte (GAA) vom Senat für Stadtentwicklung, Eigentumswohnungen in Neukölln um gut sechs Prozent teurer geworden. Und so kann sich Hoffnungen auf satte Gewinne machen, wer hier mit leeren Immobilien spekuliert, auch wenn der Neuköllner Baustadtrat, Thomas Blesing (SPD), die Lage in seinem Bezirk erst mal beschwichtigt: „Es gibt immer Objekte, wo das auftritt“, sagt er, „aber das sind Einzelfälle.“
Auch in anderen Bezirken Berlins boomt der Immobilienmarkt. Seit Juni 2011 stieg nach Angaben des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) der Kaufpreis von Eigentumswohnungen in Berlin durchschnittlich um 15 Prozent. Wer von dieser Entwicklung profitieren will, der freut sich nicht schon über üppiger werdende Mieteinnahmen in der Zukunft, sondern setzt eine schwungvollere Rechnung auf: In günstigen Zeiten eine Wohnung kaufen, einen niedrigen Zins für die Geldleihe bei einer Bank finden, ein paar Jahre warten und schließlich teurer verkaufen. Störfaktor an dieser Aktion: die Mieter, die diese Wohnungen bewohnen. Eine Durchschnittswohnung wird aktuell, je nach Berliner Ortsteil, für 84 bis 285 Euro pro Quadratmeter teurer verkauft, wenn sie nicht vermietet ist, hat das DIW herausgefunden. Wer mit Leerstand spekuliert, kann deutlich mehr Profit erwarten.
Wie stark dieses Phänomen auf dem Hauptstadt-Markt in jüngster Zeit zugenommen hat, lässt sich nicht mit Zahlen belegen, doch so viel steht fest: Die Bedingungen dafür sind exzellent. Der Wohnungsmarkt wird angespannter, die Zinsen auf Kredite sind niedrig, und die Kaufpreise werden auch in Zukunft weiter steigen. Lange war Berlin nur Lieblingsziel von Touristen und Künstlern, doch nun haben auch Immobilien-Käufer den Wert der Stadt erkannt. Im vergangenen Jahr seien in Berlin so viele Immobilien-Transaktionen abgeschlossen wie nie zuvor seit der Wiedervereinigung, gab der GAA kürzlich bekannt. Gegenüber dem Vorjahr führten diese Verkäufe im Jahr 2011 zu 28 Prozent mehr Umsatz.
Ein altbekanntes Gesicht
Der Besitzer des Hauses in der Weisestraße 47 ist allerdings kein neues Gesicht in Berlin. Schon zu West-Berliner Zeiten gehörte das Gebäude Henning Conle, einem deutschlandweit agierenden Immobilienhändler, den der Hamburger Mieterverein einst unter die vier größten „Mieterschrecks“ der Hansestadt wählte. Keine Luxusimmobilie, sondern einen rückständigen, unsanierten Altbau mit Etagentoiletten und Ofenheizung, kurzum, eine Ansammlung von Billigwohnungen, brachte Conle mit seinem Neuköllner Wohnhaus einst in seinen Besitz. Alt-Eingesessene, Künstler und Studenten waren die Bewohner, bis in den vergangenen 20 Jahren einer nach dem anderen freiwillig oder genervt von baulichen Mängeln ein neue Bleibe suchte. Nun sind die Mieter fast alle weg, der schlechte Zustand des Hauses ist aber geblieben. Gerade deswegen könnten doch Geringverdiener darin wohnen, stimmt ein Mitarbeiter der Stadtteilinitiative Schillerkiez in die Forderungen der vor die Tür gesetzten Hausbesetzer ein. „Es gibt ja fast keine Wohnungen mehr in Neukölln, die sie noch bezahlen können.“ Also: Warum nicht? Man wolle sich dazu nicht äußern, ist die Antwort der Hausverwaltung.
Nun verfolgt nicht jeder die Absicht, mit seinem Wohnungskauf zu spekulieren, doch der Berliner Senat hat die drohende Gefahr erkannt. Der Stadtentwicklungssenator plant ein Gesetz zum Verbot der Zweckentfremdung von Wohnungen. Neben spekulativem Leerstand soll auch die Nutzung von Wohnraum als Feriendomizil eingeschränkt werden. Doch das Vorhaben steht noch auf wackligen Beinen: „Es ist umstritten, ob es rechtlich durchsetzbar ist“, sagt die Pressesprecherin des Senators, Daniela Augenstein. „Wir erwarten Klagen gegen das Verbot.“
Die Grundeigner blasen zum Angriff
Eine davon wird mit angekündigter Verlässlichkeit von der Eigentümerschutz-Gemeinschaft „Haus und Grund“ kommen. „Wir werden das angreifen. Wir haben das schon mal erfolgreich angefochten“, so der Sprecher der Eigentümer-Gilde, Dieter Blümmel. Er sieht keine Chance, dass das Gesetz in Kraft tritt. Die Lage in Berlin sei vom Senat in einigen Stadtteilen als „angespannt“ angegeben worden. Um aber ein Zweckentfremdungsverbot durchzusetzen, müsse für die Bevölkerung insgesamt eine „gefährdete Wohnraumversorgung“ herrschen. In Berlin sei das nicht der Fall. „Der Entwurf ist handwerklich schlecht, ja: haarsträubend“, findet Blümmel. Vor allem aber: Nicht nötig. Nicht wegen der Anzahl zu vieler Ferienwohnungen, nicht wegen des hohen Leerstands. Denn dass damit spekuliert würde, nennt er abwegig.
Das Gesetz sieht vor, Geldbußen an Eigentümer zu verhängen, die Wohnungen mehr als sechs Monate leer stehen lassen, ohne dass dies durch Sanierungsarbeiten oder mangelndes Mieterinteresse gerechtfertigt werden könne – allerdings nur in Bezirken, in denen Wohnungsmangel herrscht. Wo das der Fall sei, soll eine Verordnung festlegen, die alle ein bis zwei Jahre aktualisiert werden soll. Wer gegen das Verbot verstößt, wird zu einer Geldbuße verdonnert. Bis zu 50.000 Euro könnten fällig werden.
Der Geschäftsführer der Berliner Mietervereins, Reiner Wild, begrüßt den Gesetzentwurf. Die Immobilienspekulation würde andernfalls zunehmen, ist er sich sicher: „Ein Bußgeld bedeutet eine gewisse Abschreckung.“
Als „längerfristiger Leerstand“ gehen Wohnungen in die Statistiken ein, die seit mehr als einem halben Jahr verwaist sind. Und sie sind dort keine Marginalie. Zwar nimmt der Leerstand in Berlin stetig ab, doch ist die Anzahl längerfristig unbewohnter Wohnungen im Vergleich zu Kurzzeit-Leerständen hoch. Drei zu eins war das Verhältnis im Jahr 2010, wie eine Analyse der Investitionsbank Berlin (IBB) aus dem vergangenen Jahr ergab.
Von rund 133.000 unbewohnten Wohnung waren knapp 100.000 schon über sechs Monate leer. Vornehmlich Alt- und Plattenbauten in Mitte, Friedrichshain-Kreuzberg, Neukölln und Marzahn-Hellersdorf. Davon wiederum waren 70.000 Wohnungen grundsätzlich vermietbar, die allerdings nicht am Markt angeboten wurden. Wegen Sanierung und Umbau, wie die Eigentümer begründeten, oder: wegen Verkauf.
Wiebke Schönherr
Mehr Informationen zum Thema "Zweckentfremdung von Wohnraum" (Mai 2016):
MieterMagazin 9/12
Der Immobilienmarkt boomt und lockt auch skrupellose Geschäftemacher an – entsprechend ist der Protest
Fotos: Christian Muhrbeck
Aus leeren Wohnungen kann man im Verkaufsfall wesentlich mehr herausschlagen – spekuliert darauf auch der Eigentümer der Weisestraße 47?
Der Berliner Mieterverein hat im Sommer seine „IMMOWATCH“-Aktion gestartet. Damit ruft er Mieter auf, neben Miethöhen und Modernisierungskosten auch Leerstände in Berlin zu melden (Aktion ist abgeschlossen).
Zum Thema
Spekulationswelle im alten West-Berlin
Mit Leerstand wurde schon in den 1970ern und frühen 1980ern in West-Berlin spekuliert, wenngleich mit anderen Zielen als heute. Investoren und das Land Berlin waren damals auf Neubau aus, der finanziell gefördert wurde. Altbausanierung sah man als Belastung auf dem Weg ins moderne Stadtleben an. Subventioniert wurde sie nur, wenn die Kosten unter 75 Prozent der Kosten eines Neubaus lagen. Immobilienbesitzer ließen daher reihenweise Altbauten für eine Abrissgenehmigung verkommen. „Typisch war, eine Reihe Ziegel kurz vor der Traufe wegzunehmen, damit das Haus bei Regen volllief und Schimmel ansetzte“, erinnert sich Stadtsoziologe Sigmar Gude. Als Protest entstand die Hausbesetzerbewegung, Ende der 80er setzte dann die „behutsame Stadterneuerung“ ein, die der Altbausanierung wieder den Vorrang gab.
Wiebke Schönherr
21.12.2016