Überall in Brandenburg trifft man auf alte Tongruben. Aus diesen Löchern ist Berlin entstanden. Ohne die vielen Ziegeleien, die den regionalen Rohstoff Ton zum Baustoff Backstein verarbeitet haben, wäre das rasante Wachstum Berlins in der Gründerzeit unmöglich gewesen.
Der Ziegelstein ist der grundlegende Baustoff zum Aufstieg Berlins zur Millionenstadt – was man jedoch kaum bemerkt, wenn man durch die Straßen Berlins spaziert. Fast alle Häuser sind verputzt und nur an frei liegenden Brandwänden und an Stellen, wo der alte Putz von der Fassade bröckelt, tritt der Ziegelstein zu Tage. Anders als in Hamburg, Lübeck oder Rostock, die ebensolche ausgesprochenen Backsteinstädte sind, versteckt Berlin sein Baumaterial. Der Grund ist einfach: Nur hochwertige Ziegelarten eignen sich zum unverputzten Bauen – und die wurden in Berlin weniger verwendet.
Der Rohstoff Ton war rund um Berlin in großen Mengen und in verschiedenen Qualitäten vorhanden. Gute Ziegelerden liefern je nach Art und Dauer des Brennens Steine, „welche bei Schwachbrand erdig rötlich erscheinen, bei Mittelbrand weiße, bei Hartbrand gelbe, dann orange und endlich als Klinker grüne Farbe annehmen“, schrieb der Berliner Stadtbaurat Hermann Blankenstein, der selbst viel mit Backstein baute, 1877 in „Berlin und seine Bauten“. Bei der Mehrzahl der brandenburgischen Tonlager reichte die Qualität allerdings nur für einfache Hintermauerungssteine.
Der immense Hunger der ab 1871 rasant wachsenden Hauptstadt nach Ziegelsteinen war allerdings nur durch die Industrialisierung der Ziegelherstellung zu stillen.
Massenproduktion durch Ringöfen
Neben der in den 1850er Jahren erfundenen Ziegelmaschine, mit der die Handarbeit der Ziegelformung abgelöst wurde, war vor allem die Erfindung des Ringofens entscheidend für die Massenproduktion. Den Ringofen meldete der Berliner Baurat Friedrich Hoffmann zusammen mit dem Danziger Stadtbaumeister Albert Licht zum Patent an. Mit ihm konnten bei geringem Brennmaterialverbrauch in ununterbrochenem, gleichmäßigem Betrieb Ziegel gebrannt werden. Die bis dahin üblichen Öfen wurden dagegen nach jedem Brand geöffnet und geleert. Die Brennkammer kühlte dabei völlig aus und musste vor dem nächsten Brennvorgang mit viel Kohle wieder auf die erforderliche Temperatur gebracht werden. Der Ringofen wurde hingegen kontinuierlich auf einer Temperatur von 850 bis 1200 Grad Celsius gehalten. Durch ein System von Zügen und Schiebern wurde die Hitze reihum in die im Kreis oder Oval um den Ofen angeordneten Brennkammern geleitet. Mit der Abwärme wurden gleichzeitig in den anderen Kammern die Rohlinge getrocknet und vorgewärmt, durch die Zuführung von Frischluft wurden die gebrannten Ziegel abgekühlt. Dadurch verkürzten sich die Brenn- und Trockenzeiten erheblich und der Kohlenverbrauch ging um zwei Drittel zurück. Schon 1873 gab es in der Provinz Brandenburg 150 Ringöfen, die jährlich 500 Millionen Ziegelsteine brannten, 1896 arbeiteten fast alle größeren Ziegeleien mit Ringöfen.
In relativ kurzer Zeit entwickelte sich die bis dahin handwerksmäßige, saisonabhängige Ziegelherstellung zur Industrie. Mit den Ringöfen wurden viele Jahrzehnte lang Ziegel gebrannt. In Zehdenick, dem bedeutendsten Ziegeleirevier Brandenburgs, ist der letzte Ringofen erst 1990 stillgelegt worden.
Die Ziegeleien entstanden immer direkt am Ort des Tonvorkommens. So lagen Ziegeleien meist an der unteren Havel zwischen Potsdam und Rathenow, an der oberen Havel zwischen Oranienburg und Fürstenberg, am Finowkanal im Raum Eberswalde und südöstlich von Berlin an Spree und Dahme. Die Orte, in denen große Ziegeleien gebaut wurden, wandelten sich damals grundlegend: Plötzlich kam eine große Zahl von Arbeitern in die landwirtschaftlich geprägten Dörfer und die Landschaft veränderte sich durch den Tonabbau nachhaltig. Die Tongruben füllten sich mit Wasser und ließen vielerorts kleine Seenketten entstehen.
Transportiert wurden die Ziegelsteine auf dem Wasserweg nach Berlin. Jede größere Ziegelei hatte einen eigenen Hafen oder wenigstens eine Verladestelle am Fluss. Über die Havel, die Spree und die vielen Kanäle war Berlin von jeder Ziegelei aus per Schiff zu erreichen. Meist wurden dazu die so genannten Finowkähne, die 225 Tonnen Gewicht transportieren konnten, benutzt. Auch die übrigen Baumaterialen wurden auf dem Wasserweg nach Berlin geliefert – deshalb heißt es so treffend: „Berlin ist aus dem Kahn gebaut.“ Von den Berliner Häfen wurden die Steine mit Pferdefuhrwerken zu den Baustellen gebracht.
Genormte Wände – genormte Steine
Die Größe der Ziegelsteine wurde 1872 deutschlandweit genormt: 12 Zentimeter breit, 25 Zentimeter lang und 6,5 Zentimeter hoch. Diesem „alten Reichsformat“ lagen die Mauerstärken der tragenden Wände zugrunde, die in der Bauordnung festgelegt waren. Sie sind jeweils ein Vielfaches des Ziegel-Einheitsmaßes plus Mörtelfugen und reichen von 25 Zentimeter bei Giebelwänden in den oberen Geschossen bis zu 64 Zentimeter für die Frontwände des Erdgeschosses. Die auf die Decken aufgemauerten Trennwände wurden meist in 12 Zentimeter Stärke ausgeführt. Für eine durchschnittlich große Berliner Mietskaserne brauchte man über eine Million Steine.
Einen Sonderfall gab es am Anfang der Gründerzeit in Prenzlauer Berg. Der Deutsch-Holländische Aktien-Bauverein, eine Terraingesellschaft, die den größten Teil des Baulandes zwischen Prenzlauer und Schönhauser Allee besaß, baute im Bereich des jetzigen Helmholtzplatzes eine eigene Ringofenziegelei. Sobald die voranschreitende Bebauung über die Danziger Straße hinausging, sollte die Ziegelei sich amortisiert haben und abgerissen werden. Die Ziegelei fand allerdings schon früher ihr Ende, weil die Gesellschaft Mitte der 1880er Jahre liquidiert wurde. 1885 wurde der Schornstein gesprengt, doch erst zehn Jahre später, als rings um den Helmholtzplatz schon Mietshäuser hochgezogen wurden, schüttete man die Ruine des Ringofens zu. Noch heute liegen unter den höher gelegenen Grünanlagen des Helmholtzplatzes die Trümmer der Ziegelei.
Nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges erwies sich der Baustoff Ziegelstein aus Mangel an Alternativen sogar als wieder verwendbar. Trümmerfrauen bargen aus dem Schutt der zerschossenen Häuser Millionen von Backsteinen, die gesäubert und für den Wiederaufbau genutzt wurden. Zerbrochene Ziegel wurden in Trümmerverwertungsanlagen zerkleinert und zu Ziegelsplittbeton verarbeitet. Die althergebrachte Stein-auf-Stein-Bauweise blieb allerdings unübertroffen, bis sich schließlich die Industrialisierung des Bauens in den 60er Jahren durchsetzte und der Baustoff Beton den Ziegelstein immer mehr verdrängte. Der Backstein kommt heute fast nur noch im Einfamilienhausbau vor – oder er wird als Klinker-Fassadenelement zur Verzierung vor die Betonwand geklebt.
Jens Sethmann
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MieterMagazin 10/06
Berlins ältester Backsteinbau:
die Ruine des Franziskaner-Klosters
Fotos: Kerstin Zillmer
Vor rund 100 Jahren: Schnell entwickelte sich am Rande Berlins die Ziegelherstellung vom Handwerk zur Industrie
Fotos: Ziegeleipark Mildenberg
In Berlin die Ausnahme: unverputzte Ziegelwände
Foto: Kerstin Zillmer
Alles rund um die Ziegelherstellung wird im Ziegeleipark Mildenberg bei Zehdenick gezeigt:
Bis zum 15. Oktober täglich
von 10 bis 18 Uhr geöffnet,
danach wieder ab April 2007.
www.ziegeleipark.de
Know-how aus den Niederlanden importiert
Die Ziegelbauweise wurde in Brandenburg durch die niederländischen Kolonisten eingeführt, die Mitte des 12. Jahrhunderts von Albrecht dem Bären im Havelland und in der Altmark angesiedelt wurden. In Berlin ist die 1271 begonnene Franziskaner-Klosterkirche, von der heute noch die Ruine steht, der erste nachweisbare Backsteinbau. Während bei privaten Wohnhäusern noch lange der Holzbau vorherrschend blieb, setzte sich bei wichtigen Gebäuden die Ziegelbauweise schnell durch. In der Renaissance kam es allerdings in Mode, die Wände mit Kalkputz zu überziehen. Schinkel führte mit der Friedrichswerderschen Kirche (1825 bis 1828) den unverputzten Backsteinbau in Berlin wieder ein, doch blieb diese Bauweise wegen der hohen Kosten auf Kirchen, öffentliche Gebäude und Fabriken beschränkt.
js
27.11.2016