Um die 25,3 Millionen Menschen in Deutschland, das entspricht 30 Prozent der Bevölkerung, wohnen in 82 Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern. Nimmt man das funktional verflochtene Stadtumland dazu, dann sind es sogar 44,3 Millionen, die in den sogenannten Metropolregionen leben. Zusammen mit den Kleinstädten wohnt die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung Deutschlands damit in städtischen Siedlungsformen. Die Zukunft, die bekanntlich in der Gegenwart beginnt, hat also mit den vorhandenen städtischen Bebauungsformen ein steinernes und veränderungsresistentes Fundament. Nicht nur deshalb spricht einiges dafür, dass es so bleibt.
In den letzten Jahrzehnten ist die Wertschätzung für die vorhandenen Städte europaweit gewachsen. Man hat erkannt, dass der Kontinent mit seinem alten Städtesystem eine bewahrenswerte kulturelle, wirtschaftliche und ökologische Ressource mit Alleinstellungsmerkmal besitzt. Die alten Städte ziehen jährlich Tausende kaufkräftiger Touristen an, sie holen sich die Jugend Europas und der Welt in ihre Stadtmauern, an ihre Schulen und Universitäten, und sie ermöglichen Handel und Kommunikation auf kurzen Wegen. Sie bieten der wissensbasierten neuen Dienstleistungsökonomie und jungen Menschen in der Ausbildung einen attraktiven Begegnungs- und Vernetzungsort.
Die wirtschaftlichen, bildungspolitischen und kulturellen Argumente für die Stadt werden durch umweltpolitische Einsichten ergänzt. Die meisten europäischen Stadtkerne sind entstanden, bevor das Industriezeitalter mit seinem unstillbaren Hunger nach fossiler Energie einsetzte. Dieser historische Zufall erweist sich für die alten Stadtzentren als Vorteil im internationalen Wettbewerb. Hohe Bebauungs- und Bevölkerungsdichten im Verein mit der feinkörnigen Mischung von Wohn-, Kultur-, Arbeits- und Handelsstätten erleichtern den Austausch auf engem Raum, ermöglichen eine Mobilität ohne Auto und die wirtschaftliche Erschließung über den öffentlichen Nahverkehr.
Rückwirkend erweisen sich die europäischen Städte nicht nur als historischer Glücksfall, sondern auch als zukunftsweisendes Vorbild. Jeff Rubin, Autor des Buches „Warum die Welt immer kleiner wird – Öl und das Ende der Globalisierung“, hält die europäischen Städte für das zukunftsfähigste Siedlungsmodell. „Anstatt in smogverseuchten, von ausufernden Randbezirken umgebenen und von Schnellstraßen zerstückelten Städten zu leben, haben wir die einmalige Chance, uns in kleineren, bequem zu Fuß zu bewältigenden Stadtvierteln und kleinen Städten wiederzufinden, die gebaut (oder umgebaut) wurden, um besser in die neue kleine Welt zu passen.“ Rubin ist kanadischer Banker und weit entfernt von ökovisionären Spinnereien. Sein Szenario stützt sich allein auf die Überzeugung, dass wir auf ein Zeitalter zusteuern, in dem uns weltweit ansteigende Kosten für fossile Energie zum Umsteuern in allen Lebensbereichen zwingen werden.
Insofern bewegt sich die Zukunft der Städte und des städtischen Wohnens im sprichwörtlich grünen Bereich. Aber das optimistische Szenario trügt, weil es nur die Vogelperspektive liefert. In der Nahsicht erscheint ein anderes, komplexeres Bild. Ein Stadtpuzzle von kommerzialisierten, verlärmten Innenstädten mit geringen Resten von Wohnnutzung neben monofunktionalen Wohnvorstädten, Villen- und gesichtslosen Einfamilienhausgebieten sowie hässlichen Großwohnblocks. Selbst der vergleichsweise urbane Wohnstandort Berlin hat aus der Nähe betrachtet viele unterschiedliche Orte unterschiedlicher Qualität – eine polyzentrisches Gebilde mit verdichteten Altstadtkernen innerhalb des S-Bahnrings und einer deutlich größeren Fläche der Außenbezirke. Dort liegen der deutschlandweit größte Villengürtel, gesichtslose Großsiedlungen der Nachkriegszeit und zahlreiche Kleinhaussiedlungen mit offener Bebauung und viel Grün.
Zeichnet sich für diese heterogene Bebauung wirklich jener zukunftsweisende Trend in die Innenstadt ab, den Medien und Politik derzeit einhellig zeichnen? Die Behauptung ist einfacher als der empirische Beweis. Den sind die Verkünder bislang schuldig geblieben. Nach wie vor ziehen mehr sesshafte Berliner von den Innen- in die Außenbezirke als in umgekehrter Richtung. Dahinter steht ein veränderungsresistentes jahrhundertealtes Wohnmuster, das der Stadtplaner Thomas Sieverts „Prinzip Tucholsky“ getauft hat. Danach ist beim Wohnen nicht die innere Stadt das Ziel aller Sehnsüchte, sondern mit der Verbindung von „vorne Friedrichstraße und hinten Ostsee“ ein Ideal, das nur in Ausnahmefällen und für wenige Privilegierte Realität werden kann. Die Masse der Bevölkerung kann sich die zentrumsnahe Stadtvilla mit Park-Blick nicht leisten und muss sich mit der Westentaschenkopie des Häuschens am Stadtrand oder einer Vorstadtwohnung begnügen. Die weniger verdichteten, weniger verlärmten und stärker durchgrünten Wohngebiete der Stadtperipherie entsprechen den Wunschbildern der meisten deutlich mehr als die Innenstadtgebiete. Für Innenstadtnähe muss der schnelle Transport per Auto oder Bus sorgen. Räumliche muss durch zeitliche Nähe ersetzt werden. Die attraktivsten und teuersten Adressen sind deshalb in Berlin solche innenstadtnahen Gebiete wie der Grunewald oder der Lietzensee, die dem Wohnideal „vorne Ku’damm, hinten Stadtforst“ immerhin nahe kommen.
Selbstverständlich ist das Bild von Innenstadtwachstum und innerstädtischer Renaissance nicht nur ein Fantasieprodukt. Es gibt empirische Indizien, die sich allerdings fast ausschließlich der Zuwanderung von jungen Erwachsenen verdanken. Diese zumeist bildungsstarke, aber kaufkraftschwache Altersgruppe hat als Erstnachfrager von Innenstadtwohnungen enorm an Gewicht gewonnen, und sie war seit jeher innenstadtorientiert. Den enormen Nachfrage- und Mietpreisdruck, den sie derzeit entfaltet, feiert die Berliner Politik gemeinsam mit den Immobilienhändlern als nachhaltige urbane Renaissance. Vergessen scheint, dass die jungen Urbaniten von heute noch immer die Suburbaniten von morgen gewesen sind. Da das Prinzip Tucholsky wesentlich älter und veränderungsresistenter ist als alle derzeit beobachtbaren Trends, spricht nur sehr wenig dafür, dass sich das in Zukunft ändern wird. Im Gegenteil: In Berlin und in anderen Universitätsstädten tut die Baupolitik sehr viel dafür, dass die fortschreitende Nachverdichtung von Innenstadtgebieten die Flucht in grünere Randlagen verstärkt. Ausgerechnet der Nachfragedruck in der Innenstadt dient dabei als Begründung. Aber kein Neubau, der innerstädtisch entsteht, wird die kaufkraftschwache Warteschlange verkürzen, die sich hier aufgereiht hat.
Während die gesamtdeutsche Bevölkerung demografisch bedingt weniger wird, setzen Berlin und andere Universitätsstädte auf dauerhaftes Wachstum. Das hat Berlin Anfang der 90er Jahre auf dem angeblichen Weg zur Super-Metropole mit vielen negativen Begleiterscheinungen schon einmal gemacht. Ein nachahmenswertes Zukunftssignal für den Rest der deutschen Städte ist das nicht.
Armin Hentschel
Vom Elend der Stadt zum Lob der Stadt
Der Stimmungswandel im Diskurs über „die Stadt“ müsste die Fachleute eigentlich irritieren. Noch vor gut zehn Jahren hatte man sich schwerpunktmäßig mit „Grabgesängen auf die alte Stadt beschäftigt“ und war weit entfernt von den optimistisch gefärbten Lobliedern der Gegenwart.
Alexander Mitscherlichs „Unwirtlichkeit unserer Städte“ hatte Mitte der 60er Jahre gegen die Nachkriegs-Tristesse mit randstädtischen Großsiedlungen und „Einfamilienhausweiden“ angeschrieben und eine deutschlandweite Debatte über den Schrecken des Wiederaufbaus angeführt. Noch in den 90er Jahren skizzierte Thomas Sieverts in seinem viel beachteten Buch „Zwischenstadt“, wie die Städte durch Abwanderung der besser gestellten Bewohner in das Umland, durch Supermärkte und Bürobauten auf der grünen Wiese und durch innerstädtische Blechlawinen steuerlich, wirtschaftlich und kulturell ausgetrocknet und zerstört werden, und rief zur „Trauerarbeit“ für das Urbane auf. Sekundiert wurde die Stadtuntergangsbelletristik durch Analysen mit dem Titel „Die Krise der Städte“ und zahlreichen Publikationen, die sich mit der sozialen Spaltung der Städte befassten.
Erst im letzten Jahrzehnt gewannen Überlegungen die Oberhand, die sich mit Stadtrenaissance und urbaner Qualität befassen. Es ist kein Zufall, dass zeitgleich innerstädtischer Immobilienhandel und Stadttourismus boomen. Der Buchmarkt wird mit Stadtführern geflutet, die den Besucher visuell und kulinarisch durch die Erlebnisorte der europäischen Altstädte führen. Die Bildungs- und Oberschichten in aller Welt entdecken den Charme der Altstadt-Immobilie. Bis zur Finanzkrise sorgte das anlagesuchende Finanzkapital dafür, dass Investitionen diesen kulturellen Trend hin zu den „unterbewerteten“, sprich: zu billigen Wohnungsbeständen, unterfütterten. Für Nachfrage sorgte die europaweite Bildungswanderung der Jungen mit zunächst wenig Kaufkraft, aber großer Innenstadtneigung. Ganz nebenbei als Gratisgabe bringen sie das allseits geschätzte urbane Leben in die Bude.
Für die Masse der altsesshaften Stadtbewohner mit mittlerem oder wenig Einkommen kann die literarische, kulinarische, kommerzielle und bauliche Renaissance der alten Städte aber ein teurer Spaß werden.
ah
MieterMagazin 1+2/12
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31.03.2013