Michael Müller ist zu Besuch. Die Delegiertenversammlung des Berliner Mietervereins empfängt den Senator für Stadtentwicklung und Umwelt vor vollem Haus im Dachgeschoss des Tagungshauses Palisade in Friedrichshain. Der turnusmäßige Antrittsbesuch des neuen „Bausenators“ – wie man ihn in alten Zeiten nannte – gehört für Berlins größte Mieterorganisation zur Routine. Aber ein verwaistes 30-Seiten-Manuskript am Platz, ein frei redender Politiker und eine kaum zu bewältigende Flut von Redebeiträgen steckten den Rahmen für eine politische Debatte der wohltuend anderen Art ab.
Der Mietervereinsvorsitzende Edwin Massalsky hatte den Senator mit der kritischen Anmerkung eingeführt, dessen Partei und der SPD-geführte Vorgängersenat habe durch eine geschönte Einschätzung der Lage am Berliner Wohnungsmarkt und eine viel zu späte Korrektur die heutige Anspannung und Misere mit verursacht. Offener Widerspruch blieb aus, der Senator relativierte lediglich, dass man es auf dem Territorium Berlins mit zwölf Städten und ebenso vielen verschiedenen Problemlagen zu tun habe. Immerhin bekannte Müller, dass es die jahrelang behaupteten 100.000 leeren und am Markt verfügbaren Wohnungen in Berlin „nicht mehr“ gebe.
Es folgte eine Bilanz der Koalitionsvereinbarung zum Bereich Wohnen, die für die gut informierten Mieteraktivisten nicht in allen Punkten neu, aber im Ton bisweilen überraschend ehrlich ausfiel. „Es wird keine Privatisierung mehr geben. Was war, war ein Fehler“ – so der beklatschte Kommentar zum Verkauf städtischer Wohnungen. Die Marktmacht der kommunalen Wohnungsunternehmen mit ihrem geschrumpften Bestand von 270 000 Wohnungen sei zwar gemessen an 1,6 Millionen Berliner Mietwohnungen „überschaubar“, aber man sei entschlossen, sie zu nutzen. Er werde, so Michael Müller, darauf dringen, dass bei Modernisierungen und Mieterhöhungen die Belastungsgrenzen der Mieter im Auge behalten werden.
Kein Grund zur Verzagtheit
Als „spektakulär“ bewertete Müller die im Koalitionsvertrag enthaltene Selbstverpflichtung, die Vergabe landeseigener Liegenschaften nicht mehr nach rein finanz-, sondern auch nach stadtentwicklungspolitischen Maßstäben vorzunehmen. Wer baut, solle absichern, dass 20 bis 30 Prozent der neu erstellten Wohnungen zu bezahlbaren Mietpreisen entstehen.
Die neue, vom Mieterverein seit langem eingeklagte Verordnung zum Verbot von Zweckentfremdung werde man liefern, aber sie sei nur realistisch für Teilgebiete.
Die politische Offenheit des Senators hatte aber ein Ende, als es um die zahlreich vorgetragenen Forderungen nach Begrenzung der Wiedervermietungsmieten ging. Müller blieb bei den bekannten Elementen der Berliner Mietrechtsinitiative und gab zu bedenken, dass sich die Unterstützung selbst dafür „bei potenziellen Bündnispartnern, etwa in Hamburg, in Grenzen hält“. Reiner Wild, der Geschäftsführer des Berliner Mietervereins, konterte die bekundete Verzagtheit mit dem Hinweis, dass man in dieser Angelegenheit doch schon sehr viel weiter sei, als Müller dargestellt habe. In Hamburg und selbst in der Bundestagsfraktion gebe es bei der SPD Verbündete, die sich für eine Initiative inklusive Begrenzung der Wiedervertragsmieten stark machen würden. Ein Redner wies auf die zu diesem Thema kürzlich geführte Debatte im Nachbarland Frankreich hin.
Als die erschöpften Delegierten um 23 Uhr aus dem Saal strömten, waren erwartungsgemäß viele Wünsche offen. Doch den Äußerungen nach hatten die Versammlungsteilnehmer das Gefühl, einem ernsthaften und ehrlichen Streit beigewohnt zu haben – in Zeiten der allgemeinen Politikverdrossenheit ist das für einen Politiker mehr als nur ein Kompliment.
ah
MieterMagazin 6/12
„Die Privatisierung der kommunalen Wohnungsbestände war ein Fehler“: SPD-Senator Michael Müller vor der BMV-Delegiertenversammlung
Was die Deckelung der Neuvertragsmieten betrifft, waren die BMV-Vertreter mit dem Senator uneins
Fotos: Christian Muhrbeck
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Wie man es auch sagt …
„Es gibt kein Recht aufs Wohnen im Zentrum“, hatte Klaus Wowereit in der Debatte über Aufwertung, Verdrängung und explodierende Innenstadtmieten gesagt. Danach gefragt, wie er diese Aussage seines Chefs bewerte, antwortete Michael Müller: „Ich hätte das so nicht gesagt.“ Er sei gegen Verdrängung. Aber: „Nicht jeder Umzug ist Verdrängung.“ Wohl wahr, doch die folgenden Redebeiträge von Mietervereins-Delegierten stellten klar, was die eigentlichen Probleme sind: der erzwungene Exodus von ALG-II-Empfängern an den Stadtrand, teure Modernisierungen, der rasante Anstieg bei Umwandlungen von Miet- in Eigentumswohnungen und vor allem die unbezahlbaren Angebotsmieten für freie Wohnungen. Wenn zuziehende Neu- und wohnungssuchende Alt-Berliner sich auch bei normalen Einkommen die Mieten in attraktiven Stadtgebieten nicht mehr leisten können, kann man sich über Begriffe streiten – die Sachverhalte sind aber klar.
ah
30.03.2013