Berlin gilt weltweit als Hauptstadt der interkulturellen oder alternativen Gärten. Etwa 60 Projekte bieten Betätigungsmöglichkeiten für betonmüde Großstädter – und es werden jährlich mehr. Als Teil des Grünflächensystems erfüllen sie wichtige Ausgleichs- und Erholungsfunktionen. Wer keine Lust hat, sich den Regularien einer Kleingartenanlage zu fügen, kann hier für wenig Geld säen, pflanzen, ernten und ein kleines Stück Stadt mitgestalten.
Zu den über 74.000 Berliner Kleingärten, von denen die ersten Ende des 19. Jahrhunderts entstanden, kommen seit der Jahrtausendwende mehr und mehr Gemeinschaftsgärten, interkulturelle Gärten, Nachbarschaftsgärten, Kiezgärten, Hofgärten, Guerilla-Gärten, mobile Gärten, Bürgergärten, Bauerngärten, offene Gärten, Generationengärten und so weiter.
Ihr Motto könnte, frei nach der Kletterpflanze Jelängerjelieber (Gartengeißblatt, lat.: lonicera caprifolium), Jebunterjelieber, Jekleinerjelieber oder Jenäherjelieber oder ähnlich lauten. Ohne langfristige vertragliche Bindungen, Vereinssatzungen und ähnliche Restriktionen kann hier mit wenig Geld oder ganz und gar kostenlos gegärtnert werden. Selbstgezogenes Obst oder Gemüse schmeckt schließlich noch immer besser als jede im Bioladen gekaufte Ware. Und wo lernen Kinder heutzutage noch, wie gesät, gepflanzt, gejätet, pikiert, gegossen und schließlich geerntet wird?
Grüne Freizeitbegegnungsstätte
Seit April 2011 betreibt das gemeinnützige „Allmende-Kontor“ im Tempelhofer Park einen 5000 Quadratmeter großen Gemeinschaftsgarten. Jeder Berliner kann mitmachen. Inzwischen stehen 250 Interessenten auf der Warteliste. Hier kommt jeder mit jedem ins Gespräch, der gärtnerische Austausch wird nicht selten auch zum multikulturellen Austausch.
Kristin Radix sorgt mit einem 13-köpfigen Organisationsteam dafür, dass immer genug Mutterboden vorhanden ist und dass auch Saatgut und Gartengeräte zur Verfügung stehen. Rund 5000 Euro kostet das im Jahr, die Wassergebühren kommen noch dazu. Das Geld müssen die Freizeitgärtner aufbringen, eine Beitragsordnung gibt es nicht: Jeder zahlt, was er gerade erübrigen kann. Auch Spenden sind willkommen. Kristin Radix ist optimistisch, dass sie diesen Spagat auch in diesem Jahr wieder hinbekommt. Kristin Radix sieht das Projekt nicht nur als Gemeinschaftsgarten, sondern vor allem als Begegnungsstätte, als „einen Ort für alle von allen“.
Als ein Ergebnis des Jugendwettbewerbs „Ideen für den Kiez“ im Programm „Soziale Stadt“ 2000 entstand im Helmholtzkiez der 300 Quadratmeter große „Kiezgarten Schliemannstraße“. Der Bezirk stellte eine Fläche mit Wasseranschluss und ausgetauschtem Boden zur Verfügung. 2003 wurde zum ersten Mal ausgesät und gepflanzt. Heute wachsen hier Beerensträucher, Kräuter, Obstbäume, Stauden sowie Gemüse und Blumen. Etwa 80 Prozent sind Nutzpflanzen. Es gibt keine abgegrenzten Parzellen, allen gehört alles – auch die Ernte. Streit gab es bisher noch nicht, so Kerstin Stelmacher, von Anfang an dabei und Ansprechpartnerin für alle. Diskutiert wird lediglich über den Anbau alter Sorten, Fruchtfolgen, ökologisches Saatgut und Biodiversität. Ein Dutzend Erwachsene fühlen sich für Gießen und Unkrautzupfen verantwortlich. Mitmachen kann jeder, auch zehn Kinder gehören zum „Stamm“. Die Hobbygärtner kommen aus verschiedenen Ländern, der älteste ist mittlerweile 70. Solche Nachbarschaftsgärten gibt es inzwischen an vielen Orten. Erster interkultureller Garten Berlins war 2003 der Wuhlegarten in Köpenick. Die 18 Parzellen werden von Angehörigen aus elf Nationen bewirtschaftet. Und der „Perivoli-Garten“ in Britz entstand auf Initiative griechischer Einwanderer.
Auch einige Bauern vermieten oder verpachten Teile ihrer Felder am Rande der Stadt an lern- und arbeitswillige Berliner. Die Initiatoren um Inhaber Max von Grafenstein betreiben inzwischen drei Bauerngärten: in Pankow an der Blankenfelder Chaussee 5, in Havelmathen bei Gatow am Kladower Damm 57 und in Buckow bei Schönefeld am Querweg 6 ½. Hier können Interessenten im Frühjahr ein Stück Land übernehmen, in dem sich bereits Saatgut beziehungsweise junge Gemüsepflanzen befinden – etwa 25 verschiedene Sorten in Bioqualität. Das Gießen übernimmt der Bauer, er veranstaltet auch regelmäßige Workshops. Der Pächter übernimmt die Pflege – zwei Stunden in der Woche sind in der Regel ausreichend. Gartenwerkzeug, Dünger, neues Saatgut, neue Jungpflanzen und das Wasser stellt der Bauer – gärtnern also „all inclusive“. Wer träumt nicht davon, mit Taschen voll frischer Mohrrüben, Radieschen und Kohlrabi direkt vom Feld nach Hause zu fahren? Die Kräuter aus dem betriebseigenen Kräutergarten gibt es gratis dazu. Eine etwa 45 Quadratmeter große Parzelle kostet für eine Saison 390, eine halbe 195 Euro. Eine Parzelle versorgt in der Regel zwei bis vier Personen mit Ökogemüse. Das Motto der Bauerngärten: „Wir pflanzen – Sie ernten“. Auch die Familie Lutz Gericke in Rudow und der Gartenbaubetrieb Vogel in Wartenberg bieten derartige Flächen an.
Vom Dach ins Regal
In Deutschland gibt es rund 1,2 Milliarden Quadratmeter Flachdächer auf Produktions- und Bürogebäuden. Auf rund einem Viertel dieser Fläche könnten Kräuter und Gemüse wachsen, schätzen Fachleute. Warum kann ein Supermarkt nicht das verkaufen, was er auf dem Dach anbaut? Vom Dachgarten ins Regal, ohne teure Transporte – frischer geht’s nicht.
In New York gibt es das bereits: Die Firma BrightFarms Inc. im Bezirk Brooklyn verkauft mit Erfolg Salat, Tomaten und Kräuter, die unter Glasdächern des Gebäudekomplexes Blue Sea Development wachsen.
In Deutschland entwickelt gerade das Fraunhofer-inHaus-Zentrum in Duisburg einen Prototyp für dieses Modell, das seine Erfinder „Infarming“ nennen. Möglicherweise wird in den Mega-Cities der Zukunft die urbane Landwirtschaft unter dem Aspekt der Ernährungssicherheit und -gesundheit eine entscheidende Rolle spielen.
Rainer Bratfisch
Infos im Internet:
Weitere Informationen:
Allmende-Kontor: www.allmende-kontor.de
Bauerngarten: www.bauerngarten.net
Mariannengarten: www.stiftung-interkultur.de
meine ernte: www.meine-ernte.de
Das urbane Gärtnern ist erwachsen geworden
In der Hausbesetzerszene der 1970er und 1980er Jahre formierte sich in Berlin eine alternative Garten- und Grünbewegung. Der 6000 Quadratmeter große „Ziegenhof“ des Vereins Blockinitiative 128 e.V. am Klausener Platz in Berlin-Charlottenburg ist noch heute eine funktionierende Kiezoase, die von den damaligen Hausbesetzern noch immer ehrenamtlich betrieben und gepflegt wird. Auch die Kinderbauernhöfe am Mauerstreifen in Kreuzberg oder im Görlitzer Park wurden über 30 Jahre nahezu ausschließlich von Freiwilligen betrieben. In anderen Fällen, wie dem Naturschutzzentrum Ökowerk am Teufelssee im Grunewald, das vor über 25 Jahren entstand, beteiligen sich heute Bezirk und Land am Unterhalt.
In den 1990er Jahren entstanden im Rahmen einer weltweiten sozialen Bewegung unter dem Motto „community gardening“ beziehungsweise „urban gardening“ überall in der Stadt Nachbarschaftsgärten und „Interkulturelle Gärten“. Bis heute hat es die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt jedoch versäumt, diese neuen Formen der „urban agriculture“ in die Flächennutzungsplanung aufzunehmen, gerade auch in der Innenstadt entsprechende Flächen vorzuhalten und die zahlreichen Initiativen finanziell deutlich zu unterstützen.
rb
MieterMagazin 5/12
Gartenfreuden mit einem Hauch Anarchie: Allmende-Kontor auf dem Tempelhofer Flugfeld
Fotos: Kerstin Stelmacher
Alle machen alles, allen gehört alles: Kiezgarten Schliemannstraße in Prenzlauer Berg
Fotos: Sabine Münch
„Gärtnern all inclusive“ kann man bei Bauer Max von Grafenstein im Bauerngarten Havelmathen
Fotos: www.bauerngaerten.net
Landwirtschaft auf dem Dach: „Blue Sea Development“ in Brooklyn, New York
Foto: BrightFarm Systems
27.04.2020