Grabgesänge auf die deutschen Innenstädte waren in den vergangenen Jahrzehnten Routine. Nun aber hat sich der Wind gedreht. Der Diskurs über die Renaissance der Städte beherrscht Wissenschaft, Medien und Politik. Wo sich Erfolgsgeschichten anbahnen, darf die Bundesregierung nicht fehlen. Bundesminister Ramsauer hat Fachleute, Bürger und Verbände aufgefordert, beim „Weißbuchprozess Innenstadt“ mitzumischen. Noch aber weiß niemand, wohin das Unternehmen eigentlich geht, vor allem nicht, wie ernst es gemeint ist.
„Der Zeitpunkt, jetzt mehr für die Innenstädte zu tun, ist günstig. Die Innenstadt wird vielerorts als Wohnort wiederentdeckt.“ So heißt es im frisch aufgelegten Entwurf des Weißbuchs Innenstadt. Bislang hat des Bauministers Herz besonders geglüht, wenn er sich als Beschleunigungs- und Motorisierungsminister präsentieren durfte. Nun wird mit dem Weißbuch-Entwurf ein feuriges Plädoyer für das Herz der Städte vorgelegt. Nicht verwunderlich, dass man beim Hineinhören in die Verbände Skepsis wahrnimmt. „Der Diskussionsentwurf des Ministeriums ist nicht falsch, aber auch nicht mehr als eine Fleißarbeit“, hört man von Hartmut Thielen vom Deutschen Städtetag, und er ergänzt: „Immer dort, wo es mit Bezug auf den Bund konkret werden könnte, bleibt das Papier noch zu vage.“
Das ministerielle Timing für die Einleitung des Verfahrens ist in der Tat denkwürdig – wurden die Kommunen doch noch vor wenigen Wochen durch die Nachricht einer Halbierung der Bundesmittel für die Städtebauförderung alarmiert. Infarktprävention in ihren städtischen Herzstücken können sie aber nur bei hinreichender Finanzlage betreiben. Die aber ist katastrophal. Grund sind vor allem die zwischen 2000 und 2009 verdoppelten Sozialausgaben und die in der Vergangenheit rückläufigen Einnahmen aus der Gewerbesteuer.
„In der Mitte der Stadt lässt sich ihre Bedeutung, ihre Kultur und ihr wirtschaftliches und gesellschaftliches Klima ablesen.“ Nirgendwo sonst ist die Krise unseres Wachstumsmodells und unseres sozialen Zusammenlebens so sichtbar wie in den gesichts- und trostlosen Stadtzentren. Am deutlichsten erkennt man dies an den Fußgängerzonen.
Ratlosigkeit – nicht Planungsirrtum
Als die „autofreien Kinder der autogerechten Stadtplanung der Nachkriegsmoderne“ hat der Berliner Kunsthistoriker Jürgen Tietze sie bezeichnet. „Inzwischen ist das Modell Fußgängerzone insgesamt in die Jahre gekommen.“ Befreit von Wohnnutzungen und Autoverkehr erstickt der Wettbewerb der Markisen-, Schaufenster-, Schilder- und Neonreklamen jegliche Aufenthaltsqualität. Im Schwebezustand zwischen ihren ehemaligen Straßen- und der missglückten neuen Platz- und Marktfunktion sind die Innenstädte vielerorts nur noch Konsumzonen, die nach Geschäftsschluss in Agonie fallen. Es wäre zu kurz gegriffen, sie nur als Planungsirrtümer im Gefolge einer falsch verstandenen Zonierung und Entmischung zu sehen. Sie künden vom Zustand eines Gemeinwesens, das nicht mehr genau weiß, was es mit seinen öffentlichen Räumen anstellen soll.
Berlin mit seinen Subzentren – eine Stadt der vielen Innenstädte – zeigt ebenso das Spektrum wie den Wettbewerb der Lösungen. Neben Friedrichstraße und Kurfürstendamm, City Ost und West liegen zahlreiche Straßen, in denen sich Handel und Gastronomie konzentrieren. Es gibt Extreme: Die Fußgängerzone in der Wilmersdorfer Straße von Charlottenburg, eine unwirtliche Spätgeburt der Nachkriegsmoderne, ist das eine. Auf der anderen Seite stehen die Plätze in den West- und Ost-Berliner Alt-Quartieren, in denen es noch eine Mischung von Wohnen und Gewerbe gibt, wie der West-Berliner Savignyplatz und der Ost-Berliner Kollwitzplatz – mit hohem Wohnanteil, einem Rest von spezialisiertem Einzelhandel und einer bereits grenzwertigen Ansammlung von Gastronomien.
Die Normalität liegt dazwischen: Die Steglitzer Schlossstraße nahe der Grenze zu Zehlendorf zum Beispiel. Der Bezirk hat das Kaufhaussterben in dieser monofunktionalen Meile beschleunigt, indem er auf kürzester Distanz neben mehreren großen Warenhäusern eine Shopping-Mall am Südende genehmigte. Der stadtkulturelle Beitrag dieser Art von Innenstadt ist jedenfalls ähnlich wie in der Wilmersdorfer Straße und anderswo: tagsüber schneller Konsum und nach Feierabend Leere und Langeweile.
Der Bürger ist mehr als Konsument
Innenstädte wie die Schlossstraße in Steglitz künden von der Mutlosigkeit der Politik, einer übermäßigen Nutzung von Filialisten und Warenhauskonzernen Einhalt zu gebieten. Den Schilder- und Reklameterror können Stadtplanungsämter und Wettbewerbe für den öffentlichen Raum auch mit vorhandenen Rechtsinstrumenten verhindern. Aber sie müssten das Publikum nicht nur als Konsumenten, sondern als Stadt-, Bildungs- und Kulturträger begreifen.
„Kommt der große Investor“, so der Geschäftsführer des Berliner Mietervereins Reiner Wild, „dann wird die kommunale Planung passend gemacht, werden Verstöße gegen Rechtsvorschriften nicht geahndet und darf, wie beim Schloss in Steglitz, noch mehr Publikum aus dem öffentlichen Raum in eine Passage abgesaugt werden als ursprünglich geplant.“ Das Weißbuch schlägt regionale Einzelhandelskonzepte, innerstädtische Entwicklungskonzepte und die Bündelung lokaler Netzwerke vor. Richtige Ansatzpunkte, die jedoch wirkungslos werden, wenn die schlechte Finanzlage der Städte ständig Anreize gibt, um kostbare Flächen an Meistbietende zu verkaufen.
Das größte Fragezeichen, wenn es um die Aufwertung innerstädtischer Räume geht, hinterlässt jedoch der motorisierte Individualverkehr. Eine Frage, auf die das Weißbuch weniger eine Antwort als eine Umfahrungsstrategie anbietet. „Gewährleistung von Mobilitätsvielfalt“ unter besonderer Berücksichtigung der Elektromobilität lautet die Faustformel, an der der bayerische Hausherr des Ministeriums offenkundig mitgestrickt hat: „Wir wollen Mobilität als unverzichtbaren Teil unserer Freiheit und unseres Wohlstandes sichern, ausbauen und bestmöglich organisieren.“ 12,6 Milliarden Euro hat Ramsauer für den Verkehrsbereich und 2,2 Milliarden Euro für den Bereich Bau und Stadtentwicklung geliefert. Wohl kaum ein Beleg dafür, dass der Städtebau ein Schwerpunkt der Bundesregierung und ihres Bauministers ist. Das Wohnen, der Wohnungsbau und die Themen rund um die Preise der Mietwohnform liegen genauso wie die nicht motorisierten Fortbewegungsformen in dessen Verantwortung, aber nicht dort, wo sein Herz schlägt. Für die Innenstädte aber ist der motorisierte Individualverkehr der Infarktfaktor Nummer eins. Eine durchgreifende Sanierung der urbanen Mobilitätssysteme tut Deutschlands Städten und dem Klimaziel ebenso Not wie dem Minister eine Neuordnung seiner Herzangelegenheiten.
ah
MieterMagazin 12/10
Grablegung, Reanimierung, Renaissance – das Schicksal der Innenstädte wird regelmäßig neu beschworen
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Innenstadt mit Wohnqualität: Savignyplatz
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Unwirtliche Nachkriegsmoderne: Wilmersdorfer Straße
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Schilder-Terror in der Schlossstraße
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Das Weißbuch: weise Handlungsanleitung oder farbige Werbemaßnahme?
Als eine Sammlung mit Vorschlägen zum Vorgehen in einem bestimmten Bereich bezeichnet die Internet-Enzyklopädie „Wikipedia“ das Weißbuch. Ihrem historischen Ursprung nach gehören Weißbücher zu jenen offiziell-farbigen Dokumentensammlungen, die als diplomatische Schriftensammlung zumeist die Außenpolitik betrafen. In den USA waren sie ebenso wie in Österreich rot, blau in Großbritannien und gelb in Frankreich. Im Kern dienten sie zur Rechtfertigung politischen Handelns. Das Weißbuch Innenstadt soll nun „die wichtigsten Trends, Chancen und Probleme der innerstädtischen Entwicklung aufzeigen und konkrete Vorschläge formulieren, wie Bund, Länder, Kommunen, Private und andere eine nachhaltige Entwicklung der Stadt- und Ortskerne unterstützen können.“ Wie viel ernsthaftes Diskussionsangebot der bis in das Frühjahr 2011 befristete Weißbuch-Prozess transportiert, lässt sich zurzeit schwer beurteilen. Eine Wegweiserfunktion wäre dem Weißen Buch zu wünschen. Das Thema hätte es verdient.
ah
11.04.2013