Istanbul ist eine Stadt, die schnell wächst. Viele Menschen aus Anatolien ziehen seit Jahrzehnten in die größte Stadt der Türkei. Die Metropole am Bosporus ist gleichzeitig Handels- und Finanzzentrum. Hier eine Wohnung zu finden, ist nicht einfach.
Hasan arbeitet als Verkäufer in einer Patisserie im Viertel Findikzade an einer großen Straße. Sein Arbeitsplatz ist nicht weit von der Wohnung entfernt. Er hat eine Dreizimmerwohnung gemietet. Dort leben er, seine Frau und drei Kinder.
Hasan und seine Familie sind Rückkehrer. Viele Jahre lebte er in Nürnberg. Er spricht gut deutsch. „Früher oder später will jeder in Istanbul Wohnungsbesitzer sein – man ist unabhängiger“, sagt Hasan. Unabhängig will man in erster Linie von den Vermietern sein und zwar, sobald man es sich leisten kann. Der Mieter ist beim Vertragsabschluss auf sein Verhandlungsgeschick angewiesen. „Bei meiner jetzigen Wohnung habe ich bei der Kaution verhandelt. Mein Vermieter forderte drei Monatsmieten, wir einigten uns auf zwei.“ Bei Mietverhältnissen in der Türkei ist es oft üblich, die Miete nicht monatlich zu bezahlen, sondern für ein ganzes Jahr im Voraus. Soviel Geld muss man erst einmal aufbringen. Auch die Höhe der Miete ist Verhandlungssache. Wenn der Mieter der Ansicht ist, eine zu hohe Miete zu bezahlen, kann er vor Gericht gehen. Es wird dann die marktübliche Miete vor Ort zum Vergleich herangezogen. Einen Mietspiegel gibt es jedoch nicht.
Mietrechtsreform in Arbeit
Bei der Gründung der türkischen Republik durch Kemal Atatürk in den 1920er Jahren wurden auch Rechte für Mieter festgelegt. Doch kaum jemand weiß davon. „In der Türkei gibt es keine Mieterbewegung“, sagt Barbara Steenbergen von der International Union of Tenants (IUT), der Internationalen Mietervereinigung. Vielleicht ändert sich das bald. Die Regierung reformiert derzeit das Mietrecht. Ob die Reformen zu Gunsten der Mieter oder der Vermieter ausfallen werden, ist noch offen. „Die Neuerung, dass beim Auszug Schönheitsreparaturen zu leisten sind, hat jedenfalls in der Türkei für Aufsehen gesorgt – erfreut sind die Mieter darüber nicht“, sagt Y. S. Kaan Kalkan. Er ist Rechtsanwalt in einer Kanzlei in Stuttgart, die sich auf internationales Bau- und Mietrecht spezialisiert hat.
Der Wunsch nach Unabhängigkeit ist das Erbe eines Lebens, das viele Familien vor ihrem Umzug nach Istanbul führten: ein Leben als Bauern in Anatolien. In ihrem Roman „Septembertee“ beschreibt die in Deutschland lebende Schauspielerin Renan Demirkan das Verhältnis ihrer Mutter zu ihrer Wohnsituation in Deutschland: „Mir war, als schämte sie sich dafür, dass wir hier all die Jahrzehnte immer nur zur Miete wohnten. Sie wollte nie, dass ihre Schwestern sie in ihrer geliehenen Welt besuchten. Kein Philosoph konnte ihr so sehr imponieren wie jemand, der ein eigenes Haus besaß.“ Wer in der Türkei ein Haus besitzt, dessen Existenz ist gesichert.
Viele Zuwanderer aus dem Osten der Türkei fanden in den letzten Jahrzehnten im Istanbuler Stadtteil Kadiköy ein neues Zuhause. Das Viertel auf der asiatischen Seite wuchs schnell und ist heute mit über 650.000 Einwohnern einer der größten Bezirke Istanbuls. Wie in Kreuzberg, mit dem Kadiköy eine Bezirkspartnerschaft verbindet, ist die Integration der Zuwanderer allgegenwärtiges Thema.
Wer an den Stadtrand fährt, dem wird klar, wie unterschiedlich man in der größten Stadt der Türkei leben kann. Es ist noch immer Gewohnheitsrecht aus der Zeit des osmanischen Reiches, dass ein Haus, das in einer Nacht auf öffentlichem Raum errichtet wurde, erst einmal nicht abgerissen werden darf. Für die Stadtplaner sind die ungeplanten Viertel, auch Gecekondu genannt, ein Alptraum. Für viele Menschen in Istanbul sind diese provisorischen Häuser hingegen ihr Lebensraum. Der Begriff Gecekondu tauchte zum ersten Mal 1947 auf. Er bedeutet soviel wie „über Nacht errichtet“. Bald darauf wurde vom Parlament ein Gesetz verabschiedet, das den Boden demjenigen überließ, der darauf gebaut hatte. Daran sind jedoch Bedingungen geknüpft. Wer sich nicht daran hält, muss damit rechnen, dass das Haus abgerissen wird. Zu den Bedingungen zählt der weitere Ausbau der behelfsmäßigen Unterkunft.
Der Bezirk Ümraniye ist in den letzten Jahren zur Ruhe gekommen. Ümraniye war einst zu drei Vierteln eine Gecekondu-Siedlung. Das Gebiet liegt zwischen den beiden Bosporusbrücken, die 1973 und 1988 errichtet wurden. Eine Besiedlung war dort ursprünglich nicht vorgesehen. Wegen der verkehrsgünstigen Lage siedelten sich aber schon bald Industriebetriebe, Webereien und Möbelfabriken an. Mit ihnen kamen die Menschen und zogen in provisorische Unterkünfte. Heute hat Ümraniye knapp 600000 Einwohner. Die Transformation vom Gecekondu-Quartier zum normalen Wohnviertel ist gelungen. Es gibt Einkaufszentren, Banken, Gymnasien und Krankenhäuser. 2004 eröffnete in Ümraniye die erste Ikea-Filiale der Türkei.
Trotz rasanter Wachstumszahlen der türkischen Wirtschaft ist die Inflation immer noch ein Problem. Seit einigen Jahren liegt deren Rate bei etwas unter zehn Prozent. Doch auch, wenn man gelernt hat, mit dem ungewissen Wert des Geldes klarzukommen, ist es nicht immer einfach. Die Mieten werden zum Beispiel regelmäßig um die Inflationsrate angehoben – für viele ein weiteres Argument, sich nach einer eigenen Wohnung umzusehen.
Bezahlt wird in Euro oder Dollar
Wer in einem der angesagten Viertel wohnen möchte, muss Devisen in der Tasche zu haben. Mietwohnungen im Bezirk Sultanahmet sind rar und exklusiv. In den Wohnungsanzeigen sind die Preise gleich in Euro oder US-Dollar angegeben: Eine 60-Quadratmeter-Wohnung kann dann schon mal 1800 Euro pro Monat kosten. Den Blick auf den Bosporus lassen sich die Vermieter natürlich auch bezahlen. Im Bezirk Beyoglu kostet der Meerblick auf 110 Quadratmetern rund 1500 Euro. Eine begehrte Wohnlage wird bald auf dem Gelände des Stadions des Fußballvereins Galatasaray Istanbul entstehen. Das alte Stadion des rot-gelben Traditionsvereins befindet sich im europäischen Teil Istanbuls im Viertel Mecidiyeköy. Das Grundstück liegt direkt neben der Stadtautobahn O-1, wo auch in der Nacht viel Verkehr tobt. Wer zentral in der Innenstadt leben will, darf aber in Istanbul nicht wählerisch sein. Der Wohnraum ist knapp. An die Außenmauern des Stadions schmiegen sich bereits jetzt Wohnblöcke. Der Bauträger des neuen Stadions machte mit der Stadtverwaltung einen einträglichen Tausch. Das Baugrundstück in der Innenstadt ist ein Schnäppchen. Er bekam das Grundstück in Mecidiyeköy gegen die Finanzierung des neuen Stadions.
Michaela Müller
MieterMagazin 3/09
Kadiköy ist der Partnerbezirk von Kreuzberg – mit ähnlichen Problemen
alle Fotos: Michaela Müller
Istanbul ist die größte Stadt in der Türkei
Beim Vertragsabschluss braucht man Verhandlungsgeschick: Rückkehrer Hasan
Ob in der Altstadt oder in den neuen Stadtvierteln: Wohnungseigentum wird in Istanbul groß geschrieben
Istanbul in Zahlen
Schätzungen gehen davon aus, dass im Großraum Istanbul 17 bis 20 Millionen Menschen leben. Istanbul ist die einwohner- und flächenmäßig größte Stadt der Türkei. Sie umfasst rund 1540 Quadratkilometer (zum Vergleich: Berlin hat 890 Quadratkilometer). Verwaltungstechnisch ist Istanbul in 27 Bezirke aufgeteilt. Zwischen den Bezirken Kadiköy und Friedrichshain-Kreuzberg gibt es seit 1996 eine Bezirkspartnerschaft.
mmm
09.06.2013