Die Wohnungswirtschaft Russlands befindet sich in einem krisenhaften Zustand. Die Situation der Bewohner, seien es Eigentümer oder Mieter, ist prekär. Mindestens die Hälfte des gesamten Wohnungsbestandes ist dringend sanierungsbedürftig. Auch in der Metropole St. Petersburg. Doch es mangelt an eigentumsrechtlichen, finanziellen und organisatorischen Möglichkeiten für die Wohnraumverbesserung. Im Rahmen der deutsch-russischen Kooperation und mit finanzieller Unterstützung der Europäischen Union wird der Aufbau einer bürgernahen Wohnungspolitik und einer effizienten Verwaltung der Mehrfamilienhäuser von Wohnungseigentümern betrieben. Auf Einladung der „Initiative Wohnungswirtschaft Osteuropa“ (IWO) nahm der Berliner Mieterverein (BMV) an einer Bürgerkonferenz im St. Petersburger Stadtbezirk Grazhdanka teil.
Das Taxi kommt ungewohnt und unerwartet rasant voran: Die Fahrgäste freuen sich über das Tempo, denn normalerweise braucht man mit dem Auto für zehn Kilometer gut und gern eineinhalb Stunden. St. Petersburg steht im Dauerstau – auch und gerade auf den breiten Prachtboulevards wie dem Njewski-Prospekt. Die Autos, nicht selten schwere Geländefahrzeuge, die freilich nie das Gelände sehen, versperren sich mit aggressiver Fahrweise den Weg. Es ist Samstagmorgen und der Verkehr ist etwas dünner.
Knut Höller, Vorstandsmitglied des IWO und der BMV-Hauptgeschäftsführer Hartmann Vetter lassen den Stadtbezirk Grazhdanka von St. Petersburg auf sich wirken. Es ist ein Vorortbezirk im Norden der Stadt, geprägt von Wohngebäuden aus sozialistischer Zeit. Hier leben jetzt aber nicht mehr Mieter, sondern Eigentümer. Um deren Probleme soll es bei einer Bürgerkonferenz gehen. Das IWO unterstützt diese Konferenz im Rahmen eines von der EU geförderten Projekts „Bürgernahe Wohnungspolitik“. Hier soll es, so Knut Höller, um ganz praktische Fragen der Verwaltung von Mehrfamilienhäusern gehen. „Nach der überstürzten Privatisierung Anfang der 90er Jahre konnte zwar 2005 ein gesetzlicher Rahmen mit dem ,Wohnungscodex‘ geschaffen werden, aber die Umsetzung, insbesondere von Wohnungseigentümergemeinschaften, geht nur sehr schleppend voran.“
Schwieriger Weg in die Marktwirtschaft
Im Lehrerzimmer einer Schule haben sich an die 30 Personen versammelt und befragen die eingeladenen Experten. Angehört werden vorrangig die Vertreter von Hausverwaltungen, die bereits über Erfahrungen verfügen. Die Probleme liegen im Detail und sind für deutsche Verhältnisse manchmal kaum vorstellbar. Wie soll das Gemeinschaftseigentum saniert werden? Wer soll die jahrelang unterlassene Instandsetzung bezahlen?
Mit der Verabschiedung eines umfangreichen Gesetzespakets im Jahre 2004 versuchte die russische Regierung die Transformation des Wohnungswesens in Richtung Marktwirtschaft voranzubringen. Die Pflicht für die Erhaltung und Instandsetzung der Wohngebäude wurde den neuen Eigentümern und den Kommunen auferlegt. Diese sind den Aufgaben jedoch weder finanziell noch organisatorisch gewachsen. Öffentliche Fördermittel sind mangels tragfähiger Konzepte so gut wie gar nicht zu erhalten. Auch die konkrete Planung der Gebäudeverbesserung stellt die Bewohner vor kaum lösbare Aufgaben. Wie kann eine energetische Sanierung organisiert werden, wenn keine Messsysteme vorhanden sind, die die gelieferte Energie erfassen? Seit Jahren werden diese Probleme diskutiert, ohne dass man einer Lösung auch nur einen Schritt näher gekommen wäre. Zivilgesellschaftliches Engagement, das die individuellen Interessen zum Wohl der Gruppe bündelt, ist nach 70 Jahren sozialistischer Planwirtschaft kaum ausgeprägt. Es gibt keine Verwaltung, die das in die Hand nehmen könnte.
Die Eigentümer – ehemalige Mieter, die ihre Wohnung geschenkt bekommen hatten – wollen oder können sich nicht an den Kosten beteiligen. Schulden zu machen ist für sie etwas völlig Neues, insbesondere sind Zinsen von 12 bis 14 Prozent auch nicht bezahlbar angesichts der niedrigen Einkommen des Durchschnittsbürgers. Die Schicht, deren Geländefahrzeuge die Straßen verstopfen, fährt auch vielfach auf Pump, aber mit kurzfristigen Krediten bei deutlich höheren Einkommen. Die Probleme verschärfen sich, da Energie inzwischen auch in Russland teuer geworden ist. Da aber individuelle Versorgungsverträge und technische Möglichkeiten fehlen, wird auch bei Nichtzahlung die Lieferung nicht eingestellt, was vielfach weidlich ausgenutzt wird. So bewohnen viele Gratis-Eigentümer ihre Wohnungen gar nicht mehr, sondern machen ihre Geschäfte durch Vermietungen oder lassen die Wohnungen einfach leer stehen, um mit ihnen zu spekulieren. Sie kosten ja nichts.
Deswegen hat die Privatisierung auch zu einem Wohnungsmangel geführt, der nun mit einem „Sozialen Wohnungsbauprogramm“ bekämpft werden soll. Aber nur 5 Prozent des tatsächlichen Bedarfs wird, wenn überhaupt, befriedigt, so dass es noch mindestens 20 Jahre dauern würde, um die Wohnungsnot zu beseitigen.
2007 wurde ein „Fondsgesetz“ verabschiedet, das circa 7,1 Milliarden Euro für 2008 bis 2011 bereitstellt. 60 Prozent der Mittel sollen für Instandsetzung und Modernisierung von Mehrfamilienhäusern und 40 Prozent für die Umsiedlung aus baufälligem Wohnungsbestand verwendet werden. Fünf Prozent der Kosten sollen die Wohnungseigentümer selber aufbringen. Berichtet wird, dass mit diesem Programm bereits 31.175 Mehrfamilienhäuser bedient wurden. Diese Zahlen sind jedoch mit Vorsicht zu werten, da von den bekannten Vorhaben noch keines wegen der fehlenden Eigenmittel umgesetzt werden konnte.
Mieter sind eine kleine Minderheit
Mieter sind auf diesem Wohnungsmarkt „Exoten“. Nur 3,8 Prozent aller Haushalte leben nach der Volkszählung von 2002 in Mietwohnungen. Nach aktuellen Schätzungen soll der Anteil der Mieter in St. Petersburg derzeit zwischen fünf und acht Prozent betragen. Ein Teil dieser Mieter wohnt in den sogenannten „Kommunalkas“: Vornehmlich in größeren Altbauten im Zentrum der Ostseemetropole müssen sich mehrere Haushalte Küche und sanitäre Anlagen teilen. In diesen Objekten können keine Eigentümergesellschaften gegründet werden, womit aber auch der Zugriff auf Fondsmittel zur Sanierung verwehrt ist. Ein anderer Teil der Mieterschaft lebt in jenen Wohnungen, die von den Eigentümern nicht selbst bewohnt, sondern vermietet werden. Dieser Wohnraum wird oft zu extrem hohen Preisen vergeben, ohne Legalisierung des Mietverhältnisses und selbstverständlich ohne die Versteuerung der Mieteinnahmen. Der rechtliche Status der Mieter ist ungesichert und stellt für viele nur ein Übergangsstadium zur eigenen Wohnung dar. Die Preise dafür haben durchaus deutsches Niveau und sind deswegen nur für ausländische Geschäftsleute bezahlbar.
„Exotisch“ empfanden die Teilnehmer der Bürgerkonferenz den Vortrag des Berliner BMV-Geschäftsführers Hartmann Vetter. Basses Erstaunen löste das Leistungsangebot des Mietervereins angesichts des geringen Beitrags aus. Aber die Gründung einer reinen Mieterorganisation sei angesichts der Eigentümerstruktur derzeit nicht angezeigt, zumal Wohnungseigentümer eigentlich viel schutzbedürftiger seien als die Mieter, so die etwas resignative Schlussfolgerung eines Teilnehmers der Bürgerkonferenz.
MM
MieterMagazin 4/09
St. Petersburg steht vor kaum lösbaren wohnungswirtschaftlichen Aufgaben: Wie saniert man? Wer kommt dafür auf?
Die Privatisierung der Plattenbauten hat zu einem Wohnungsmangel geführt …
… den der zaghafte Neubau nicht beheben kann
Fotos: Reiner Wild (4),
Hartmann Vetter (1)
St. Petersburg in Zahlen
Die Ostseemetropole ist mit circa 4,66 Millionen Einwohnern auf 600 Quadratkilometern Russlands zweitgrößte Stadt und das Verwaltungszentrum des Föderalen Nord-West-Bezirks. Die durchschnittliche Haushaltsgröße beträgt 2,6 Personen. Von den Haushalten sind 24 Prozent Einpersonenhaushalte (Berlin: 53 Prozent), 28 Prozent Zweipersonenhaushalte, 24 Prozent Dreipersonenhaushalte und weitere 24 Prozent Haushalte mit vier und mehr Personen. Die Stadt ist in 18 Bezirke untergliedert. Gewohnt wird in rund 45.000 Gebäuden (Berlin: mehr als 300.000). In St. Petersburg beträgt die durchschnittliche Wohnfläche 21,5 Quadratmeter pro Bewohner. Die in Plattenbauweise errichteten Gebäude machen 55 Prozent der Gesamtfläche des Wohnungsbestandes aus. Rein statistisch lässt der Wohnungsstandard kaum zu wünschen übrig: 94 Prozent hat Warmwasser, 98,7 Prozent Zentralheizung und 92,1 Prozent Bäder oder Dusche. Die Wohnungsbauproduktion erbrachte im ersten Halbjahr 2006 folgendes Ergebnis: 69 Wohngebäude und 147 Einfamilienhäuser wurden neu errichtet, sieben (!) Mehrfamilienhäuser wurden saniert.
08.06.2013