Die Schrebergärtner blicken auf eine über hundertjährige Tradition. Während dieser Zeit haben sie Berlin auch zur Hauptstadt der „Laupenpieper“ gemacht. Wer hinter den Gartenzäunen jedoch ein spießiges, vereinsmeierndes Milieu vermutet, liegt falsch. Unter den Kleingärtnern finden sich zunehmend junge Menschen und viele Migranten. Überdurchschnittliches Bildungsniveau, Interesse an Natur und Ökologie sowie ein ausgeprägter Sinn für das soziale Miteinander strafen das Klischee vom Gartenzwerg-Idyll Lügen.
Die Sonne glitzert durch die weißen Blüten des Apfelbaums, auf dem Ast eines lila Fliederbuschs wippt eine Amsel, und vom Garten nebenan weht der Geruch von gegrillten Würstchen herüber. Eine Oase der Stille. Kaum zu glauben, dass nur wenige Meter Luftlinie entfernt der donnernde Verkehr der Ullsteinstraße vorbeibraust.
Seit elf Jahren hat Familie Ritter (Name geändert) hier, in der Kolonie „Fröhliche Eintracht“, eine Parzelle. Ihre Mietwohnung in Kreuzberg ist nicht weit weg – ein wichtiger Grund, weshalb sich die Ritters für diese Anlage entschieden haben. „Seinerzeit haben wir der Kinder wegen zunächst überlegt, ganz ins grüne Umland zu ziehen, haben uns aber dann doch für einen Schrebergarten entschieden“, erzählt Maria Ritter. Dem jungen Paar war es wichtig, während der Woche am sozialen Leben in Berlin teilzunehmen, und auch am Wochenende wollten die beiden „nicht völlig draußen“ sein. Ihr gepachtetes Grün teilen sie sich mit zwei Freunden. Das sei auch gut so, denn es mache schon viel Arbeit. Besonders für Berufstätige wie sie sei es nicht immer leicht, alles in Schuss zu halten, sagt die zweifache Mutter.
Die Ritters sind keine Ausnahme. Zunehmend werden Kleingartenkolonien von jungen Pärchen und Familien bevölkert. In Deutschland sind laut Bundesverband Deutscher Gartenfreunde (BDG) 64 Prozent aller neuen Pächter, die seit 2000 einen Garten übernommen haben, jünger als 55 Jahre. In Berlin sinkt der Altersdurchschnitt der Kleingärtner seit längerem kontinuierlich und liegt derzeit nach Auskunft von Peter Ehrenberg, dem Vorsitzenden des Lan-desverbands Berlin, bei 56 Jahren.
Fast 1000 Kolonien
Mit den neuen Pächtern weht ein frischer Wind durch die Anlagen. „Der Trend geht weg von der Gartenzwergmentalität hin zu hippen Kleingärten“, beobachtet Thomas Wagner vom BDG. „Das sind junge Leute, die gerne in ihrer schicken Wohnung in Prenzlauer Berg wohnen, aber auch Lust auf ein ruhiges Fleckchen Grün mitten in der Stadt haben.“ Doch anstatt lässig mit einem Glas Latte Macchiato in der Hand auf dem Sonnenstuhl zu liegen, würden die neuen Laubenpieper durchaus Obst und Gemüse anbauen – natürlich in Bio-Qualität, weiß Thomas Wagner. Auch die Motivation, Kinder an die Natur heranzuführen, spiele eine Rolle: „Viele Eltern möchten ihrem Nachwuchs zeigen, dass Erbsen nicht einfach aus der Dose kommen.“
76.752 Kleingärten in 954 Kolonien gibt es derzeit in Berlin. Damit liegt die Hauptstadt weit vor anderen Städten. Hamburg etwa hat nur rund 36.000 Parzellen. Die Berliner Schrebergärten nehmen eine Fläche von 3160 Hektar ein – fast vier Prozent des Stadtgebiets. „Keine vergleichbare Metropole hat eine so große Anzahl an privat nutzbaren Gärten im unmittelbaren Einzugsbereich der Innenstadt“, heißt es bei der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung. Das hat historische Gründe: Anfang des 19. Jahrhunderts sind sogenannte Armengärten bewusst in der Nähe großer Firmen wie Siemens oder AEG für die dort Beschäftigten angelegt worden, um ihnen ein gewisses Maß an Selbstversorgung mit Obst und Gemüse zu ermöglichen. Nach 1945 dienten die Lauben in der ausgebombten Innenstadt dazu, den Berlinern Notunterkünfte zu verschaffen (siehe Kasten auf Seite 16).
Kleingartenkolonien sind eine Welt für sich, eine Art Mikrokosmos. Menschen ganz unterschiedlichen Alters und ethnischer wie sozialer Herkunft kommen hier auf relativ engem Raum zusammen. Wo es Differenzen gibt, sind sie am ehesten noch durch das unterschiedliche Alter der Gartennutzer geprägt: „Als die Kinder noch kleiner waren, hatten wir es mitunter schwer, den Nachbarn klarzumachen, dass sich Dreijährige nun mal nicht immer an die Mittagsruhe halten“, erzählt Maria Ritter. Sie hat Bekannte, die ihre Laube nach kurzer Zeit wieder aufgegeben haben, da sie mit den strengen Regeln innerhalb der Kolonie nicht klargekommen sind. Auch Angela Köttgen, drei Jahre lang Vorsitzende der Kolonie „Gute Hoffnung“ in Charlottenburg, musste herbe Diskussionen mit alteingesessenen Pächtern führen. Der Grund: Unter ihrem Vorsitz waren viele Parzellen an junge Familien vergeben worden und einige ältere Herrschaften fürchteten um ihre Ruhe. „Das gab manchmal schon ganz schön Ärger“, erzählt sie.
„Als Laubenpieper muss man Nachbarschaft bewusst leben wollen“, sagt Jürgen Hurt. Er war 32 Jahre Präsident des Landesverbandes Berlin der Gartenfreunde. Das enge Miteinander vieler Menschen innerhalb einer Kolonie erfordere Disziplin. Gewisse Vorschriften seien notwendig, um ein friedliches Auskommen zu gewährleisten. Aber: „Von außen wirkt das Vereinsleben viel restriktiver, als es in Wahrheit ist“, versichert Hurt. Einmal im Jahr findet eine Begehung jeder Parzelle durch den Kleingartenverein statt. Dann wird kontrolliert, ob die Laube die zulässige Grundfläche von 24 Quadratmetern nicht überschreitet, ob die Hecke mal wieder gekürzt werden muss und ob die vom Bundeskleingartengesetz vorgeschriebene „kleingärtnerische Nutzung“ der Parzelle auch eingehalten wird.
Die laufenden Kosten für einen Schrebergarten liegen durchschnittlich bei etwa 500 Euro pro Jahr. Darin enthalten sind die Grundkosten wie Pachtzins, die Mitgliedsbeiträge für den Verein und die verbrauchsabhängigen Betriebskosten, also Wasser, Abwasser und Strom. Bei der Übernahme einer Laube ist an den Vorpächter eine einmalige Ablösesumme zu zahlen. Diese wird von einem unabhängigen Gutachter geschätzt. Je nach Ausstattung und Zustand sind in der Regel zwischen 2000 und 5000 Euro fällig. In Berlin liegt der Durchschnittspreis bei 4000 Euro.
Wer mit dem Gedanken spielt, selbst Hobbygärtner zu werden, wendet sich am besten direkt an seinen Bezirksverband. Dort gibt es Bewerberlisten. Anders als früher muss man heute nicht mehr jahrelang auf eine Parzelle warten. Die Auswahl beim Verband erfolgt auch nach sozialen Kriterien. Familien mit kleinen oder behinderten Kindern werden bevorzugt.
Integration auf kulinarische Art
Auch Derya Cakir und ihr Mann mussten nur wenige Monate warten, bis sie vor drei Jahren Vereinsmitglied in der Kolonie „Gute Hoffnung“ werden konnten. Bei der türkischstämmigen Familie packt jeder mit an. Während Deryas Bruder den Rasen mäht, kümmert sich ihre Mutter um das Gemüsebeet und ihre Schwägerin behält die Kinder im Auge, die im Garten spielen. Auf der großen Terrasse haben sich Freunde versammelt und tauschen Neuigkeiten aus. Über den Gartenzaun hält man einen Plausch mit der syrischen Familie von nebenan. „Gerade mit Kindern ist so ein Platz ideal“, findet Derya Cakir. Spießig finden sie und ihre Familie das Vereinsleben nicht, das Miteinander könnte ihrer Ansicht nach ruhig noch ausgeprägter sein: „Dieses Jahr wird es kein Sommerfest geben, das ist eigentlich schade“, erzählt die junge Frau. Im letzten Jahr hätten „die Leute ganz neugierig geguckt, was wir da so an türkischen Köstlichkeiten mitbringen.“ Zum Beispiel mit Reis gefüllte Zucchini-Blüten, natürlich aus dem eigenen Beet – Integration auf kulinarischem Weg.
Schrebergärten sind nicht dazu gedacht, dass man auf Dauer dort wohnt. Eine große Zahl von Laubenpiepern übernachtet dennoch in den Sommernächten in ihrem Garten, die meisten Vereine drücken ein Auge zu. Andreas Oertel lebt das ganze Jahr über in der Kolonie Sandkrug mitten in Wedding. Kaum einer würde hier, nur wenige Schritte vom quirligen Gesundbrunnen-Center entfernt, schmucke solide Häuser inmitten gepflegter Blumengärten erwarten. An den Zäunen hängen Briefkästen und Namensschilder, die Wege sind ordentlich gefegt und ein Schwarzes Brett am Eingang kündigt das nächste Vereinsfest an. Etwa die Hälfte der Bewohner lebt hier ständig. Andreas Oertel wohnt seit 1995 in seiner Laube und dem 300 Quadratmeter großen Garten. Wobei „Laube“ stark untertrieben ist: Das Steinhaus hat eine Wohnfläche von 60 Quadratmetern und verfügt über Badezimmer, Küche, Wohn- und Schlafzimmer. „Wenn ich erzähle, wo ich wohne, lautet die erste Frage meistens ,Darf man das?‘“, erzählt der junge Mann. Ja, man darf. Denn streng genommen ist die Kolonie Sandkrug keine Kleingartenkolonie, sondern eine Ansammlung von Eigentümergärten und fällt daher nicht unter das Bundeskleingartengesetz. Andreas Oertel hat das Haus von seiner Mutter geerbt und weiter ausgebaut. Er findet es toll, nah an der Natur und trotzdem mitten in der Stadt zu leben. Auch seinen Freunden gefällt der ungewöhnliche Wohnort, besonders für gemeinsame Grillabende ist sein Garten begehrt. „Und Zoe liebt es, hier herumzutollen“, sagt er und streichelt seiner jungen weißen Labrador-Hündin lächelnd über den Kopf. Einige Zeit lebte er in einer Mietwohnung in Friedrichshain, doch er vermisste schnell das Grün um ihn herum. „Wenn ich irgendwann wieder in eine Wohnung ziehen sollte, dann in einen Altbau mit hohen Decken, denn das fehlt mir hier“, sagt er und deutet auf die niedrigen Decken über sich. Seine Nachbarn sind überwiegend im Rentenalter. Früher, als er noch Student war und manchmal seine Musikanlage etwas lauter drehte, gab es schon mal Beschwerden. Aber inzwischen kommt er mit der Nachbarschaft gut aus. „Man hilft sich gegenseitig, borgt sich was aus. Das Gemeinschaftsgefühl ist besser als in Mietshäusern – nicht so anonym“, findet er. Als sein 60-jähriger Nachbar vor Kurzem einen Schlaganfall hatte, half Andreas Oertel ihm, indem er seine Beete umgrub. Und wenn der Verlagsmitarbeiter tagsüber bei der Arbeit ist, passt eine 70-jährige Frau aus der Kolonie auf Zoe auf.
Große Aufgaben für die kleinen Gärten
„Eine Kleingartenanlage ist ein geschützter Raum, so ähnlich wie eine Dorfgemeinschaft: Die Menschen kümmern sich umeinander“, sagt Jürgen Hurt. Das sei in den meisten Mietshäusern heute nicht mehr der Fall. Neben den sozialen Aspekten haben Berlins Kleingärten auch städtebaulich wichtige Funktionen. Als „grüne Wohnzimmer“ bieten sie einen Ausgleich für enge Wohnungen, dienen der Erholung, sorgen für eine Auflockerung im grauen Häusermeer und verbessern das Klima. „Daher ist die Förderung des Kleingartenwesens eine wichtige städtebauliche, gesundheits- und sozialpolitische Aufgabe des Landes Berlin“, heißt es auf der Internetseite der Senatsverwaltung.
Dennoch müssen die Laubenpieper immer wieder Bauprojekten weichen. Seit der Wiedervereinigung sind rund 90 Kleingartenanlagen verschwunden. Allein im Jahr 2004 sind nach Auskunft des Landesverbandes Berlin der Gartenfreunde etwa 300 Parzellen verloren gegangen. 79 Prozent der Kleingartenfläche in Berlin gilt allerdings als dauerhaft gesichert. Für die restlichen Parzellen gelten unterschiedliche Schutzfristen. Der Senat verlängerte vor einiger Zeit den Bestandsschutz von rund 160 Kolonien bis ins Jahr 2020. Für acht Kolonien wurde die Frist definitiv nicht verlängert, 22 sind laut Peter Ehrenberg derzeit noch in der Schwebe. Zu den Kolonien, die kurz- bis mittelfristig Bauvorhaben weichen müssen, zählen vor allem Standorte in hochwertiger innerstädtischer Lage in Charlottenburg-Wilmersdorf sowie etwa 300 Parzellen in Neukölln und Treptow-Köpenick, die Platz machen sollen für den geplanten Ausbau der Stadtautobahn A 100.
Der Kampf um „Württemberg“
Die Kolonie Württemberg ist seit Jahren in ihrer Existenz bedroht. Ihre ideale Lage ganz in der Nähe des Kurfürstendamms macht die Fläche zu einem bei Investoren begehrten Objekt. Die Anlage, die bereits vor 86 Jahren gegründet wurde, erstreckte sich ursprünglich von der Pariser bis hin zur Pommerschen Straße und weiter bis zum Emser Platz. Im Laufe der Zeit wurde ihre Ausdehnung immer kleiner. Nun sind nur noch 48 Parzellen übrig – etwa 1,5 Hektar. Der Bestandsschutz lief schon 2004 aus. Im März 2007 verkaufte der Liegenschaftsfonds das Grundstück an einen Investor, der auf dem Gelände ein siebengeschossiges Wohnhaus mit Eigentumswohnungen errichten möchte. Bis Ende November 2008 sollten die Pächter ihre Gärten räumen. Ein harter Kern von 18 Pächtern harrt bis heute aus und wehrt sich mit allen rechtlichen Möglichkeiten. Und das bislang durchaus mit Erfolg: Im Dezember 2008 entschied das Amtsgericht Charlottenburg, dass die Kündigung des Liegenschaftsfonds gegen die Pächter unwirksam sei. „Die geplante Luxusbebauung würde die soziale Struktur des Kiezes deutlich verändern“, sagt Pächterin Annegret Falter. „Auch das Mikroklima des Viertels würde leiden.“ Sie sitzt im Garten ihrer Mitstreiterin Hannelore Schmidt. Die 82-Jährige bewirtschaftet ihre grüne Oase seit 55 Jahren mit liebevoller Hingabe. Umgeben von hohen Mietshäusern blühen Tulpen, Narzissen und hellblaue Vergissmeinnicht. Kirsch- und Apfelbäume verströmen ihren süßen Duft. „An dem Garten hängen so viele Erinnerungen: Meine fünf Kinder sind hier aufgewachsen – das ist ein Stück Familiengeschichte“, sagt die ältere Dame. Das angebotene Ersatzland möchte sie nicht. „Meine Wohnung liegt gleich um die Ecke – ich kann keine weiten Strecken mehr laufen und mit dem Bus zu fahren strengt mich zu sehr an“, erzählt sie. Seit ihr Mann vor zwei Jahren gestorben ist, kümmert sie sich jeden Tag allein um ihren 500 Quadratmeter großen Garten. Die Grundstücke um sie herum sind schon verlassen. Auf die Entschädigung von 3000 Euro verzichtet sie gern: „Sehen Sie sich diesen großen Birnbaum an: Da drunter saß mein Mann immer so gern.“ Solche Erinnerungen sind nicht mit Geld aufzuwiegen.
Im August geht der Rechtsstreit vor dem Landgericht in die nächste Runde. Annegret Falter ist optimistisch: „Wir gehen davon aus, dass die Gegenseite unterliegt“, sagt sie kämpferisch. Hinter den Häusern verschwindet langsam die Sonne und wirft einen letzten Strahl auf die kleine grüne Insel.
Sina Tschacher
Bereits im Jahr 1833 entstanden in Berlin die ersten „Armengärten“. Vor allem kinderreiche Familien konnten dort Gemüse anbauen und ernten. Damit sollte der steigenden Armut entgegengewirkt und zugleich der arbeitenden Bevölkerung etwas Erholung in der Natur ermöglicht werden. Im Zuge der Industrialisierung strömten immer mehr Menschen nach Berlin. Sie wohnten oft unter unwürdigen Bedingungen. Typisch für diese Zeit waren dunkle Mietskasernen mit mehreren Hinterhöfen – von grüner Natur und frischer Luft keine Spur. Während es in anderen deutschen Großstädten noch kaum Kleingärten gab, nahm ihre Zahl in Berlin von 1880 bis 1900 sprunghaft zu. Die Anzahl der Parzellen wuchs auf über 40.000. Da die rechtliche Situation vieler Kleingärtner nicht geregelt war und sie jeden Tag befürchten mussten, von den Grundstückseigentümern gekündigt zu werden, schlossen sich immer mehr von ihnen in Verbänden zusammen. 1921 gründeten im Rathaus Neukölln alle Kolonistenverbände den „Reichsverband der Kleingartenvereine Deutschlands“. Um 1925 erreichte die Kleingartenbewegung in Berlin mit 165.000 Gärten ihren Höhepunkt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Lauben vielfach auch als Notunterkünfte für ausgebombte Familien genutzt.
Namensgeber für den „Schrebergarten“ war der Leipziger Arzt und Pädagoge Dr. Daniel Gottlob Moritz Schreber. Er forderte zu Beginn des 19. Jahrhunderts Grünflächen für Großstadtkinder. Ihm zu Ehren gab ein Leipziger Schuldirektor 1864 dem ersten „Schreberverein“ diesen Namen.
Sina Tschacher
MieterMagazin: Herr Hurt, Sie waren 32 Jahre lang der Vorsitzende des Berliner Landesverbandes der Kleingärtner. Was waren in dieser Zeit die größten Herausforderungen für die Kleingartenbewegung?
Hurt: Vor allem die Kündigungswellen in den 60er und 70er Jahren waren eine harte Zeit. Damals wurden Tausende von Kleingärten aufgelöst. Aufgrund der West-Berliner Insellage gab es für die Betroffenen kein Ersatzland. 1979 rief unser Verband zu einer Großdemonstration vor dem Schöneberger Rathaus auf. Circa 30.000 Menschen haben gegen die Bebauung von Gartengelände protestiert. Oft lagen die geräumten Kolonien jahrelang brach. Unser Erfolg war, dass Vorratskündigungen von da an unzulässig waren. Bevor eine Kolonie geräumt wird, muss nun stets ein konkreter Bauplan vorliegen und sorgfältig geprüft werden, ob das Bauvorhaben nicht an anderer Stelle möglich ist. Hätten sich die Laubenpieper damals nicht so engagiert, gäbe es viele Kolonien heute nicht mehr.
MieterMagazin: Hat sich der typische Laubenpieper mit den Jahren verändert?
Hurt: Die traditionellen Nutzer eines Schrebergartens waren früher vor allem Schichtarbeiter und sozial Schwächere. Heute sind es meist Menschen mit einem hohen Bildungsstand. Sie wollen alle Vorteile einer großen Stadt genießen und dennoch nicht auf Natur verzichten. Zunehmend bewerben sich auch Menschen mit Migrationshintergrund für eine Parzelle. Allein in der Kolonie Oeynhausen, wo meine Laube steht, gärtnern Menschen aus 27 Nationen.
Interview: Sina Tschacher
Kleingärten: Alles, was Recht ist
Das wichtigste Gesetz für alle deutschen Kleingärtner ist das Bundeskleingartengesetz von 1983. Es regelt unter anderem die Höhe des Pachtzinses und Kündigungsfristen.
- Der Pachtzins darf höchstens den vierfachen Betrag des ortsüblichen Pachtzinses im erwerbsmäßigen Obst- und Gemüsebau betragen. Er darf nur alle drei Jahre angehoben werden.
- Der Verpächter kann den Vertrag ohne Einhaltung einer Frist kündigen, wenn der Pächter mit der Zahlung für mindestens ein Vierteljahr in Verzug ist und nicht innerhalb von zwei Monaten nach Mahnung die fällige Forderung erfüllt, oder wenn der Pächter eine so schwere Pflichtverletzung begeht, dass dem Verpächter die Fortsetzung des Vertragsverhältnisses nicht zugemutet werden kann.
- Mit dem Tod des Pächters endet das Pachtverhältnis, wenn nicht Ehegatte oder Lebensgefährte den Vertrag fortsetzen. Den Kindern des Verstorbenen steht dieses Recht aber nicht zu.
- Nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH III ZR 281/03 vom 17. Juni 2004) muss mindestens ein Drittel der Gartenfläche zum Anbau von Obst, Gemüse und Kräutern genutzt werden. Der Grund für diese Regelung ist die relativ geringe Pacht für einen Kleingarten, die erheblich unterhalb der für Datschen und Campingplätze liegt. Wird in einer Kleingartenanlage keine oder nur wenig kleingärtnerische Nutzung vorgenommen, kann der Eigentümer die gesamte Anlage in eine Erholungsanlage umwidmen. Das hätte einen höheren Pachtzins zur Folge.
Sina Tschacher
MieterMagazin 6/09
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Foto: ABZ Berlin/ W. Römer
Jürgen Hurt, Berlins bekanntester Kleingärtner, ist Ehrenvorsitzender des Landesverbands Berlin der Gartenfreunde. Der ausgebildete Sozialarbeiter wurde in diesem Jahr mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
04.06.2015