Mohammad Abid hat es sich auf seinem Sofa bequem gemacht. Neben ihm steht ein Strauß frischer Blumen, vor ihm liegt das Handy auf dem Couchtisch. „Wir wohnen seit fast einem Jahr in der Wohnung. Meine Frau, zwei meiner Brüder und eine Schwester“, sagt er. Mohammad Abid ist Friseur und lebt seit zwölf Jahren in der indischen Hauptstadt Delhi. Die Wohnung liegt im Stadtteil Okhla. Dort leben Kleinunternehmer und Arbeiter. Ein großer Vogelpark, der Okhla Bird Park, ist am Wochenende ein beliebtes Naherholungsgebiet für die Bewohner der Millionenstadt. Doch ansonsten ist das Viertel eng und staubig. Streunende Hunde liegen zwischen Kleinwagen und Motorrädern in der Sonne.
Bei der Familie Abid geht es eng zu. Auf 55 Quadratmetern wohnen fünf Erwachsene. Mehr als zwei Personen können in der Küchenzeile nicht stehen, im Schlafzimmer kann man sich kaum umdrehen, nur das Wohnzimmer ist großzügig geschnitten. Die Enge in den indischen Metropolenregionen belegen auch die Zahlen der Bevölkerungsstatistik. Auf einem Quadratkilometer leben in Delhi 22.841 Menschen, in Bombay sind es sogar 31.000. Das sind sechs- bis achtmal mehr als in Berlin.
Ein Mietvertrag wird in der indischen Hauptstadt meist für elf Monate abgeschlossen. Bleibt der Mieter länger in der Wohnung, wird der Vertrag auf weitere elf Monate befristet. Das hat seinen Grund: Das Mietrecht, der Delhi Rent Act von 1995, tritt erst nach einer Mietdauer von zwölf Monaten in Kraft. Jeder Mieter, froh um die angebotene Wohnung, akzeptiert stillschweigend die Unterwanderung des geltenden Mietrechts.
Begrenzte Nebenkosten
Der Delhi Rent Act sichert die Mieter – wenn er denn Anwendung findet – auch bei den Nebenkosten ab. Es ist festgelegt, dass diese 15 Prozent der Nettomiete nicht überschreiten dürfen. Posten wie Grundsteuer oder die Pflege der Außenanlage eines Wohngebäudes sind auch in Indien anteilig auf den Mieter umlegbar. Strom und Wasser werden – anders als bei uns – über den Vermieter abgerechnet. Beim Einzug werden drei Monatsmieten Kaution fällig und beim Auszug wird die Ausführung von Schönheitsreparaturen verlangt. „Das Mietrecht in Indien kann als mieterfreundlich bezeichnet werden“, sagt der in Delhi tätige Matthew Montagu-Pollock. Der gebürtige Australier vermittelt weltweit Immobilien, der Hauptsitz seines Unternehmens ist auf den Philippinen.
„Für Strom zahlen wir 500 Rupien im Monat, ein stolzer Preis“, erklärt Mohammad Abid. Das sind umgerechnet knapp neun Euro. Aber Strom gibt es nicht immer. Es kommt vor, dass er stundenlang ausfällt. Ein Notstromaggregat, das bei einem Ausfall den Kühlschrank mit Strom versorgt, hat Familie Abid nicht. Die Kosten für die Müllentsorgung sind in Indien hingegen niedrig. 50 Rupien, etwa einen Euro, kostet die Entsorgung pro Monat. Der Müll wird täglich vor der Haustüre abgeholt. Müll ist ein wertvoller Rohstoff. Für viele Menschen, die der Kaste der Unberührbaren angehören, ist er Grundlage ihres Einkommens.
Im Sommer steigen die Temperaturen in der Stadt auf bis zu 45 Grad im Schatten. Dann gibt es manchmal tagelang kein Wasser. „Wir zahlen im Monat 200 Rupien für normales Wasser – Trinkwasser kaufen wir im Laden“, sagt Mohammad. Das, was Mohammad „normales Wasser“ nennt, kommt aus einem Tank, der auf dem Dach angebracht ist. Einmal pro Woche füllt ein Tanklaster den Behälter neu auf. Zum Duschen und Wäschewaschen kann das Wasser vom Dach verwendet werden. In der Küche, egal ob Gemüse geputzt, Salat gewaschen oder Reis gekocht wird, besser nicht. Das Trinkwasser lässt man sich vom Laden an der Ecke in Zehnliterbehältern liefern.
So typisch die Enge auch sein mag bei der Familie Abid – es gibt auch großzügige Mietwohnungen. Wer ein entsprechendes Einkommen hat, kann sie sich leisten. Harsh Shrivastav zählt zu ihnen. Zu einem Gespräch erklärt sich Shrivastav bereit, dass Fotos von seiner Wohnung gemacht werden, möchte er nicht. Der 35-jährige Marketingexperte wohnt mit seiner Frau, einer Tochter und einem Hund auf über hundertfünfzig Quadratmetern: zwei Schlafzimmer, zwei Bäder und ein Wohnzimmer, dessen Mittelpunkt ein riesiges Flachbildfernsehgerät ist. Die Tochter hat ein Spielzimmer. Sie leben seit sechs Jahren in der Wohnung. Ihr Vermieter lebt nicht in der Stadt. Das sorge für Schwierigkeiten. „Er kann nie unmittelbar reagieren, wenn es ein Problem gibt. Er kennt den Zustand der Wohnung nicht“, sagt Shrivastav. Es kann schon mal passieren, dass plötzlich eine Armatur im Bad abbricht und ein Wasserstrahl aus der Wand schießt – so lange, bis der Wassertank auf dem Dach oben leer ist.
Prosperierende Wirtschaft – boomender Wohnungsmarkt
Mietwohnungen im oberen Preissegment sind gefragt wie nie – aufgrund des wirtschaftlichen Aufschwungs explodiert derzeit der Wohnungsmarkt in Delhi. „Wohnraum ist so begehrt, dass viele Vermieter ihre Wohnungen erst gar nicht renovieren. Sie wissen, dass sie auf jeden Fall Mieter finden“, sagt Doris Delessard. Die 24-jährige Absolventin einer französischen Eliteschule hat sich vor zwei Jahren als Immobilienmaklerin in Delhi selbstständig gemacht. Sie vermittelt Wohnungen an ausländische Angestellte, die von Großkonzernen nach Indien geschickt werden.
Es ist noch gar nicht lange her, da wurde Indien sozialistisch regiert. Das genossenschaftliche Wohnen ist ein Erbe dieser Zeit. In erster Linie ist es der Politiker-Dynastie der Gandhis zu verdanken. Jawaharlal Nehru, der Vater Indira Gandhis und der Großvater Rajiv Gandhis – allesamt ehemalige Premierminister Indiens – setzten sich für genossenschaftlich organisiertes Wohnen ein. In Delhi gibt es heute insgesamt 1966 Genossenschaften im gesamten Stadtgebiet. Sie werden zentral verwaltet. Die Hauptverwaltung liegt an der noblen Parliament Street. „Wer Mitglied werden will, muss seit mindestens drei Jahren in Delhi gemeldet sein“, sagt Surender Kumar, ein Mitarbeiter der Hauptverwaltung. Das ist nicht alles. Kumar räumt ein, dass Unmengen von Bewerbungsformularen den Aufnahmewilligen erwarten.
Wer neu in eine Wohnung zieht, ist verpflichtet, sich bei der Polizei anzumelden. Das Registrierungsformular ist zwei Seiten lang. Der Mieter muss ein Foto beifügen, Auskunft erteilen über Familienstand, Zahl der Familienmitglieder und natürlich seine Kontaktdaten. Wer es nicht tut, kann in Teufels Küche kommen. Die Polizei prüft, ob die an der Adresse gemeldeten Personen wirklich dort leben. Im Jahr 2005 wurden in Delhi 111.640 Wohnungen kontrolliert. Die Durchsuchungen endeten mit 157 Anzeigen gegen Vermieter, Immobilienmakler und Mieter. Die Strafen sind drastisch. Wer gegen das Melderecht verstößt, muss mit empfindlichen Geldstrafen und sogar mit Gefängnisaufenthalt rechnen. Trotz dieser Praxis bleiben viele Menschen im Netz der staatlichen Überprüfung nicht hängen: Millionen, die vom Land in die Stadt gezogen sind, leben in illegal errichteten Quartieren. Die Slums werden geduldet. Eine Erhebung über die genaue Anzahl der Haushalte mit ihren Bewohnern existiert nicht.
In den Jahren, in denen in Indien sozialistischer Wind im Parlament wehte, wurde eine Menge für die Mieter erreicht. Unter Jawaharlal Nehru wurde ein Gesetz gegen Mietwucher verabschiedet. Der Rent Control Act von 1947 ist noch heute in Kraft. Es war das Jahr der Teilung des Subkontinents. Millionen Muslime wurden aus Delhi vertrieben und siedelten sich in Pakistan an. Old Delhi, der historische Stadtkern Delhis, der seit dem 16. Jahrhundert überwiegend von Muslimen bewohnt war, war plötzlich wie ausgestorben. Den andererseits vertriebenen Neuankömmlingen aus dem pakistanischen Staatsgebiet wollte man den Start in der neuen Heimat so einfach wie möglich machen. Das führte dazu, dass die Mieten in der Altstadt eingefroren wurden. So kam neues Leben nach Old Delhi. Doch die Mieten für eine Wohnung am Chandi Chowk, der Hauptstraße der Altstadt, sind auch heute geradezu wahnwitzig gering – während sie in anderen Vierteln der Stadt kaum mehr bezahlbar sind. Delhi ist in vieler Hinsicht eine Metropole voll krasser Gegensätze.
Michaela Maria Mueller
MieterMagazin 5/08
Geschäftiges Treiben herrscht am Chandni Chowk in Delhis Altstadt
Fotos: Vinod Kumar
„Soaps“ gehören auch in Delhi zu den liebsten Freizeitbeschäftigungen
Foto: Michaela Maria Mueller
Familie Abid und ihr Heim im eng bebauten Stadtteil Okhla
Fotos: Vinod Kumar
Indien in Zahlen
In Indien leben etwa 1,1 Milliarden Menschen. Das sind 17,1 Prozent der Weltbevölkerung. Nach China ist es damit das zweitbevölkerungsreichste Land. Indien ist die größte Demokratie der Welt. Unter der britischen Kolonialherrschaft fand 1865 die erste Volkszählung statt. Seither findet alle sieben Jahre eine Zählung statt. Fast ein Drittel der Bevölkerung lebt in Elendsvierteln, den sogenannten Slums. 34 Städte in Indien haben über eine Million Einwohner. Indien gehört zu den Ländern mit dem am schnellsten wachsenden Bruttoinlandsprodukt. 2006 wuchs es um 9,4 Prozent.
mmm
11.07.2013