Oranienstraße in Kreuzberg. Dicht an dicht stehen die betagten Wohnhäuser, Altbauten nach Minimalsanierung, dazwischen wenige moderne Geschäftsbauten. Keine Balkone, keine aufwendigen Stuckfassaden – Vorderhaus, Seitenflügel, Fabrikgebäude, die berühmte „Kreuzberger Mischung“. Aber in der Nummer 45 ist vieles anders als nebenan.
1980 stand das Wohnhaus leer und wurde besetzt, 1983 durch Mietverträge legalisiert. „2002 bot die Bewoge uns das Haus zum Kauf an“, berichtet Christoph. Der „unterbeschäftigte“ Freiberufler engagierte sich in der Selbstverwaltung und verhandelte mit den Banken. Und weil die 35 langjährigen Mieter keine privaten Eigentümer werden wollten, prüften sie andere Finanzierungsmodelle. „Wir haben uns gegen eine Genossenschaft entschieden. Weil die Verwaltungsarbeit mit bezahlt werden muss, ist sie zu teuer.“ Aus ihrem linksalternativen Verständnis heraus sollte das Modell garantieren, dass die Bewohner über Umbauten und Investitionen ebenso wie über neue Mitbewohner entscheiden können, dass die Hausverwaltung in ihren Händen bleibt und sie die Miethöhen festlegen können – eben selbstorganisiert. Und weil ihnen außerdem wichtig war, das Haus dem Markt der Grundstücks- und Immobilienspekulation zu entziehen, entschieden sie sich für ein Zusammengehen mit dem „Mietshäuser Syndikat“. Das hat die gleichen Ziele ganz groß auf seine Fahnen geschrieben. Inzwischen besitzt der Hausverein – alle Bewohner sind Mitglieder – gemeinsam mit dem Mietshäuser Syndikat das Haus. Dazu wurde eine GmbH gegründet, die den Eigentumstitel hält. Die einzigen gleichgewichtigen Gesellschafter: Hausverein und Mietshäuser Syndikat. So gehört den Bewohnern das Haus – und sie sind weiterhin Mieter.
Deutschlandweites Netzwerk
Vor 15 Jahren entwickelten ehemalige Hausbesetzer die Idee des Mietshäuser Syndikat: „Gemeineigentum an Haus und Grund, bezahlbarer Wohnraum für Menschen mit wenig Geld, Raum für Gruppen und politische Initiativen und das alles in Selbstorganisation.“ Kleinstprojekte mit sechs Menschen, große Gebäude mit 260 Bewohnern, Projekte mit und ohne gewerbliche Nutzung – alles ist möglich, wie 30 bestehende und 27 anfragende Hausprojekte zeigen. Zwischen Freiburg im Breisgau, wo alles begann und das Syndikat sein kleines Büro hat, bis nach Mecklenburg-Vorpommern zieht sich heute das Netz der Aktivitäten. Die Häuser bleiben autonom, aber Wissen und Erfahrungen werden untereinander ausgetauscht.
Nicht jede Bank gibt einem Hausprojekt mit wenig Eigenkapital ein Hypothekendarlehen – aber das Syndikat hilft. So unterstützt zum Beispiel die „GLS Bank“ („Geben-Leihen-Schenken“) bevorzugt gemeinschaftliche Projekte mit ihrem Geld – zu günstigen Konditionen. Die Syndikatshäuser wurden überwiegend über sie finanziert, und brachten als Eigenkapital „Direktkredite“ ein: von Freunden, Verwandten, Kollegen geliehenes Geld mit niedriger Verzinsung.
Am Boxhagener Platz, im Ostteil der Stadt, liegt das zweite der in Berlin und Brandenburg existierenden fünf Syndikatshäuser. Das Haus in der Grünberger Straße 73 war seinerzeit besetzt worden, es gab Mietverträge – und immer Ärger mit dem Hausbesitzer. Der verkaufte den Mietern das dreiteilige Gebäude mit Hof, und auch dieser Hausverein mit 40 Beteiligten erweitert nun das Netzwerk des Syndikats. In einer Wohngemeinschaft mit insgesamt 12 Erwachsenen und Kindern lebt Stefan, Arzt, mit seiner neunjährigen Tochter. „Seit wir als Hausverein die Verantwortung für das Haus übernommen haben, ist das Gemeinschaftsgefühl deutlich angewachsen.“ Eltern erleben es als entspannend, nicht täglich und nur für sich selbst und die Kinder zu kochen.
Solar- oder Fernwärme?
Beide Hausvereine setzten bezüglich der Bauarbeiten nicht viel auf Selbsthilfe, sondern beschäftigen lieber günstige Fachfirmen aus Brandenburg. Im Hof der Oranienstraße steht der Anhänger, in dem die Kacheln aus den überflüssigen Öfen landen. „Im vergangenen Jahr wurde eine neue Heizung eingebaut, lange haben wir auf dem Plenum überlegt und analysiert, ob wir eine Solaranlage aufs Dach setzen. Die Gesamtökobilanz sprach dagegen, weil das modernste Heizkraftwerk Europas um die Ecke steht.“ Das beliefert sie jetzt mit Fernwärme. Diese Modernisierungsmaßnahme brachte jedem nur eine Mieterhöhung von 20 Euro pro Monat, in Häusern großer Wohnungsunternehmen kann es schnell ein Dreifaches der Summe sein. In beiden Berliner Projekten liegen die Kaltmieten auch nach der Modernisierung unter 4 Euro.
Auf dem einmal monatlich stattfindenden Hausplenum werden mit transparenten Plänen und Kostenberechnungen möglichst alle Mieter in die Entscheidungsfindung einbezogen. Ob es um das Heizungssystem, die Hofbegrünung, die Besetzung der Arbeitsgruppen oder um freie Wohnungen geht – alle sind aufgefordert, sich zu beteiligen, etwa die Hälfte ist regelmäßig dabei. Dass es nicht alle sind, ist bislang kein Problem für Stefan, „denn Wichtigkeiten sind subjektiv“. Kompetenzen sind eben verschieden verteilt – und werden zu unterschiedlichen Zeiten eingebracht. Solange die Hälfte der Bewohner aktiv dabei ist, bleibt das Modell tragfähig.
Clara Luckmann
Wie funktioniert das Mietshäuser Syndikat?
Die Mitglieder des Vereins Mietshäuser Syndikat treffen sich drei bis vier Mal im Jahr. Mitglieder sind Hausvereine, aber auch Einzelpersonen, die der Idee der Selbstverwaltung zugetan sind. Jeder zahlt 250 Euro Einlage ein. Die Versammlung entscheidet über Neuaufnahmen in das Netzwerk sowie über die Rahmenbedingungen der Geldverwendung. Das Mietshäuser Syndikat hält formell die Beteiligungen an den Hausbesitz-GmbHs und unterhält ein Büro in Freiburg, das die Koordinationsstelle für Anfragen und Beratung ist.
Um neue Projekte in der Anlaufphase auch finanziell unterstützen zu können, gibt es den Solidarfonds, in den jedes Hausprojekt einzahlt. Je geringer die Zinszahlungen an die Bank und Direktkreditgeber werden, desto größer wird der Mietanteil, der in den Solidarfonds wandert. Die Häuser dürfen nicht ihre Mieten senken, wenn sie nach Jahrzehnten schuldenfrei sind. Die Idee: Damit wird ein „Solidartransfer“ von Altprojekt zu Neuprojekt hergestellt. Schuldenfrei gewordene Häuser leihen den neuen Häusern Geld. Die Zuständigkeiten der „Hausbesitz GmbH“ sind ebenfalls klar geregelt. Die Selbstverwaltung und die Geschäftsführung obliegen dem Gesellschafter Hausverein. Bei Satzungsänderungen oder dem Verkauf eines Hauses muss der Gesellschafter Mietshäuser Syndikat zustimmen. Letzteres wird er in aller Regel nicht tun, weil es seinem Ziel widerspricht, „menschenwürdigen Wohnraum, das Dach überm Kopf für alle“ zu erhalten.
cl
MieterMagazin 1+2/07
Innenhof des Mietshäuser-Syndikat-Projekts in der Kreuzberger Oranienstraße
Alle Fotos: Christian Muhrbeck
Christoph und 34 weitere Bewohner organisierten das Mietshäuser-Syndikat-Projekt in der Oranienstraße
Dächer des Mietshäuser-Syndikat-Projekts in der Oranienstraße
Der Ärger mit dem Hausbesitzer ist Vergangenheit:
Mietshäuser-Syndikat-Projekt in der Grünberger Straße
Hausflur des Mietshäuser-Syndikat-Projekts in der Grünberger Straße
18.07.2013