Eine Zeltstadt mitten in Paris macht auf das Los der 100.000 Obdachlosen und der 3,2 Millionen nur mangelhaft Untergebrachten in Frankreich aufmerksam. Ob sich durch die erfolgreiche Medienaktion der „Kinder von Don Quichotte“ an der Dauerwohnungsnot in der Hauptstadt etwas ändern wird, ist zweifelhaft.
Heike Mathenaer hat schon viel gesehen. Natürlich auch die mehreren Hundert runden Einmannzelte, die den innerstädtischen Pariser Kanal St. Martin seit Mitte Dezember 2006 säumen. Mathenaer ist Sozialarbeiterin bei der Entraide allemande, einer Einrichtung, die seit 1951 deutsche Obdachlose in Frankreich betreut. Ja, natürlich, es sei eine gute Aktion, die der Verein „Die Kinder von Don Quichotte“ da ins Leben gerufen habe. Doch was bleibe? Jeden Winter rücken die Obdachlosen ins Zentrum der Aufmerksamkeit, jeden Frühling werden sie wieder vergessen, sagt Mathenaer. Immerhin: „Die Kinder von Don Quichotte“, eine Aktion des Filmproduzenten Augustin Legrand und seines Freundes Pascal Oumaklouf, wissen, wie man die Medienmaschinerie am Laufen hält.
Sie und ihre Mitstreiter kämpfen, wie der Held aus Cervantes‘ Roman, gegen Windmühlen: Die drehen sich überall im reformresistenten Frankreich, dessen politische Klasse seit Jahren dafür bekannt ist, an den Nöten der Bevölkerung vorbeizuschauen, vorbeizureden.
3,2 Millionen gelten als „schlecht untergebracht“
Viele Franzosen leben mit der Angst, ihr Dach über dem Kopf zu verlieren. 3,6 Millionen Franzosen leben unterhalb der Armutsgrenze.
Dazu zählen alle, denen weniger als 50 Prozent des Durchschnittseinkommens zur Verfügung steht. So rechnet die Regierung. Nach EU-Kriterien sind es noch mehr; die Union legt die Armutsschwelle bei 60 Prozent des Einkommens an. 3,2 Millionen Franzosen gelten als „mal logés“, unzureichend untergebracht: in schäbigen Sozialwohnungsblocks, verkommenen Altbauten, Wohnmobilen. 100.000 Menschen sind als Obdachlose registriert, davon 10.000 bis 15.000 in Paris. Zwar haben 30 Prozent dieser sogenannten „sans domicile fixe“, kurz SDF, einen Job, doch was sie damit verdienen, reicht oft auf dem chronisch engen Pariser Wohnungsmarkt nicht aus: Bürgschaft und Vorauszahlung in Höhe mehrerer Monatsmieten sind in der Regel unüberwindbare Hürden zum Vertragsabschluss – auch psychologisch.
Wer einmal auf der Straße sitzt, rappelt sich kaum mehr auf, sagt die Sozialarbeiterin Heike Mathenaer. Viele ihrer Kunden kommen seit Jahren ins Büro der Einrichtung in der Pariser Rue Dorian. Derselbe Tenor bei den anderen – viel größeren – Hilfsorganisationen.
Man muss nicht lange suchen, um Spuren der Obdachlosigkeit zu finden in Paris: Pappkartons in Hauseingän-gen und Abluftschächten, Kleiderhaufen, aus Plastiktüten und Einkaufswagen aufgetürmte Rückzugsräume, fleckige Matratzen, Zelte, mal allein, mal in Reihe, wie eben am Kanal St. Martin, wo Touristen bei einer Schiffsfahrt romantische Paris-Eindrücke erwarten – und auf eine Obdachlosensiedlung treffen.
Jedes der rund 250 Zelte trägt eine Hausnummer, gerade am einen, ungerade am anderen Ufer des Kanals, gleichsam als offizielle Wohnadresse. Nicht jedes Zelt ist belegt. Manches spricht für sich: Vorname, Beruf, Dauer der Obdachlosigkeit sind auf einem Zettel vermerkt. Auch so mancher wohlmeinende Pariser hat aus Solidarität schon mal eine Nacht mit den Obdachlosen am Kanal verbracht. Staatschef Jacques Chirac selbst forderte in seiner Neujahrsansprache ein einklagbares Recht auf Wohnraum (siehe Kasten).
Neben der Zeltstadt am Kanal gibt es jene Obdachlosen, an denen die mediale Aufmerksamkeit vorbeigeht. Vielleicht, weil sie zu dezentral hausen. Unter einem Autobahnzubringer im Pariser Osten, zwischen brüllendem Verkehrslärm und dem Marneufer etwa hat er sich eingerichtet: Karl, Stari oder Yugo – man dürfe sich einen Namen aussuchen, sagt der frühere Fremdenlegionär, der Reißaus nahm, als er plötzlich nicht mehr Jugoslawe sein durfte, sondern Serbe sein musste. 42 ist er und seit 16 Jahren in Frankreich. „Ich hab keine Angst! Die sollen nur kommen, auch zu dritt. Auf die staatlichen oder karitativen Notunterkünfte – 27.000 zusätzliche hat der Minister für sozialen Zusammenhalt, Jean-Louis Borloo, kürzlich eingerichtet – hat Karl keine Lust: zu schmutzig, zu gewalttätig, zu unfreundlich.
Immer mehr junge Frauen sind betroffen
Immer mehr junge Frauen werden obdachlos. So wie Coralie, die ihr Zelt im Pariser Stadtwald, dem Bois de Vincennes, aufgeschlagen hat. „Zum Heizen nehmen wir Brennspiritus“, sagt Coralie, übergewichtig, vom Leben gezeichnet, „der kommt in eine Konservenbüchse und wird angezündet. Essen kaufen wir. Für Kleidung gibt’s ja diverse Vereine, sonst machen wir’s wie alle: Wir kaufen auf dem Flohmarkt.“
Als Französin hat Coralie Anspruch auf Sozialhilfe (revenu minimum d’insertion): 440,86 Euro monatlich – so wie 1,25 Millionen ihrer Landsleute. Sie bettelt nicht, genau so wenig wie Karl aus dem Wohnwagen.
Henri Michaelis dagegen hat es jahrelang getan, es kam ja auch einiges zusammen: in drei Stunden 25 Euro. Seit 20 Jahren ist der 58-jährige Deutsche schon in Frankreich. Schulden, Operationen, die Freundin lief weg. Michaelis, früher Brauer, glaubte an ein besseres Leben in Paris und fiel hart. Die ersten Jahre pendelte er zwischen Billigherbergen, Krankenhauszimmern und Metroschächten. Tagsüber „machte er Sitzung“, immer nur in einer bestimmten Metrostation, wo man ihn kannte und gab. Henry Michaelis ist übrigens einer der wenigen Betroffenen, die wieder dauerhaft Obdach haben: Die Entraide allemande hat für ihn eine 20-Quadratmeter-Sozialwohnung finden können.
Alexander Musik
MieterMagazin 3/07
Zeltbewohner Johan: Allein in Paris gibt es 10.000 bis 15.000 Obdachlose
alle Fotos: Nadine Baier
Souvard (rechts) besucht seinen Freund Eddy, der schon seit über 20 Jahren auf der Straße lebt
Die Zeltstadt am Kanal St. Martin
Mobile Versorgung: Auch Händler haben ihre Stände am Kanal St. Martin aufgeschlagen
Recht auf Wohnraum bald einklagbar?
In einem leer stehenden Geschäftshaus von 1000 Quadratmeter, direkt neben der Pariser Börse, haben Aktivisten das „Ministerium der Wohnungskrise“ eröffnet. Die Mitglieder von „Jeudi noir“ („Schwarzer Donnerstag“) wollen auf die desolate Situation auf dem Wohnungsmarkt aufmerksam machen. Dass für eine Wohnung von zehn Quadratmetern 600 Euro verlangt werden, ist keine Seltenheit. Teurer als in Paris sind in Europa die Mieten nur noch in London. Wohnraum ist Mangelware, zehn Prozent der Wohnungen stehen leer – nicht zuletzt, weil die Eigentümer fürchten, zahlungsunfähige Mieter nicht mehr loszuwerden. Wegen der Wintersperre, die Räumungen verbietet, dauert es in Frankreich im Durchschnitt 226 Tage, einen säumigen Mieter auf die Straße zu setzen. Das schreckt Wohnungsbesitzer vom Vermieten ab. Gegenbeispiel Kanada: In Montreal ist eine Räumung nach 43 Tagen abgeschlossen, dennoch leben nur 14 Familien dort auf der Straße. Vorschläge, um dem Missstand auf dem französischen Wohnungsmarkt endlich Herr zu werden, gibt es viele: Der zur Zeit am meisten diskutierte heißt „logement opposable“. Zwar sieht das Gesetz bereits ein Recht auf Wohnraum vor, ab 2008 soll es jedoch einklagbar sein. In Paris stapeln sich 100.000 Anträge auf eine Sozialwohnung im Rathaus.
mu
18.07.2013