In Ostberlin wurde das Nikolaiviertel anlässlich des 750-Jahr-Jubiläums von Berlin im Jahr 1987 wiederhergestellt. Das im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstörte Quartier ist allerdings nicht originalgetreu wiederaufgebaut worden: Moderne Materialien und Formen ergänzen Historisches. Und auch was alt erscheint, ist meist Kopie und nicht am Ursprungsort errichtet worden.
„Das Nikolaiviertel in seiner derzeitigen Form kann eine 20-jährige Erfolgsgeschichte nachweisen, es ist eines der erfolgreichsten Projekte des DDR-Städtebaus“, sagt Florian Urban, „zumindest wenn man sich die Besuchermengen ansieht, die bis heute an diesen Ort kommen.“ Urban ist Gastprofessor für Neuere Geschichte/ Stadtgeschichte am Center for Metropolitan Studies an der Technischen Universität Berlin. In seinem Buch (siehe Hinweis in der Marginalspalte) setzt er sich unter anderem mit dem Nikolaiviertel und seiner Bedeutung für Berlin auseinander: „Experten kritisieren das Nikolaiviertel als furchtbar und bezeichnen es als Ostkitsch.“ Der Autor Michael Bienert etwa beleumundet das Nikolaiviertel als „ein realsozialistisches Disneyland, eine Simulation von Berliner Altstadt zwecks Hebung des Fremdenverkehrs“. Doch der Historizismus hat Tradition im Nikolaiviertel: Den neugotischen Doppelturm erhielt die mittelalterliche Kirche erst in den 1870er Jahren.
Erregte Gemüter
Bis Oktober 2007 werden im Nikolaiviertel 17 Tafeln errichtet, die Besucher über das Quartier informieren. Damit soll auch Brüchen der historischen Rekonstruktionen und Überlagerungen Rechnung getragen werden. Dass ein kleines Quartier in einer Millionenmetropole nach wie vor die Gemüter erregen kann – im Positiven wie im Negativen – deutet Urban als ein Symptom für seine Aktualität: Wie die Berliner mit der Geschichte ihrer Stadt umgehen, wird schließlich für viele Orte debattiert.
Wie schwierig der Umgang mit Geschichte sein kann, zeigt schon das Datum, dem das Nikolaiviertel seinen Wiederaufbau verdankt: Die Feiern zum 750-jährigen Geburtstag Berlins beziehen sich mitnichten auf die Gründung der Stadt – lediglich auf deren erste urkundliche Erwähnung. Und nicht einmal Berlin wird in diesem Dokument genannt, sondern die Schwesterstadt Cölln, die sich damals auf der Fischerinsel befand. In einer Urkunde vom 28. Oktober 1237 wird ein Streit um die Erhebung des Zehnten, einer Steuerabgabe, im Bistum Brandenburg beigelegt. Als Zeuge wird der Pfarrer Symeon aus Cölln genannt (Symeon plebanus de Colonia). Die Doppelstadt Berlin-Cölln gab es zu dieser Zeit also schon längst. Die Gründungsurkunde muss daher älteren Datums gewesen sein. Sie ist jedoch – vermutlich bei einem Brand schon im Mittelalter – verloren gegangen. Deshalb haben die Berliner bis ins 20. Jahrhundert darauf verzichtet, den Geburtstag ihrer Stadt zu feiern. Johann Peter Süßmilch schrieb im 18. Jahrhundert: „Es sind von der ersten Anbauung Berlins eigentlich gar keine Nachrichten erhalten. Hierdurch haben aber neuere Schriftsteller sich nicht abhalten lassen, was ihnen beliebt zu erzählen, dass die historische Wahrheit ganz verdunkelt ist.“ Erst die Nationalsozialisten besannen sich auf die erste urkundliche Erwähnung – um 1937 das 700-Jährige mit entsprechendem Bombast zu begehen. Dass der Bezug auf den Cöllner Pfarrer Symeon im Jahr 1987 sowohl im Westen als auch im Osten wieder aufgenommen wurde, ist vor diesem Hintergrund eine Ironie der Geschichte.
Rekonstruktion war früher kein Thema
Dabei galt die historische Stadt in den Jahrzehnten vor und nach dem Zweiten Weltkrieg alles andere als erhaltenswert. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden die Häuser am Nordrand des heutigen Viertels weggerissen: Sie mussten einem modernen Kaufhaus weichen. Zwischen 1943 und 1945 wurde das Nikolaiviertel durch Bomben und bei Straßenkämpfen zerstört. Nach Kriegsende wurden die Überreste beseitigt und auch einige weniger zerstörte Gebäude abgerissen. In der Berliner Stadtplanung spielte das Gebiet jahrzehntelang keine Rolle. Die Verwaltung der Hauptstadt der DDR konzentrierte sich auf möglichst effektive Wohnraumbeschaffung und auf großräumig-repräsentative Bauvorhaben wie in der Karl-Marx-Allee. Die Vernachlässigung des alten Stadtzentrums wird aus einem Planungsbeitrag von 1959 ersichtlich: An der Stelle des Nikolaiviertels sollte die Spree zu einem Hafenbecken für Ausflugsdampfer erweitert werden.
Der Bezug auf Historisches hält weiter an
Die Pflege der bestehenden Stadt rückte erst während der 70er Jahre wieder in den Vordergrund. „Rekonstruktion“ wurde erstmals auch in Ostberlin debattiert. Das Nikolaiviertel war nur eines von zahlreichen neo-historischen Städtebauprojekten, die die DDR-Führung für die 750-Jahrfeier ausführen ließ. Andere waren die Rekonstruktion des Platzes der Akademie, die Husemannstraße am Kollwitzplatz in Prenzlauer Berg, die Sophienstraße in der Spandauer Vorstadt in Mitte und das unvollendet gebliebene Projekt Friedrichstraße. Diese Straßen entwickelten sich in den folgenden Jahren zu den beliebtesten Ecken des wiedervereinigten Berlins. „Das städtebauliche Leitbild jener Zeit hat die Umgestaltung Berlins nach der Wiedervereinigung in vielen Aspekten vorweggenommen“, sagt Urban. „Entwicklungen wie ‚Kritische Rekonstruktion‘, Rückkehr bürgerlicher Schichten in die Innenstadt, Vermarktung von realer und imaginärer Geschichte, Bauen am Wasser, historische Stadtzentren als Orte von Konsum und Unterhaltung, staatlich gefördertes Stadtmarketing und städtische Imagepolitik haben in den 1980er und 1990er Jahren international stark an Bedeutung gewonnen“.
Bei der aktuellen Stadtentwicklung hält der Bezug auf Historisches an. So soll unmittelbar nördlich des Nikolaiviertels künftig das Stadtschloss wiedererstehen – dem Original zumindest in weiten Teilen nachempfunden. Südlich und östlich wird das Quartier laut „Masterplan Innenstadt“ in einigen Jahren wieder enger an die Stadt angebunden: Molkenmarkt und Klosterviertel sollen wieder enger bebaut werden und ihre historischen Grundrisse in etwa zurückerhalten. Das sind gute Aussichten. Denn damit stünde das historisierende, kleinteilige Nikolaiviertel nicht mehr verloren am Rande der Stadtödnis, die sich bislang entlang des Mühlendamms erstreckt. Der Kurs steht fest: Vorwärts in die Vergangenheit!
Lars Klaaßen
Dorf der Mosaiksteine
Zwischen dem östlichen Ufer der Spree, der Rathaus- und der Spandauer Straße sowie dem Mühlendamm erstreckt sich das Nikolaiviertel auf einer Fläche von annähernd 50000 Quadratmetern. Inmitten des ältesten Wohngebietes Berlins steht die Nikolaikirche, das älteste Gebäude der Stadt. Der im Zweiten Weltkrieg bis auf die Außenmauern zerstörte Bau wurde in ursprünglicher Form wiederhergestellt. Eine Reihe von kleinen Bürgerhäusern entstand in historischen Formen vollständig neu. Das 1936 am Mühlendamm abgetragene Ephraim-Palais wurde unter Verwendung von Originalteilen der Fassade um zwölf Meter versetzt von seinem ursprünglichen Standort neu aufgebaut. Das Gasthaus „Zum Nußbaum“ wurde als Kopie wiedererrichtet. Bis zu seiner Zerstörung 1943 befand sich das Original aus dem 16. Jahrhundert auf der Fischerinsel. Als Kopie wurde auch die Gerichtslaube des alten Berliner Rathauses zur Nutzung als Restaurant errichtet. Die Bronzeskulptur „St. Georg im Kampf mit dem Drachen“ aus dem Jahr 1853 – derzeit auf einem kleinen Platz am Spreeufer aufgestellt, den es früher nicht gab – stand zuvor im Volkspark Friedrichshain und ursprünglich im Hof des Berliner Stadtschlosses. Die engen Gassen folgen weitenteils überlieferten Stadtplänen und sind nach alten Vorbildern gepflastert. Etwa 2000 Einwohner leben im Quartier in rund 800 Wohnungen. Darüber hinaus gibt es im Viertel 33 Ladengeschäfte, 22 Gaststätten und verschiedene museale Einrichtungen.
lk
MieterMagazin 9/07
Bei Touristen beliebt, beiStadtplanern umstritten: Berlins Nikolaiviertel
Foto: Christian Muhrbeck
Ostkitsch oder 20-jährige Erfolgsgeschichte?
Foto: Christian Muhrbeck
Altstadtsanierung á la DDR: Vor 20 Jahren wurde das Nikolaiviertel wieder aufgebaut
Foto: Mitte-Museum
Die Rolle des Nikolaiviertels in der Stadtentwicklung Berlins beleuchtet Florian Urban: Berlin/DDR, neohistorisch – Geschichte in Fertigbauteilen. Gebr. Mann Verlag, Berlin 2007,29,95 Euro.
Einen literarischen Reiseführer, der ungewohnte Geschichten aus dem Nikolaiviertel (und anderen Stadtteilen Berlins) enthält, schrieb Michael Bienert: Berlin. Wege durch den Text der Stadt. Klett-Cotta, Stuttgart 2004 (2. aktualisierte Auflage),19 Euro.
16.07.2013