Gutes für andere tun, anderen helfen, ohne geldlichen Lohn – dazu waren Menschen immer und überall bereit. Über ein Drittel der Bevölkerung engagiert sich ehrenamtlich, Frauen und Männer jeden Alters, um ihre Nachbarschaft mitzugestalten und weil sie in der zunehmend anonymer werdenden Gesellschaft den Kontakt zu einer Gemeinschaft suchen. Gleichzeitig kalkuliert der Staat verstärkt mit der Freiwilligenarbeit, gibt ihr einen neuen Namen: Bürgerschaftliches Engagement – von der Politik gefördert, entlastet es den Staat in seinen originären Aufgaben.
Mittwochs kochen im Neuköllner Rollbergviertel „Mieter für Mieter“. Im ebenerdigen Raum des Gemeinschaftshauses Morusstraße 14 finden sich mittags an die 60 Gäste an einladend gedeckten langen Tischen ein. Der Speisenplan wechselt, und „entsprechend der jeweiligen Kochkultur sind auch meist die Gäste mal mehr arabisch oder türkisch oder afrikanisch“, freut sich Ursula Bartel, langjährige Bewohnerin des Viertels mit hoher Erwerbslosigkeit. „Durch diese Essen lernen Nachbarn sich kennen“ – ein wichtiger Schritt aus der zunehmenden Anonymität.
In vielen Stadtteilen werkeln engagierte Bürgerinnen und Bürger. Hier wird für Nachbarn gekocht, anderswo werden die Klettergerüste auf dem Spielplatz repariert. Im Charlottenburger Westend übernehmen Anwohner ehrenamtlich die Pflege des Brixplatzes mit seinem wertvollen Schaugarten. Das Natur- und Grünflächenamt kann nur noch die Pflanzen zur Verfügung stellen – weitere Mittel hat es nicht mehr.
Am Kreuzberger Mariannenplatz reicht der bezirkliche Etat gerade noch für neue Bänke. Die kleine Grünanlage um den Feuerwehrbrunnen aber wurde im vergangenen Sommer von Anwohnern und Kiez-Initiativen neu gestaltet. Sebahat Korkut ist stolz darauf, und es hat Spaß gemacht. Durch die gemeinsame Pflege der Pflanzen, sagt sie, entsteht „Kontakt unter den Nachbarn, egal welcher Nationalität“. Das Stadtteilmanagement KOKO am Mariannenplatz bezahlte die Pflanzen aus einem von Bewohnern verwalteten Topf.
Besonders einschneidend wirken sich die Folgen der staatlichen Finanzknappheit auf die Schulen aus. Eltern werden von ihren schulpflichtigen Kindern in die Bildungsräume gelotst – um dort zu putzen. „Mit Kuchenbacken zum Gelingen von Schulfesten beizutragen ist schon okay“, meint Christiane Brückner, aber auch noch die Klassenräume renovieren – das geht ihr zu weit. „Zieht sich der Staat jetzt ganz raus?“, fragt sie sich.
Neben – naturgemäß – den Eltern drängt die Situation an den Schulen auch aktive ältere Menschen zum Handeln. Aggressive Schüler mit schwierigem Sozialverhalten bestimmen oft das Klima auf dem Schulhof und im Unterricht. Der Verein „Seniorpartner in School“ (SiS) bildet „Menschen der dritten Lebensphase“ zu ehrenamtlichen Mediatoren aus. „Inzwischen fragen immer mehr Schulleiter bei uns an“, erzählt Ursula Pauli von SiS. Die neutralen Seniorpartner beraten und vermitteln bei Konflikten zwischen Schülern.
Ein Drittel der Bevölkerung engagiert sich
Ehrenamt ist unbezahlte Ehrensache, die am häufigsten im Sportbereich erbracht wird (7,5 Prozent), gefolgt vom Engagement in Kindergärten und Schulen. Beliebt sind auch soziale Einrichtungen wie die Berliner Tafel oder die Feuerwehr (nur 30000 der 1,2 Millionen Feuerwehrleute der Republik sind es hauptberuflich!). Über ein Drittel der Bevölkerung sind laut einer Umfrage des Bundesministeriums für Familie aktive Ehrenamtliche – Tendenz steigend, besonders bei Menschen über 55 Jahre. Nach dem Warum gefragt, gaben die meisten den Wunsch an, die Gesellschaft wenigstens im Kleinen mitzugestalten, und die Suche nach Gemeinschaft mit anderen.
Der Dank der Gesellschaft drückt sich in respektvollem Umgang mit der neuen Grünanlage aus, dem friedvolleren Klima in der Schule. „Wir sind sehr glücklich mit den Seniorpartners“, so Leiter Claudi von der Lina-Morgenstern-Oberschule.
Kommunen, Senat, und Bund bewerben in jüngster Zeit verstärkt das bürgerschaftliche Engagement. Programme für die „Soziale Stadt“ werden entworfen, Nachbarschaftshäuser mitfinanziert, die in sozialen Brennpunkten längst bestehenden Quartiersmanagements weiter gefördert. Stadtteilinitiativen können aus dem „Bewohner-Topf“ oder der „Kiezaktiv-Kasse“ kleinere Geldbeträge für Pflanzen und Erde, Hausaufgabenhilfe, Schuldnerberatung, Deutschkurse oder die kulturelle Integration beantragen. Für das lokale Gemeinwesen spenden ansässige Firmen auch schon mal benötigtes Material und geben Vermieter sich großzügig.
Ohne Freiwillige geht es nicht
Keine Gesellschaft kam ohne das uneigennützige und gern erbrachte Engagement ihrer Mitglieder aus. Nachbarn halfen sich schon immer: Früher waren es die Kohlen aus dem Keller, heute werden Einkaufstüten für andere hochgetragen. Der eine Nachbar guckt abends nach den schlafenden Kindern, die andere Nachbarin hilft bei der Reparatur des Fahrrads. Und doch: Familienzusammenhänge lösen sich auf, die Bewohnerschaft eines Hauses wird anonymer.
Wer Gutes für andere – und dabei auch für sich – tun will, kann sich seit einigen Jahren an eine der lokal agierenden Freiwilligen-Agenturen wenden. Diese sammeln aktiv aus allen gesellschaftlichen Bereichen Aufgaben für Ehrenamtliche. Andrea Brandt von der Freiwilligen-Agentur Friedrichshain-Kreuzberg erläutert die Vorgehensweise: „Meldet sich bei uns jemand auf der Suche nach einem Projekt, in dem er sich engagieren kann, dann gucken wir bei einer Beratung gemeinsam, welches der 125 Projekte unseres Pools zu dieser Person mit ihren konkreten Wünschen und Kenntnissen passt.“ Die Diskussion, ob sich nicht Staat und Wirtschaft aus ihrer Verantwortung verdrücken, „wird längst durch die Praxis überholt. Viele Vereine können nur noch mit Ehrenamtlichen überleben“ sind ihre bitteren Erfahrungen. Manche Arbeitslose nutzen die Angebote wie „Familienzentrum sucht Freiwilligen für Gestaltung der Homepage“ auch als Chance. Werden die eigenen Fähigkeiten nicht mehr auf dem Arbeitsmarkt benötigt, dann vielleicht in der Freiwilligenarbeit.
Der Freiwilligenpass, 2005 durch die Senatsverwaltung für Soziales eingeführt, baut hierauf. Im Übrigen: Ein persönliches Verzeichnis ehrenamtlichen Engagements könnte ein gutes Argument für die nächste Bewerbung um einen Arbeitsplatz sein.
Clara Luckmann
MieterMagazin 4/06
Beim Essen lernt man sich kennen: Mieter kochen für Mieter im Neuköllner Rollbergviertel
alle Fotos: Christian Muhrbeck
‚Wir finden für jeden das passende Projekt‘:
Andrea Brandt von der Freiwilligen-Agentur Friedrichshain-Kreuzberg
Im Sportbereich engagieren sich die meisten Ehrenamtlichen (hier: ein Judotrainer beim Verein Lotos e.V.)
Adressen:
Bundesverband Bürgerschaftliches Engagement, vertritt Parität, Volkssolidarität, Caritas und andere,
www.b-b-e.de
Treffpunkt Hilfsbereitschaft, Landesfreiwilligenagentur Berlin, www.freiwillig.info
Wo engagiert?
500.000 Berlinerinnen und Berliner engagierten sich 2004 freiwillig in folgenden Bereichen (in Prozenten):
7,5 Sport und Bewegung
6,5 Schule und Kindergarten
5,5 Soziales
5,0 Kultur und Musik
3,5 Freizeit
3,0 Kirche
Quelle: Pressestelle der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales
Organisierte Mieter sind ein Machtfaktor
Auch im Berliner Mieterverein (BMV) engagieren sich viele Ehrenamtliche – ohne sie hätte der Verein nicht die politische Schlagkraft und könnte seinen Service nicht in dem geleisteten Umfang erbringen. Thomas Koch, der im BMV die Ehrenamtlichen betreut, weiß deren Arbeit zu schätzen: „Die Bezirksaktivengruppen ergänzen die professionelle Rechtsberatung des BMV in hervorragender Weise“. Auf Seminaren wird den Ehrenamtlichen das nötige Fachwissen vermittelt, sie nehmen an den Delegiertenversammlungen teil, sitzen im Beirat und bestimmen so den politischen Kurs des BMV mit. Da eine parallele Arbeit von Haupt- und Ehrenamtlichen nicht konfliktfrei verläuft, fördert der BMV aktiv die Zusammenarbeit.
In den Bezirksgruppen dreht sich alles um die Belange der Mieterinnen und Mieter. Durch das Prinzip „Hilfe zur Selbsthilfe“ unterstützen die Aktiven Mietergemeinschaften bei ihren Versammlungen – ob es um geplante Sanierungsmaßnahmen, Wohnumfeldverbesserungen oder um überhöhte Betriebskostenabrechnungen geht.
„Organisierte Mieter sind ein Machtfaktor“, so Thomas Koch. Der BMV sucht weiterhin ehrenamtlich aktive Mitglieder. Das Ehrenamt ist grundsätzlich unbezahlt, aber wer fachliche und soziale Kompetenz hat, kann auch Mitarbeiter werden.“ Interessierte melden sich bei Thomas Koch unter Tel. 226 26 144.
Clara Luckmann
16.04.2017