Der Bestand an Sozialwohnungen ist in den letzten Jahren dramatisch geschrumpft. Wenn es mit Förderabbau und Privatisierung in diesem Tempo weitergeht, wird in einigen Jahren nur noch ein kümmerlicher Rest übrig sein. Was in Zeiten eines relativ entspannten Wohnungsmarkts offenbar niemanden aufregt, könnte schon bald zum sozialen Sprengstoff werden. Dann nämlich, wenn sich die Armut durch steigende Arbeitslosigkeit und Sozialabbau weiter verschärfen wird. Wo sollen dann Menschen eine bezahlbare Wohnung finden, die nicht zu den Lieblings-Kandidaten privater Vermieter gehören: Hartz-IV-Empfänger, Migranten, allein Erziehende oder kinderreiche Familien? Und wie soll die viel beschworene soziale Mischung in den Quartieren wieder hergestellt werden, wenn die öffentliche Hand keine Belegungsrechte mehr besitzt, mit der sie dies steuern könnte?
In den 80er Jahren gab es rund vier Millionen Sozialwohnungen in Deutschland, mittlerweile hat sich die Zahl mehr als halbiert. Schätzungen zufolge wird der Bestand im Jahre 2010 auf 400.000 zusammengeschmolzen sein. In Berlin sieht es nicht anders aus. Hier ist der Anteil der Sozialwohnungen am gesamten Wohnungsbestand seit 1993 von 33 auf 15 Prozent geschrumpft. Hinzu kommt, dass nur noch ein Teil dieser Wohnungen für einkommensschwache Mieter reserviert ist.
Anders als oft angenommen war der Soziale Wohnungsbau nie ein Programm zur Wohnungsversorgung von ärmeren Haushalten gewesen. Gebaut wurde vielmehr für die „breiten Schichten des Volkes“. Das Soziale am Sozialen Wohnungsbau ist die Belegungsbindung. Über dieses Instrument erhält die Kommune das Recht, die Mieter für die geförderten Wohnungen zu bestimmen. Einziehen darf nur, wer mit seinem Einkommen innerhalb der Grenzen des Wohnberechtigungsscheins (WBS) liegt. Insgesamt gibt es nach Angaben der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung derzeit 208.000 Sozialwohnungen, wovon aber nur bei etwa drei Viertel eine aktive Bindung besteht.
Der Abbau von Belegungsrechten hat mittlerweile dramatische Dimensionen angenommen. Der Dammbruch setzte bereits Ende der 90er Jahre mit der Diskussion um „überforderte Nachbarschaften“ und „ausgewogene Sozialstrukturen“ ein. Seitdem erteilt der Senat großzügig Freistellungen. Zuerst wurden 1998 die Großsiedlungen und die so genannten Problemgebiete freigestellt, insgesamt 93.000 Wohnungen. Das heißt, für diese Wohnungen braucht man keinen WBS, auch besser Verdienende können einziehen. 2003 wurde dann die Belegungsbindung bei den städtischen Wohnungsbaugesellschaften im Ostteil der Stadt aufgehoben. Obwohl es sich hier nicht um echte Sozialwohnungen handelte, mussten die Unternehmen vorher einen bestimmten Prozentsatz für WBS-Inhaber bereithalten. Das ist nun – zunächst bis 2013 – aufgehoben. Begründet wird dies mit dem wesentlich höheren Leerstand im Osten, vor allem im Plattenbau. „Die Unternehmen sind froh über jeden Mieter, da sollte man nicht noch zusätzliche Hürden schaffen“, meint Thomas Brand, Referatsleiter in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung. 2013 werde dann geprüft, ob man die Wohnungen wieder braucht.
Widersprüchliche Senatspolitik
Nicht dulden will der Senat dagegen die WBS-freien Zonen in Neukölln und Tempelhof-Schöneberg. Die beiden Bezirke hatten 2005 beschlossen, ihren Bestand an belegungsgebundenen Wohnungen komplett freizustellen. Dass der Senat dies nicht länger hinnehmen will, hat jedoch nichts mit grundsätzlichen Erwägungen zu tun. „Wir befürchten, dass damit Problemfälle in die Nachbarbezirke exportiert werden“, erklärt Thomas Brand. Hintergrund: Einkommensschwächere würden wohl gegenüber Einkommensstärkeren bei der Wohnungsvergabe benachteiligt und müssten auf die Bezirke nebenan ausweichen. Außerdem versuche man, Anreize zu schaffen, dass die Eigentümer die öffentlichen Darlehen vorzeitig zurückzahlen, indem man ihnen die Aufhebung der Belegungsbindung anbietet. „Wenn die Bezirke eigenmächtig freistellen, haben wir nichts mehr in der Hand“, so Brand. Das bedeutet allerdings: Während der Senat für Freistellungen und Förderabbau bei immer mehr Sozialwohnungen sorgt, will er die Bezirke an die Kandarre nehmen. Insgesamt haben die Bezirke für 20000 Wohnungen Freistellungen erteilt.
Kein Wunder also, dass der WBS, einst die Eintrittskarte für den Berliner Sozialwohnungsmarkt, an Bedeutung verloren hat. Im Dezember 2005 waren 22.885 Berliner im Besitz eines solchen Scheins, 3051 davon hatten einen Dringlichkeitsvermerk. 1996 gab es noch 84.254 WBS-Inhaber, davon 17.053 mit Dringlichkeit. Selbst beim Senat geht man davon aus, dass sich die Dringlichkeitsfälle nicht verringert haben. Aber wozu sollte man einen WBS beantragen, wenn er im Großen und Ganzen gar nicht mehr verlangt wird?
Der Berliner Mieterverein (BMV) hat den Bindungsabbau von Anfang an scharf kritisiert: „Wenn Vermieter die Wahl haben zwischen einem WBS-Inhaber und einem finanzkräftigeren Bewerber, ist doch klar, wer das Nachsehen hat“, meint Reiner Wild, stellvertretender Hauptgeschäftsführer des BMV. Der Verweis auf einen angeblich entspannten Wohnungsmarkt sei irreführend „Es stimmt ja nicht, dass es keine Engpässe gibt, bereits jetzt übersteigt die Nachfrage nach preiswerten Wohnungen das Angebot“, so Wild. Das belegt auch der jährlich erstellte Wohnungsmarktbericht des Senats. Bei Wohnungen bis zu 4 Euro pro Quadratmeter gebe es mittlerweile dreimal so viel Gesuche wie Angebote, heißt es in dem Bericht von 2004. Im Übrigen haben Belegungsbindungen auch die Aufgabe, Diskriminierungen auf dem Wohnungsmarkt auszugleichen. Paradebeispiel sind die Migranten, die von privaten Vermietern häufig benachteiligt werden.
Absurd hohe Mieten
Doch Sozialwohnungen sind nicht immer billig – im Gegenteil. Je nach Förderprogramm kommen absurd hohe Mieten zustande. Die Wohnungsämter haben zunehmend Schwierigkeiten, Mieter für diese belegungsgebundenen Wohnungen zu finden. Während die Sozialämter früher jede Miete im Sozialen Wohnungsbau als angemessen akzeptierten, gibt es nun Ausführungsvorschriften, die Obergrenzen festlegen. Die Folge: Bestimmte Sozialwohnungen kommen für Empfänger von Hartz IV und Sozialhilfe oft nicht in Frage. Und die Wohnungsbaugesellschaften nehmen lieber den massenhaften Leerstand in Kauf, als mit der Miete runterzugehen. Das Land Berlin habe sich durch eine verfehlte Förderpolitik in diese Situation hineinmanövriert, meint Barbara Oesterheld, wohnungspolitische Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen. „Es kann nicht sein, dass Milliarden an Steuergeldern ausgegeben wurden und die Wohnungen jetzt so teuer sind“. Ihre Forderung: Die städtischen Wohnungsunternehmen und der Senat müssten sich zusammensetzen, um zu einer vernünftigen Mietpreisregelung im Sozialen Wohnungsbau zu kommen.
Selbst in den Berliner Sanierungsgebieten hat man die Erfahrung gemacht, dass die – vergleichsweise günstigen – Fördermieten für einkommensschwache Mieter zu hoch sind. „Beim Einzug können sie die Miete gerade noch tragen, aber schon nach einem Jahr, wenn die erste 20-prozentige Mieterhöhung kommt, ist sie zu teuer“, sagt Werner Oehlert von der Mieterberatungsgesellschaft ASUM in Friedrichshain.
Allerdings gibt es große Unterschiede bei den Mieten im Sozialen Wohnungsbau. Besonders teuer sind Wohnungen, die nach der Umstellung des Fördersystems in den 70er Jahren gebaut wurden. Es gibt in Berlin aber auch noch rund 80.000 Wohnungen, die über Annuitätshilfen und Baudarlehen gefördert worden sind, etwa aus dem Aufbauprogramm der 60er Jahre. „Belegungsrechte müssen vor allem in diesen preisgünstigen Beständen gesichert werden, statt sie auch noch an Private zu verscherbeln“, meint Reiner Wild vom BMV.
Wie groß die Konkurrenz um diese bezahlbaren Wohnungen bereits ist, zeigt das „Geschützte Marktsegment“. Mit diesem Programm stellen die städtischen Wohnungsbaugesellschaften jährlich ein bestimmtes Kontingent an Wohnungen für besonders benachteiligte Bevölkerungsgruppen zur Verfügung. Die Soll-Zahl von 1350 Wohnungen wurde zwar seit jeher nicht erfüllt, aber in diesem Jahr kommen die Angebote besonders zögerlich, wie Sandra Bahns von der Zentralen Koordinierungsstelle berichtet. Bis Mitte Juni wurden lediglich 360 freie Wohnungen gemeldet. Auf Nachfrage hätten die Wohnungsunternehmen mitgeteilt, dass sie zuerst ihre eigenen Mieter versorgen mussten, die wegen Hartz IV in eine billigere Wohnung wechseln wollten. Auch sei die Fluktuation bei den preisgünstigen Ein- und Zweizimmerwohnungen stark zurückgegangen. „Günstiger Wohnen auf engerem Raum ist der Trend“, fasst Bahns die Entwicklung zusammen. Im vergangenen Jahr hatte es immerhin noch 996 Angebote und 747 Mietabschlüsse im Geschützten Marktsegment gegeben.
Alle anderen finden derzeit mit etwas Glück noch Nischen, zum Beispiel im unsanierten Altbau. Allerdings gibt es auch viele, deren Wohnungsnot nicht sichtbar wird, weil sie zu fünft in einer Zweizimmerwohnung leben oder weil sie sich damit abgefunden haben, 40 Prozent und mehr ihres Einkommens für die Miete auszugeben. Das betrifft vor allem Migranten.
Die Nischen werden enger
Doch auch der unsanierte Bestand wird in den kommenden Jahren auf ein Minimum schrumpfen. In Städten wie München gibt es ihn schon lange nicht mehr. „Hier müssen sich die Kommunen etwas einfallen lassen“, meint Hasso Brühl vom Deutschen Institut für Urbanistik. Denn sonst konzentrieren sich die finanzschwachen Haushalte in bestimmten Quartieren – mit der Folge, dass sich die soziale Aufteilung in den Städten verschärft. Gerade der Soziale Wohnungsbau habe dazu beigetragen, dass es lange Zeit eine relativ ausgeglichene Mischung gab. Weil die Bestände breit über die Stadt gestreut waren, waren reichere und ärmere Schichten Nachbarn. Um Spielraum für eine sozialräumliche Steuerung zu haben, gibt es – so Brühl – für die Kommunen nur zwei Möglichkeiten: in den Neubau zu investieren oder Belegungsrechte im privaten Bestand zu erwerben. „Das Problem ist, dass der Kauf von Belegungsrechten dort nicht funktioniert, wo der Markt sowieso eng ist, weil die Vermieter daran kein Interesse haben.“
Dass Belegungsbindungen nicht – wie oft behauptet – die Entstehung von sozialen Brennpunkten fördern, beweisen die Sanierungsgebiete. Auch hier gibt es Wohnungen, die für WBS-Inhaber reserviert sind. Trotzdem haben sich stabile Quartiere entwickelt – oder vielmehr gerade deswegen, wie Werner Oehlert meint: „Vermieter neigen dazu, keine Familien mit kleinen Kindern zu nehmen. Über unser Belegungsmanagement gleichen wir das aus.“ Schließlich möchte man, dass die in den letzten Jahren gebauten Spielplätze auch genutzt werden. Während Vermieter zudem in erster Linie auf die Solvenz achten, weiß man bei ASUM: Nicht jeder Mieter, der wenig Geld hat, ist ein unzuverlässiger Zahler. Eine sensible Belegung sorgt für eine ausgeglichene Mieterstruktur.
Fazit: Dass das Land Berlin ein solches wohnungspolitisches Regulativ aus der Hand gibt, ist mehr als kurzsichtig.
Birgit Leiß
Wie wenig sich manche Eigentümer um ihre Verpflichtungen aus der Belegungsbindung scheren, zeigt ein Beispiel aus Friedrichshain. Wie in allen Sanierungsgebieten wurden dort etliche Häuser mit öffentlichen Mitteln aus dem Programm „Soziale Stadterneuerung“ saniert. Im Gegenzug mussten sich die Hauseigentümer verpflichten, eine bestimmte Anzahl der Wohnungen mit vorheriger Zustimmung des Bezirksamtes nur an WBS-Inhaber zu vermieten. Die vom Bezirk beauftragten Mieterberatungsgesellschaften haben ein Vorschlagsrecht, der Eigentümer kann unter dem Kreis der Berechtigten jedoch auswählen. In Friedrichshain gibt es rund 4200 solcher belegungsgebundenen Wohnungen. Früher, zu den Hochzeiten der Sanierung, wurden sie fast ausschließlich als Umsetzwohnungen für sanierungsbetroffene Mieter gebraucht. Mittlerweile können auch andere Wohnungssuchende zugreifen – vorausgesetzt sie haben einen WBS. Ausgerechnet die Unternehmensgrup- pe Padovicz, die reichlich Fördergelder abgesahnt hat, versucht nun, diese Regelung zu unterlaufen. Werner Oehlert, Geschäftsführer der Mieterberatungsgesellschaft ASUM: „Da wird von den Bewerbern zusätzlich zur Kaution noch eine Bürgschaft verlangt, wobei sogar die Offenlegung des Einkommens verlangt wird. Außerdem soll die Kaution auf einmal gezahlt werden statt in drei Raten.“ Beides ist gesetzlich nicht zulässig und dient lediglich dem Zweck, die Hürden extrem hoch zu legen. Welcher Hartz-IV-Empfänger kann schon vier Monatsmieten auf einmal auf den Tisch legen? Viele Bewerber springen ab, weil sie mit einem solchen Eigentümer nichts zu tun haben wollen oder weil sie keinen Bürgen auftreiben können. Da ASUM nur sechs Wochen Zeit hat, die Wohnung zu vermitteln, steht am Ende oft deren Freistellung. „Über fast jeden Bewerber gibt es Auseinandersetzungen“, sagt Oehlert. Aber auch schon vorher werden die Wohnungen ganz offen vom Eigentümer im Internet angeboten. Oft gibt es schon einen solventen Wunschkandidaten, und die eigentlich berechtigten Interessenten werden nur pro forma zum Vorstellungsgespräch empfangen. „Das ist umso ärgerlicher, weil die Belange des Bezirks bei der Belegung somit kaum noch berücksichtigt werden“, meint Oehlert: „Wir sind bemüht, die Wohnungen vorrangig an Berechtigte zu vergeben.“ Das klappt im Allgemeinen auch gut, Probleme gebe es nur mit der Unternehmensgruppe Padovicz. Deren Methoden waren unlängst sogar Thema im Bauausschuss des Bezirksamts. Es ging um die abgesenkte Miete, die laut Fördervertrag denjenigen Mietern gewährt werden muss, die einen WBS vorlegen können. Das heißt, in den Sanierungsgebieten gelten zwei Mietenstufen: eine „normale“ von derzeit 4,44 Euro nettokalt pro Quadratmeter und eine ermäßigte von 4,13 Euro. Die Differenz wird dem Eigentümer von der Investitionsbank Berlin (IBB) erstattet. Zweck dieser Regelung ist es, den unterschiedlichen Geldbeuteln der Mieter gerecht zu werden. Die Unternehmensgruppe Padovicz sieht sich nicht daran gebunden und verweigert die abgesenkte Miete. Nach Einschätzung der Rechtsexperten des Berliner Mietervereins ist das rechtlich eindeutig nicht zulässig. Die Mieter können ihre Ansprüche zwar zivilrechtlich durchsetzen, aber nicht jeder kennt die Regelung und nicht jeder will vor Gericht ziehen. Unverständlich bleibt, warum Bezirk, Senat und IBB sich diese dreisten Vertragsverstöße gefallen lassen. „Damit Eigentümer mit solchen Tricks nicht durchkommen, muss man sie konsequent an die Förderbedingungen erinnern und notfalls auch die Freistellung verweigern“, fordert Werner Oehlert.
Birgit Leiß
MieterMagazin 7+8/06
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10.05.2017