Im Gefängnis San Pedro im bolivianischen La Paz bleiben die Wächter draußen. Die Gefangenen müssen Miete für ihre Zellen zahlen und organisieren den eigenen Knast mit selbst erlassenen Gesetzen.
Der Taxifahrer bremst mitten in einem der teuersten Viertel von La Paz. „Aqui no mas“, sagt er. Angekommen. Erstaunt gucke ich auf die rosa gestrichene hohe Mauer. Das soll es sein: San Pedro, das älteste Männergefängnis der Stadt? Keine Gitterstäbe, kein Stacheldraht, keine Schilder. Zwei Polizisten lehnen sich locker an ein großes Eingangstor – aber die Männer in Uniform sind eigentlich nichts Ungewöhnliches in einer Stadt, in der sich Reiche Wachpersonal leisten. „Sicher?“, frage ich den Taxifahrer. „Ja, ja. Sie werden schon sehen.“
San Pedro gilt als das seltsamste Männergefängnis in Südamerika. Es ist eine Stadt hinter Gittern – mit Wachen nur an den Außenmauern und am Haupttor. Mit Insassen, die drinnen sich selbst überlassen sind und ihre eigenen Regeln aufstellen – für ihr Leben ohne Aufsicht und ohne Einschluss, aber auch ohne geregelte Verpflegung und gesicherte Unterbringung.
Es ist Donnerstag, Besuchertag. Neben den beiden Uniformierten warten vor dem Eingang Frauen mit vollen Weidenkörben. Ihre schweren Faltenröcke reichen bis auf den Boden. Um die Schultern haben viele einen Umhang geschlungen, ihre schwarzen Haare stecken unter melonenförmigen Hüten. Die meisten kennen sich. Erzählen von ihrer Arbeit auf dem Markt, von dem Leben ohne ihre Männer. Manche haben Kinder dabei, die Gesichter dreckverschmiert, die Augen neugierig. „Und wen besuchst du?“, fragt ein kleiner Junge, an den Füßen trägt er aus Autoreifen gebastelte Flip-Flops. „Stefan Paulus*, einen Deutschen“, antworte ich.
Paulus habe ich eher durch Zufall kennen gelernt. Im Internet hatte ich ein paar Tage zuvor die Nummer für eine Telefonzelle gefunden, die in einem der Innenhöfe des Gefängnisses steht. „Gibt es einen Deutschen?“ Die Frage hatte den Gefangenen, der meinen Anruf entgegennahm, nicht erstaunt. „Un momento – einen Moment“, schon war er weg. Minuten verstrichen. Dann endlich: „Ja, hallo?“ Am Apparat war Stefan Paulus.
Jetzt bin ich auf dem Weg zu ihm, als seine Cousine. So hatten wir die offizielle Erklärung meines Besuchs am Telefon besprochen. Der diensthabende Chef nickt wissend, als ich ihm von meinem vermeintlichen Cousin erzähle, kassiert meinen Pass ein und drückt mir einen Stempel mit dem Symbol einer Friedenstaube auf den linken Unterarm. Er wird später einen Teil der Dollar bekommen, die ich Stefan Paulus für meinen Besuch zahlen muss.
Auf eigene Rechnung in San Pedro
Gleich hinter dem Haupteingang fängt er mich ab. Stefan Paulus fällt auf unter den Gefangenen. Er ist groß, 1,85 Meter, schmächtig. Sein weißes T-Shirt schlabbert, die Jeans ist zu weit, bei der Verurteilung vor fünf Jahren wog er 90 Kilo, jetzt sind es 65. Damals wurde er mit zwei Kilo Kokain am Flughafen von La Paz erwischt und zu acht Jahren Haft verurteilt. Seitdem sitzt der 39-Jährige in La Paz. Und zahlt. Das Leben der Gefangenen geht auf eigene Rechnung. Wer in San Pedro sitzt, muss für alles selber sorgen, für alles selber zahlen. 300 Bolivianos, umgerechnet etwa 31 Euro gibt er monatlich allein für Lebensmittel aus, fast 16 Euro für seinen Fernsehanschluss und dann noch die Miete, etwa 17 Euro. Insgesamt braucht er im Monat mindestens 95 Euro, viel Geld in einem Land, wo das Jahreseinkommen im Schnitt bei 165 Euro liegt. „Ganz schön teuer das Leben hier“, klagt Paulus, während er eine schmale Holztreppe hochsteigt und die knarrende Holztür zu seiner Unterkunft öffnet: Fensterlose acht Quadratmeter, ein Bett, ein Tisch, zwei Stühle, ein kleines Bücherregal, zwei Herdplatten. Im Fernsehen läuft eine Game-Show. An den Wänden hängen Poster nackter Frauen, nur eine Spanplatte trennt ihn vom Nachbarn, er hört jeden Schritt. „Wer es sich leisten kann und voraussichtlich lange in San Pedro bleibt, kauft meist seine eigenen vier Wände“, sagt Stefan Paulus. Von der simplen Einzimmerzelle bis zur Luxuszellenwohnung mit Balkon, Dusche und kleiner Küche – „in San Pedro gibt es alles“, sagt er, „willste mal gucken?“ Gerne.
Vor seinem Zimmer breitet sich ein kleiner Innenhof aus, an der einen Seite hängt ein Basketballkorb. Alamos steht darüber. Der Name des Viertels. Es ist eins von neun in San Pedro. Die so genannte „Innenstadt“ ist nur fünf Minuten Fußweg entfernt. Es gibt mehrere Kirchen und kleine Plätze, auf denen Marktfrauen Obst und Gemüse anbieten. Die meisten Gebäude sind zwei- oder dreistöckig mit einer Veranda in den oberen Etagen. Hier spielen Männer Karten. An einem schwarzen Brett hängen Wohnungsangebote, Schilder neben Zelleneingängen verkünden „en venta“ („zum Verkauf“).
Angebot und Nachfrage
„Wer in den besseren Vierteln San Pedros leben will, muss von einem der dortigen Bewohner dazu eingeladen werden oder zumindest Referenzen haben“, sagt Stefan Paulus. Der Standard der Zellen und die Sicherheit der Nachbarschaft entscheiden über die Höhe der Gemeindesteuern, die die Bewohner zahlen müssen. Miete oder Kaufpreis ergeben sich aus Angebot und Nachfrage. Je beliebter die Nachbarschaft und je stärker das Gefängnis überbelegt ist, desto teurer wird es. Statt der ursprünglich geplanten 250 Insassen hausen im Moment 1700 Menschen in San Pedro, eingepfercht auf einer Fläche von nur einem Straßenblock von rund 100 mal 100 Metern. In der Regel kommen Zellen auf den Markt, kurz bevor Gefangene entlassen werden. Manchmal jedoch, wenn das Gefängnis – wie im Moment – zum Bersten voll ist, erlassen die Politiker neue Gesetze, es regnet Begnadigungen und der Immobilienmarkt in San Pedro bricht zusammen. Oder aber es kursieren mal wieder Gerüchte, die bolivianische Regierung werde ihren lange gehegten Plan realisieren, San Pedro zu schließen, die Insassen in ein anderes Gefängnis verlegen oder ein neues bauen. Auch dann stürzen die Preise. „Doch der Markt erholt sich in der Regel ziemlich schnell“, sagt Stefan Paulus. Selbst ein feuchter Verschlag ist in San Pedro nicht unter 10 Euro im Monat zu haben. Wer Geld hat, richtet sich dagegen luxuriös ein. „Das ist der Abfluss des Pools von Barbachoca“, sagt Paulus und zeigt auf ein überraschend modernes Rohr. Barbachoca („Rotbart“) ist der ungekrönte König im Knast. Er sitzt für den größten aufgedeckten Drogendeal der bolivianischen Geschichte ein: 4,2 Tonnen Kokain im Wert von über 420 Millionen Dollar versuchte der internationale Drogenbaron zu schmuggeln – im Privatflugzeug, das von Bolivien über Mexiko in die USA fliegen sollte. In Peru holten die Behörden den Drogenbomber vom Himmel, Barbachoca wurde zu 13 Jahren verurteilt und in San Pedros Fünf-Sterne-Trakt – einem etwas heruntergekommenen Haus im Kolonialstil, das unter den Gefangenen nur Vorstadt heißt – einquartiert. Flugs ließ er auf seiner Zelle für einige 1000 Euro ein Penthouse bauen. Jetzt genießt er einen fantastischen Ausblick auf die schneebedeckten Gipfel am Horizont, lässt sich von seinem mitgebrachten Personal bedienen und führt seine Geschäfte per Mobiltelefon und Faxgerät weiter.
„Klar, dass jeder Gefangene versucht, hier so viel wie möglich zu verdienen“, sagt Paulus. Er gibt Englischunterricht. Einmal im Monat zahlt ihm die Deutsche Botschaft Sozialhilfe. Das Geld reicht gerade so zum Überleben, sagt er.
Als er ankam, hatte er gar nichts. Er putzte und kochte für andere Gefangene und durfte dafür auf ihrem Zellenboden schlafen. Manchmal blieb ihm nichts anderes übrig, als unter freiem Himmel zu übernachten – bei Temperaturen, die in dem rund 4000 Meter hoch gelegenen La Paz schnell unter den Gefrierpunkt fallen. Meistens halfen ihm Freunde, wie Manuel. Der Bolivianer hat sich in San Pedro finanziell etabliert. Von dem Geld seiner Familie mietete er eine zweite Zelle im Erdgeschoss und machte einen Kiosk daraus. Auf den Holzregalen stapeln sich Konservendosen und Toilettenpapier, von der Decke baumeln von Clips gehaltene Chipstüten. Seine Frau kauft draußen die Lebensmittel ein und bringt sie an den Besuchstagen mit.
Nach eigenen Regeln
Die Regeln des Zusammenlebens stellen die Gefangenen selber auf: Von ihnen ernannte Polizisten sorgen für die Einhaltung der Nachtruhe sowie einer Reihe ungeschriebener erbarmungsloser Gesetze – notfalls per Selbstjustiz. Paulus geriet am Anfang ins Fadenkreuz rivalisierender Gangs. „Ich war ein verdächtiger Exot.“ Inhaftierte schlugen ihn zusammen, schlitzten seine Wange mit einer Eisenstange auf. Paulus kapierte: „Entweder du wehrst dich oder du bist verloren.“ Heute wird er von den meisten akzeptiert, aber er hat auch die Regeln des Knasts verstanden. Während unseres Rundgangs kommen immer wieder Inhaftierte zu ihm und fragen nach ein paar Bolivianos. „Ihr Teil von dem, was du mitgebracht hast.“ Paulus wird zahlen. Außerdem leistet er sich einen Bodyguard: Vincent – breiter Oberkörper, Pomade im zum Pferdeschwanz gebundenen Haar, auf dem Gesicht ein gütiges Lächeln. Früher hat Vincent in Santa Cruz mit Straßenkindern gearbeitet, dann wurde er vor drei Jahren beim Scheckbetrug erwischt.
In einem Jahr wird Stefan Paulus vielleicht entlassen, wegen guter Führung. Was kommt dann? Sein Vater hat ihm einen Rechtsanwalt besorgt, als er vor ein paar Jahren in La Paz war. Mit seiner Mutter telefoniert Stefan Paulus regelmäßig. Besuch bekommt er selten. Manchmal beneidet er seine Gefängniskumpel, die in San Pedro mit ihren Frauen leben. Auch das ist möglich. Ein paar Bolivianos Miete müssen die Frauen pro Nacht zahlen, ihre Kinder dürfen umsonst bleiben. Rund 200 Frauen und Kinder wohnen mit im Knast. Die Älteren gehen draußen zur Schule, für die Jüngeren gibt es im Gefängnis einen Kindergarten. Paulus hält sich von den Ehefrauen und Kindern fern. „Das gibt nur unnötige Eifersüchteleien und unbegründete Vorwürfe.“ Lieber trifft er sich mit einer der Frauen, die nach San Pedro kommen, um ihre Liebe zum Kauf anzubieten. Trotzdem findet Stefan Paulus, dass die Kleinfamilien das Leben in San Pedro normalisieren: „Unser oberstes Gebot ist: Keine Gewalt, wenn Kinder in der Nähe sind.“ Und überhaupt: Grundsätzlich unterscheide sich das Leben in San Pedro von dem draußen kaum, sagt Paulus. Und wie zum Beweis erzählt er von den Bürgermeisterwahlen einmal pro Jahr. Zur Wahl stellen kann sich, wer keine Schulden und auch keine Hypothek auf seine Zelle aufgenommen hat. Als Wahlwerbung fließt literweise Alkohol, bezahlte Klatscher bejubeln die Redner bei Veranstaltungen, kurz: Vor der Wahl versuchen die Kandidaten Wählerstimmen zu kaufen. „Alles genau so wie draußen – nur mit Mauern drum herum“, sagt Paulus.
Kerstin Friemel
* Name von der Redaktion geändert
MieterMagazin 1+2/05
Stadt hinter Gittern: San Pedro, Alamos, die „Innenstadt“
alle Fotos: Kerstin Friemel
San Pedro hat neun „Stadtteile“ – jeder hat sein eigenes Wappen
Der Knast San Pedro liegt inmitten eines der teuersten Viertel von La Paz
Kioskbesitzer Manuel und seine Frau, die die Waren draußen einkauft und an den Besuchstagen mitbringt
Da viele der inhaftierten Männer mit ihren Familien in San Pedro leben, gibt es auch eine Schule in der Nähe …
… und einen Kindergarten direkt im Gefängnis
04.08.2013