Die US-Wohnungsbaugesellschaft „Habitat for Humanity“ baut weltweit bezahlbare Wohnungen für jene, die bislang im Untergeschoss der Gesellschaft leben mussten. Der Andrang auf das Angebot ist groß. Doch wer einziehen will, muss mitbauen. Neben den zukünftigen Wohnungsbesitzern arbeiten jährlich tausende Freiwillige auf den Habitat-Baustellen mit.
Manchmal hört Carmen Rosario Schüsse. Dann fechten Teenager-Gangs unter ihrem Küchenfenster Territorialkriege aus. Sie hat Angst, wenn sie sich frühmorgens auf den Weg zu ihrer Arbeit als Arzthelferin macht – vorbei an den jungen Drogendealern, die vor ihrer Haustür auf Kundschaft warten, aggressiv und auf Randale aus. Dann versteckt Carmen Rosario ihre Gefühle hinter einer unbeweglichen, coolen Miene und hofft, dass sie und ihre 15-jährige Tochter auch an diesem Tag wieder glimpflich davon kommen.
Seit elf Jahren lebt Carmen Rosario im elften Stockwerk des riesigen Hochhauses mitten im gefährlichen Teil des New Yorker Stadtbezirks Harlem. Ihr Gebäude ist Teil einer Ansammlung von Häusern mit Sozialwohnungen, in den 70er Jahren gebaut und inzwischen zu dem verfallen, was Amerika „projects“ nennt – Hochhausghettos, die in Armut und Gewalt abgeglitten sind – ein Sumpf aus Drogen und Waffen, von minderjährigen Müttern und zerrütteten Familien. Fünf Jahre suchte Carmen Rosario nach einer neuen Wohnung. Lange ohne Erfolg. Die allein stehende Mutter zweier Kinder kann die mindestens 1000 Dollar Miete nicht aufbringen, die Zwei- oder Dreizimmerwohnungen in akzeptabler Lage auf dem freien Wohnungsmarkt mindestens kosten: „Ich rackerte mich ab und steckte trotzdem in dem Project fest.“
Weltweites Engagement
Dann kam die Wende. Vor zwei Jahren bewarb sich Carmen Rosario bei der christlich-karitativen Wohnungsbaugesellschaft „Habitat for Humanity“. Seit einigen Monaten weiß sie, dass sie bald in eins der New Yorker Habitat-Gebäude einziehen kann – für sie „wie ein Lottogewinn“. Kein Wunder: Die US-amerikanische Organisation Habitat baut bezahlbare Wohnungen für finanziell Schwache und verkauft sie ohne Gewinn an sorgfältig ausgewählte Bewerber, wie zum Beispiel Carmen Rosario. Zusätzlich bietet Habitat den Familien zinslose Darlehen an. Spenden helfen der Organisation, einen Großteil der Projekte zu finanzieren. Die Hypothekenzahlungen der Familien gehen in einen Fonds, aus dem Gelder in den Bau weiterer Häuser fließen.
Auf diese Weise hat Habitat weltweit bereits mehr als 150.000 Wohnungen gebaut. Über 750.000 mittellose Menschen haben heute dank der Organisation ein festes Dach über dem Kopf. Der amerikanische Organisationsgründer Millhard Fuller kam von ganz unten, gründete eine Marketingfirma und wurde bereits mit 29 Jahren Millionär. Dann der Sinneswechsel: Fuller verkaufte seinen persönlichen Besitz und entschied, seine Arbeit in Zukunft in den Dienst benachteiligter Menschen zu stellen. 1976 gründete er Habitat for Humanity.
Dabei hilft die Organisation nur solchen Familien, die bereit sind, selber etwas zu tun. Zusätzlich zu ihren monatlichen Hypothekenzahlungen müssen sie „sweat equity“ (Schweiß-Kapital) investieren: Arbeitszeit, die sie in den Bau der eigenen vier Wände oder der Wohnungen anderer Habitat-Familien stecken. Bei einem Ehepaar mit Kindern sind 600 Stunden abzuarbeiten, bei einem allein erziehenden Elternteil 300. Die Idee dahinter: Die Eigeninitiative senkt die Baukosten, während die Identifikation mit der eigenen Wohnung wächst.
Carmen Rosario hat bereits mehr als 100 Stunden auf ihrem persönlichen Arbeitszeitkonto. „Ich habe dabei wahnsinnig viel gelernt“, sagt sie und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Heute Morgen hat sie in ihrer zukünftigen Habitat-Wohnung bereits Fliesen im Badezimmer verfugt, jetzt streicht sie die Zimmerwände. Ein paar ihrer zukünftigen Nachbarn helfen ihr. „So werden wir zu Freunden, bevor wir überhaupt einziehen“, sagt Carmen Rosario. Zum Beispiel ihre zukünftige Nachbarin, die allein erziehende Tanisha Perry: 52 Dollar Miete zahlte sie vor neun Jahren noch für ihre winzige Zweizimmerwohnung, heute sind 650 Dollar fällig. Das ist zuviel für die 30-Jährige. Ihre Suche nach einer größeren Wohnung zum gleichen Preis führte zu nichts. Dann hörte sie von Habitat.
Die Organisation wählt die Familien sorgfältig aus. Der Andrang ist groß: Vom staatlichen Sozialbau können sich Familien in New York normalerweise wenig erhoffen. 140.000 Menschen warten auf eine Sozialwohnung, in der Regel mindestens acht Jahre. Mehr als 38.000 Menschen sind in New York obdachlos, darunter 8200 Familien mit rund 17.000 Kindern. Die Rate überbelegter Wohnungen – im Schnitt leben 1,5 Menschen in jedem Zimmer – liegt in New York mehr als sechs Mal über dem nationalen Durchschnitt. Fast jeder vierte Mieter in New York gibt mehr als die Hälfte seines Einkommens für Miete und Nebenkosten aus. 90 Prozent von ihnen zählen zu den Geringverdienern in der Stadt, über 60 Prozent leben unterhalb der Armutsgrenze.
Wer bei Habitat eine Chance haben will, muss in einer unterdurchschnittlichen Wohnsituation leben: Dazu zählt, wenn viele Menschen auf zu wenig Raum leben oder die Wohnung von Insekten befallen ist. Ganz mittellos dürfen die Kandidaten allerdings nicht sein. Habitat verschenkt seine Wohnungen nicht, sondern wählt nur Bewerber aus, deren Einkommen bei 55 bis 80 Prozent des Durchschnitts in der Region liegt – in Manhattan wären das für eine zweiköpfige Familie beispielsweise zwischen 25.000 und 40.000 US-Dollar – zu wenig, um in der Stadt auf dem privaten Wohnungsmarkt eine akzeptable Mietwohnung zu finden oder sich ein Darlehen für den eigenen Hausbau aufnehmen zu können.
Einsatz der Freiwilligen
Zwischen 400 und 600 Dollar müssen Carmen Rosario und ihre zukünftigen Nachbarn voraussichtlich im Monat zahlen, abhängig von der Fläche ihrer Wohnung, die jeweils etwa zwischen 50 und knapp 100 Quadratmeter groß ist. Das Habitat-Haus liegt in einer ruhigen Seitenstraße in einem der besseren Teile Harlems. Gegenüber ist eine Kirche, ein paar Meter weiter eine Schule. Für einen Dollar kaufte Habitat das fünfstöckige Gebäude im vergangenen Jahr von der Stadt New York. 30 Jahre lang stand es leer – zuletzt vollkommen heruntergekommen, nur noch ein Zufluchtsort für Obdachlose und streunende Katzen. Habitat ließ das verrottete Gebäude entkernen, heuerte Handwerker an, um das Dach zu erneuern sowie Rohre und die Elektrik neu zu verlegen. Den Rest machen die Habitat-Familien und Freiwillige, die jeweils ein paar Tage auf der Baustelle mithelfen. Zum Beispiel David Solomon. Normalerweise reist der 29-jährige Vermögensverwalter der Investmentbank Goldman-Sachs durch die USA und besucht Kunden. In der vergangenen Woche war er in Florida, in den kommenden Tagen wird er durch den US-Bundesstaat South Carolina reisen. Heute verlegt er jedoch Parkett. Einen Tag im Jahr widmen Goldman-Sachs-Mitarbeiter einer wohltätigen Organisation, so will es ihr Arbeitgeber. „Eine lehrreiche Erfahrung“, sagt Solomon. Er treffe Leute, denen er sonst niemals begegnet wäre und erfahre etwas über Lebensumstände, die ihm ziemlich fremd seien. „Das schafft mehr Verständnis füreinander.“ Ein Stockwerk tiefer weißeln die beiden High-School-Teenagerinnen Debbie Kim und Sarah Beilan Wände. 40 Stunden Sozialarbeit sieht der Lehrplan ihrer High School vor, die beiden 17-Jährigen entschieden sich, bei Habitat zu arbeiten. „Ich liebe es, Sachen zu bauen“, sagt Sarah Beilan. „Und wenn ich damit jemandem helfen kann: noch besser.“
Tausende Freiwillige bauen jedes Jahr ehrenamtlich auf Habitat-Baustellen mit. Allein in New York waren es im vergangenen Jahr mehr als 10.000. Auch Politiker helfen mit: Der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter greift bereits seit 1984 für Habitat zu Pinsel und Schraubenzieher, genauso wie seit einigen Jahren Bill Clinton. Tausende Amerikaner helfen dabei nicht nur bei Habitat-Projekten in der eigenen Stadt, sondern reisen um die ganze Welt, um auf Baustellen der Organisation zu arbeiten. In rund 100 Ländern ist Habitat inzwischen aktiv – und baut dabei Häuser auf den tropischen Inseln der Philippinen oder mitten in den Gebirgen Perus. Gebaut wird dabei in der Regel mit regional leicht erhältlichen, preiswerten Materialien: In vielen afrikanischen Ländern etwa mit gebrannten Tonbacksteinen und Zement, Häuser in Lateinamerika sind oft aus Lehmziegeln und haben Metalldächer. Habitat-Gebäude in der Pazifik-Region basieren meist auf Holzrahmen und stehen auf Pfählen.
„Global Village“: Armut zum Anfassen
Damit die Amerikaner wissen, wie das Leben außerhalb ihres Landes aussieht, haben die Habitat-Leute 2003 in der Nähe der Organisationszentrale im US-Bundesstaat Georgia das „Global Village“ eröffnet, den ersten Slum-Freizeitpark der Welt. Ein Themenpark für begüterte Amerikaner, die sich die Augen reiben über Hütten aus Wellblech und Wohlstandsmüll, in denen nicht mal ihre Stereoanlage Platz finden würde. „Das Ziel des Parks ist es, die Realität der Armut erfahrbar zu machen“, sagt Habitat-Gründer Millhard Fuller. Und so zahlen Besucher Eintritt, um sich um einen Wasserbottich zu hocken und dreckige T-Shirts zu waschen: Armut zum Mitmachen.
Die New Yorkerin Carmen Rosario hat auch schon von dem Park gehört. „Das ist sicherlich nützlich, um eine Idee vom Leben in Armut zu bekommen“, sagt sie. Doch dann scheint es, als ob sie den nächsten Satz verschluckt. Vielleicht denkt sie an die Angst, die sie überfällt, wenn wieder mal Schüsse fallen. Die werden viele Amerikaner auch nach ihrem Besuch des „Global Village“ nicht verstehen können.
Kerstin Friemel
MieterMagazin 4/05
Bezahlbarer Wohnraum für finanziell Schwache: Habitat-Baustelle in Harlem/New York
alle Fotos: Kerstin Friemel
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Mit 29 kam der Sinneswandel: der Habitat-Gründer Millhard Fuller
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03.08.2013