5500 Studenten und Forscher aus 138 Ländern, untergebracht in 37 Häusern mit landestypischen baulichen Details, allesamt eingebettet in einer Parkanlage von 34 Hektar – die „Cité Universitaire“ im Süden von Paris versucht seit ihrer Gründung nach dem Ersten Weltkrieg einem Ideal zu folgen: dem friedvollen Miteinander der Völker. In diesem Jahr wurde diese weltweit wohl einmalige Studentenstadt 80 Jahre alt.
Das Zimmer von Svetoslaw Petroff im ersten Stock des Maison de la Tunisie ist vielleicht zwölf Quadratmeter groß. Die Fenster sind meistens zu, weil sie zum Boulevard hin gehen, und da sind tagsüber Bauarbeiter zugange, denn hier werden Straßenbahnschienen verlegt, und nachts rauscht der Verkehr vorbei. Ein paar abgegriffene Möbel, die Couch dient als Kleiderschrank, Lebensmittel stehen herum, an den Wänden Poster, dicht an dicht gehängt. Das Waschbecken ist durch ein Holzpaneel abgetrennt – eine Studentenbude, dominiert von einem ziemlich großen Fernseher. Svet, so nennen ihn alle, ist nicht zufrieden: „Es gibt keine Dusche im Zimmer, keine Toilette. Die einzige Küche ist im Keller – eine Küche für 200 Studenten!“ 314 Euro zahlt der 30-jährige Bulgare für das Zimmer. Er könne froh sein, es überhaupt bekommen zu haben, attestierte ihm die Cité-Verwaltung, als er wechseln wollte.
„Eine neue Heimstatt für die Kultur Frankreichs und der Menschheit, in welcher 300 Studenten aus aller Herren Länder, ausgestattet mit Büchern, Sonne und frischer Luft, in herzlichem Wettstreit und der ältesten Universität Europas die Ehre erweisend, zusammen arbeiten werden – zur harmonischen Vervollkommnung von Geist und Körper, zum Fortschritt der Wissenschaft und zur Verständigung zwischen den Völkern.“
Britische Vorbilder
Die Worte sind in den Glockenturm des Hauses eingemeißelt, das am 9. Juli 1925 eingeweiht wurde und den Grundpfeiler der Anlage bildete. Die „Fondation Emile et Louise Deutsch de la Meurthe“ bot damals 300 Zimmer, der Stil des Ensembles erinnerte nicht zufällig an britische Vorbilder: an Oxford oder Glasgow. Doch in der Cité wird nur gewohnt, nicht gelehrt!
Der Namens- und Geldgeber der Stiftung, der Elsässer Emile Deutsch de la Meurthe, hatte sein Vermögen mit Erdöl gemacht, sein Unternehmen „Jupiter“ wurde später unter anderem Namen bekannter: Shell-France.
Jeden Mittwoch Abend sammeln sich noch heute Dutzende amüsierwillige Studenten, darunter Svet, unter der Gedenktafel am Glockenturm und warten mit Engelsgeduld darauf, dass die massigen Türsteher endlich den Eingang freigeben. Niemand wirft einen Blick auf die großen Worte im gelben Backstein. Dennoch, André Honnorat, der Gründer der Cité Universitaire und damals Frankreichs Bildungsminister, hätte sicher seine Freude an dem multikulturellen Treiben vor und in dem Haus – und daran, dass es nicht ausartet. Denn pünktlich um ein Uhr nachts ist die Party vorbei. Die Cité, das machte Honnorat 1928 klar, sollte „nicht nur die materiellen Schwierigkeiten des Studentenlebens mildern, sondern vor allem die moralische Annäherung der Eliten aller Völker vorbereiten“. In geordneten Bahnen: Statt Müßiggang und Laster in den engen Gassen um die Pariser Sorbonne herum nun Disziplin, viel frische Luft und selbstverständlich Geschlechtertrennung in den Wohnhäusern und keine Fremden auf dem Gelände nach 22 Uhr.
Wie die Worte, so die Fassaden: Schon das Haupthaus, das Maison Internationale, spiegelt den Ehrgeiz und den Stolz der Cité-Gründer – auch ihre Verstiegenheit. Was als Wohnheim und kultureller Treffpunkt mit Bibliothek, Schwimmbad, Fitnessraum, Salons, Mensa und einem Theater mit 1200 Plätzen gedacht war, sieht von außen aus wie die Kopie einer französischen Schlossanlage. Liegt es daran, dass John D. Rockefeller junior den Bau finanzierte? Eine Architekturzeitschrift aus dem Jahre 1936 vermerkte jedenfalls: „Dieses ‚Fontainebleau‘ mag Amerikanern sehr französisch erscheinen. Uns erscheinen sein Geist und seine Proportionen durchaus – amerikanisch.“
In seinen Dimensionen geradezu unheimlich wirkt auch das Maison des Provinces de France: Auf sieben Etagen wird in dem dreiflügeligen Bau, geziert mit den Wappen der französischen Provinzen, gewohnt – in 293 Zimmern und 90 Zweizimmerwohnungen. Im Mai wurde das Haus – grundsaniert – wieder eröffnet. Olivier Lemaître hat hier noch vor der Renovierung gewohnt, 1996 bis 1998. „Bei uns hieß das Haus von außen ‚Versailles‘, weil es ein wenig wie ein Schloss aussah, und von innen ‚Bastille‘, denn es ähnelte einem Gefängnis mit seinen grauen Wänden, den endlosen Reihen hölzerner Türen, hinter denen man hörte, wie die anderen zur Dusche oder Toilette gingen, und ab Mitternacht, wie der Nachtwächter seine Runde machte und die Duschen abschloss.“
Hinzu kamen hygienische und Sicherheitsprobleme. Es gab zu wenig Notausgänge und zu viele Kakerlaken. Das Zimmer, erinnert sich Lemaître, heute 30 Jahre alt, kostete damals etwa 1900 Francs – 285 Euro. Ein Viertel davon übernahm die Aide sociale au logement, die Wohnungsbeihilfe. Der Preis für das 15-Quadratmeter-Zimmer war schon damals etwas zu hoch, sagt Lemaître, der dennoch so sehr an der Cité hängt, dass er Vorsitzender der „Alliance Internationale“ geworden ist, ein Verein, der die Ehemaligen zusammenbringt (www.allianceinternationale @net).
Nach der Renovierung kletterten die Mieten auf über 400 Euro, und Benoît Bardet, Leiter der Kommunikationsabteilung der Cité, muss schon die Jahr für Jahr weiter grassierende Wohnungsnot in Paris ins Feld führen, um diesen Mietpreis zu rechtfertigen. Die Zimmer, so Bardet, hätten aber jetzt Kochnische, Dusche und Hochgeschwindigkeits-Internetanschluss.
Der afrikanische Unabhängigkeitstraum
In den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts erhielten die Niederländer ihr Haus, die Kubaner, Armenier, die Kanadier, Belgier, Luxemburger, Argentinier, die Japaner, Amerikaner, Dänen und Griechen, Schweden und Spanier, das – heute denkmalgeschützte – der Schweizer Le Corbusier entwarf. Den kolonialen Geist Frankreichs verkörperten das Maison d’Indochine mit Studenten aus Südostasien sowie das Maison de la France d’Outre-Mer, das vor allem afrikanische Studenten aufnahm. Zum Beispiel Abdou Diouf, früher Präsident des Senegal. Er rechnet seine Jahre in der Cité zu den besten seines Lebens: „Unsere Zimmer waren immer überheizt. Man dachte wohl, die armen Studenten aus dem heißen Afrika würden hier vor Kälte sterben!“, so Diouf. Oder Henri Lopes, später Botschafter im Kongo. „Afrika war damals noch nicht unabhängig“, sagt Lopes, „dies auch nur zu denken, war schon ein Delikt. In der Cité wurde unser Traum einer eigenen Flagge geboren. Hier versammelten wir uns, um die Subversion nach Afrika zu tragen.“
Jedes Land soll für den Bau und die Unterhaltung seines Hauses aufkommen. Um den Austausch zwischen den Bewohnern zu fördern, verhindert eine Quote, dass die Gastländer mehr als 50 Prozent der Zimmer mit eigenen Landsleuten belegen.
Auch das waren fromme Wünsche der Gründerjahre, wie sich später zeigen wird. Viele Länder möchten oder können sich die Finanzierung von Wohnheimen auf französischem Boden nicht mehr leisten, der Gastgeber muss einspringen. Andere nehmen die Quote nicht ernst – und machen die Häuser zu Trutzburgen ihrer Nationen statt zu multikulturellen Herbergen. Bestes Beispiel: eben das Tunesienhaus, in dem Svet als Bulgare ziemlich auffällt. Von den 216 Bewohnern sind 95 Prozent Tunesier. Austausch der Kulturen? Fehlanzeige.
Ganz anders dagegen ist es dem Franzosen Olivier Lemaître im Maison des Provinces de France ergangen: „Es war faszinierend, hier inmitten von Ärzten, Forschern und Künstlern aus 130 Nationen zu leben. Von jedem konnte ich etwas lernen. Für mich war die Universität – in ihrem universellen Sinn – mehr in der Cité beheimatet als im Quartier Latin.“
Die Liste ihrer prominenten Bewohner ist lang. Jean-Paul Sartre, Karl-Heinz Stockhausen, Tahar Ben Jelloun, Peter Scholl-Latour, Léopold Sédar Senghor, Antje Vollmer, Constantin Costa-Gavras, Roland Dumas – Literaten, Künstler, Politiker wurden von der Cité geprägt und prägten sie mit. Es sollte allerdings lange dauern, bis Deutschland endlich Aufnahme in den Club der friedliebenden Völker findet. 1937 hatte Albert Speer das Areal der Cité besichtigt. Doch André Honnorat sperrte sich gegen ein von Nationalsozialisten gebautes deutsches Haus.
Am 23. November 1956 wurde dann das Maison de l’Allemagne eingeweiht – die erste deutsche Vertretung Deutschlands in Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg. In der Nachbarschaft der Kambodschaner auf der einen, der Iraner auf der anderen Seite, bekam das Haus 1967 einen poetischeren Namen: Maison Heinrich Heine.
Revolutionäre Gärprozesse
Da war die Cité schon zum weltpolitischen Barometer geworden. Unabhängigkeitsbestrebungen der französischen Kolonien Marokko und Tunesien begleiteten Hungerstreiks in den entsprechenden Häusern und im iranischen Haus politisierten Studenten – unter ihnen der Schriftsteller Alain Robbe-Grillet – mit den gleichen Mitteln gegen das Regime von Schah Reza Pahlevi. Das spanische Haus wurde wiederholt besetzt – eine Aktion gegen die Franco-Regierung in Madrid. Der Bürgerkrieg im Libanon fand sein Echo im Maison du Liban. Im deutschen Haus haben sich die Studenten im Zuge der 68er-Revolte zahlreiche Bürgerrechte erkämpft. Damals in vorderster Linie als Bewohner und Studentenvertreter: Otmar Seul, heute Jura-Professor an der Universität Nanterre bei Paris. Seuls Zimmer lag gegenüber dem Haus der Kambodschaner. Dann – es war die Nacht auf den 8. Januar 1973 – wurde geschossen.“Es war schon seit längerem bekannt, dass sich der Bürgerkrieg in Kambodscha dort fortsetzt“, erinnert sich Seul, „und dann gab es einen Toten und sieben Verletzte.“
Die Polizei räumte das Kambodscha-Haus am frühen Morgen – Ende einer Eskalation, an der sicherlich ein kambodschanischer Student namens Pol Pot nicht ganz unschuldig war. Er studierte damals in Paris, wohnte im Quartier Latin und kam gerne in die Cité Universitaire, um mit Gesinnungsgenossen zu politisieren. Das Kambodscha-Haus stand nach der Räumung über ein Vierteljahrhundert lang leer – geplündert, ein Geisterhaus, ein Tatort, Symbol der gescheiterten Utopie vom friedvollen Miteinander und der Hilflosigkeit, darauf zu reagieren.
Doch zur Geschichte der Cité gehören auch andere, vorzeigbarere Biografien. Wie die von Léopold Senghor, Student, erster Präsident des unabhängigen Senegal und bis zu seinem Tod im Jahre 2001 bedeutender Dichter mit einem Platz in der Académie Française.
Was ist geblieben von den revolutionären Gärprozessen auf der Suche nach einer anderen, womöglich besseren Welt? „Bedroht von der Banalisierung ihres Renommées in einer ohnehin globalisierten Welt steht die Cité vor einer schwierigen Herausforderung“, schreibt Paola Rebughini in ihrer Diplomarbeit über die Cité Universitaire. Die Cité müsse ihre Rolle und ihre Identität neu erfinden.
Tatsächlich wird die Cité unkenntlicher – durch ein buchstäblich einschneidendes Ereignis: Seit 1973 trennt die sechsspurige Ringautobahn Paris von seinen Vorstädten – und sie trennt das Areal der Cité in zwei Teile: Die Kirche Sacré-Coeur des Etudiants und das Haus der Ingenieursschüler, das Maison Arts et Métiers, sind nur über eine Fußgängerbrücke über die Autobahn zu erreichen. Geschätzte 1,2 Millionen Fahrzeuge täglich brausen hier vorbei. Da ist es fast ein Hohn, wenn Öffentlichkeitsarbeiter Bardet die ganze Cité mit schicken bunten Schildern pflastert, auf denen Richtungsangaben stehen und viele Richtlinien. Eine Tafel ist am Fuß der Brücke über die Autobahn zu finden: „Von 7 bis 22 Uhr ist jede Ruhestörung zu vermeiden“, heißt es da. Es ist schon eine Leistung, das 24-stündige Dröhnen des Verkehrs noch übertönen zu wollen.
Alexander Musik
MieterMagazin 5/05
Cité-Gründer Honnorat
alle Fotos: Alexander Musik/
Ann-Catherine Cavalli
Maison Internationale: das „Fontainebleau“ von innen
Französische oder amerikanische Anklänge? Das Herzstück der Cité: Maison Internationale
Maison Heinrich Heine: Das deutsche Haus entstand erst 1956
Einschneidendes Ereignis: Seit 1973 teilt die Stadtautobahn das Cité-Gelände
Bürgerkrieg in Studentenzimmern: 1973 wurde im Kambodscha-Haus geschossen
03.08.2013