Der Soziale Wohnungsbau ist zwar nur eine Finanzierungsform, er wird aber häufig auch als Bautyp betrachtet. So verbindet man mit dem Begriff zuallererst die riesigen Großsiedlungen, die in den 60er und 70er Jahren an den Rand nahezu aller westdeutschen Großstädte gebaut wurden. Landauf, landab entstanden Trabantenstädte wie Neuperlach in München, Langwasser in Nürnberg, die Nordweststadt in Frankfurt am Main, Chorweiler in Köln, die Neue Vahr in Bremen, Mümmelmannsberg in Hamburg oder die Gropiusstadt, das Märkische Viertel und das Falkenhagener Feld in West-Berlin.
Entgegen dem Ziel der Stadtplaner kam in den neuen Großsiedlungen kein städtisches Leben auf. Obwohl diese bis zu 50.000 Einwohner hatten, blieben sie meist reine Schlafstädte. Im Sozialen Wohnungsbau war eine strenge Trennung von Wohnen und Arbeiten vorgeschrieben. „In der Regel soll Wohnraum nur in Gebäuden gefördert werden, die ausschließlich Wohnzwecken dienen“, heißt es zum Beispiel in den Berliner Wohnungsbauförderungsbestimmungen von 1977. Die durchgeplanten Siedlungen – hier Wohnen, da Einkaufen, dort Erholen und woanders Arbeiten – erzeugten Langeweile und Eintönigkeit. Die Idee, ihnen städtisches Leben einzuhauchen, indem man viele Menschen auf kleinem Raum in Hochhäusern ansiedelt – Motto: „Urbanität durch Dichte“ – ist nicht aufgegangen. Zudem war die Verkehrsanbindung an die Innenstadt oft so schlecht, dass sich die Menschen „abgehängt“ fühlten.
Der Psychologe Alexander Mitscherlich schrieb 1965 in seiner Streitschrift „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“: „Das Wort ‚sozial‘ auf den subventionierten Wohnungsbau nach 1945 anzuwenden, kann nur der Heuchelei erlaubt sein. Er förderte die Ausgliederung des Bürgers aus den städtischen Traditionen, er macht asozial.“
Auch bei der Planung der Wohnungen bewegten sich die Architekten des Sozialen Wohnungsbaus in einem engen Korsett. Die Förderungsbestimmungen regelten ziemlich genau, wie die Wohnungen aussehen mussten. Wohnraum, „der nach Grundriss und Gestaltung von den üblichen Formen so weit abweicht, dass die Möglichkeit seiner Veräußerung dadurch wesentlich beeinträchtigt wird“, war grundsätzlich von der Förderung ausgeschlossen. Experimente waren also nicht gefragt. Bei der Internationalen Bauausstellung 1957 hatte man im Hansaviertel noch alle Augen zugedrückt, weil man sich individuelle und innovative Bauten von den seinerzeitigen Stararchitekten erhoffte. So konnten hier Wohnungen mit einem zentralen „Allraum“ oder mit halbhoch versetzten Ebenen als Sozialwohnungen entstehen.
Anders jedoch die übliche Sozialwohnungs-Architektur: Für die Wohnfläche wurde je nach Anzahl der Zimmer eine Mindest- und Höchst-Quadratmeterzahl festgelegt. Jede Wohnung musste ein mindestens 20 Quadratmeter großes „Zimmer zur Erfüllung allgemeiner Wohnzwecke“ haben. Vom Volumen der Küchenschränke über die Tiefe eines Blumenfensters und die Beleuchtung des Klingeltableaus bis zur Breite der Buddelkasteneinfassung auf dem Spielplatz wurde in den Richtlinien alles geregelt. In ihren Entwürfen mussten die Architekten sogar die gedachte Möblierung der Wohnungen einzeichnen. Die detaillierten Vorschriften ließen zwar auch Ausnahmen zu, sie wurden von den Bauträgern und Architekten jedoch kaum genutzt.
Individualität konnten die Bewohner in den Normgrundrissen kaum entfalten. Weil die üblichen Möbel gar nicht anders passten, haben die meisten Mieter ihre Wohnung exakt so eingerichtet, wie es im Architektenentwurf eingezeichnet war.
Dass es auch anders geht, zeigte die Internationale Bauausstellung 1984/87 (IBA). In der Südlichen Friedrichstadt wurden zu den gleichen Förderbedingungen architektonisch anspruchsvolle Sozialwohnanlagen gebaut. „Das entstehende vielfältige Wohnungsangebot in diesem Stadtteil widerlegt die These, dass die Banalität vieler Großprojekte der Vergangenheit eine notwendige Folge der Erstellungsbedingungen von öffentlich gefördertem Wohnungsbau gewesen sei“, resümierte der Stadtplaner Hildebrand Machleidt am Ende der IBA.
Das IBA-Prinzip der „Kritischen Rekonstruktion“ wurde nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 beibehalten. Der Soziale Wohnungsbau wurde in den 90er Jahren weitgehend in die bestehende Stadtstruktur eingefügt. Größere zusammenhängende Gebiete entstanden nur noch vereinzelt, etwa in der Wasserstadt Oberhavel oder in Karow-Nord.
Vom Glück zur Qual – als das Image kippte
In den ersten zwei Jahrzehnten des Sozialwohnungsbaus schätzte sich noch glücklich, wer in eine solche Wohnung einziehen konnte. Zentralheizung, ein gefliestes Bad mit warmem Wasser „aus der Wand“, Aufzug und Müllschlucker waren Annehmlichkeiten, die man in den Berliner Altbauten kaum kannte. Die Stimmung kippte etwa Ende der 60er Jahre, als immer mehr Abrissmieter aus den Gebieten der Kahlschlagsanierung in die Großsiedlungen umgesetzt wurden. Sie kamen oft nicht freiwillig und empfanden den Umzug in den Neubau nicht mehr als gesellschaftlichen Aufstieg. Dazu schürten unerwartet starke Mieterhöhungen Unmut. „Wohnste sozial, haste die Qual“, lautete ein Slogan, der um 1970 im Märkischen Viertel aufkam. Reißerische Presseberichte über das „Leben wie im Ameisenhaufen“ und das „Elend in den Betonsilos“ brachten den Sozialen Wohnungsbau weiter in Verruf. Wer konnte, zog weg. Langsam bildete sich so tatsächlich eine Arme-Leute-Gegend heraus. Die meisten Großsiedlungen sind heute Fördergebiete des Programms „Soziale Stadt“. Mit einem Quartiersmanagement, kleinen baulichen Aufwertungen und kulturellen Aktivitäten sollen die Nachbarschaften gestärkt und das Image der Großsiedlungen verbessert werden.
Quartiersmanagements in Sozialwohngebieten (Auswahl):
www.falkenhagener-feld-west.de
www.brunnenviertel-brunnenstrasse.de
www.quartiersmanagement-wassertorplatz.de
MieterMagazin 1+2/13
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Kaum Abweichung von der Norm-Architektur des Sozialen Wohnungsbaus (oben: Gropiusstadt, Mitte: 57er IBA-Sozialbau im Hansaviertel, rechts: 87er IBA-Bau in Kreuzberg)
Fotos: Paul Glaser
Der Psychologe Mitscherlich geißelte den Sozialen Wohnungsbau nach 1945 als „asozial“
Foto: Paul Glaser
In die Wohnungsgrundrisse waren selbst die Möbelstellplätze eingezeichnet
Buchtipp:
Betroffene des Märkischen Viertels: Wohnste sozial, haste die Qual, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1975, 222 Seiten, antiquarisch erhältlich
17.08.2013