Wer in Neukölln vor der Tür der „Teupe“ steht, besitzt oft nicht mehr als das, was er in seinem Koffer mit sich trägt, hat oft eine Trennung hinter sich oder keinen Job mehr, in vielen Fällen ein Alkoholproblem oder er ist psychisch krank. Die Teupe ist ein Übergangswohnheim. Wer dort ankommt, ist wohnungslos.
„Wir haben einen drückenden Anstieg der Wohnungslosen in Berlin“, sagt Robert Veltmann, Geschäftsführer der großen Berliner Wohnungsnotfallhilfe „Gebewo – Soziale Dienste“, zu dessen Einrichtungen auch die Teupe gehört. Seit 2008 sei die Zahl der Menschen ohne festen Wohnsitz um ein Drittel gestiegen. Und: „Die Situation verschärft sich seit drei Jahren zunehmend“, so Veltmann. Auf 10.000 bis 11.000 schätzt er momentan deren Zahl in der Stadt. Das Land Berlin führt keine offizielle Statistik, aber Veltmann rechnet zusammen: Etwa 6500 bis 7000 Menschen leben aktuell in Einrichtungen der Wohnungsnothilfen von freien Trägern. Rund 3500 weitere sind in betreuten Einrichtungen untergebracht. Gut 500 Menschen, so vermutet er, trifft es richtig hart: Sie leben auf der Straße.
Seit Jahren, sagt der Gebewo-Chef, beklage er beim Senat die Zuspitzung auf dem Berliner Wohnungsmarkt, die er als Hauptursache sieht. Doch weil sich nichts zum Guten wendet, findet Veltmann nun scharfe Worte: „Der Senat hat jahrelang verschlafen, sich mit der Entwicklung zu beschäftigen.“ Dass in den Berliner Notunterkünften fast Ausnahmezustand herrscht, liegt seiner Ansicht nach weniger daran, dass immer mehr Leute wohnungslos werden, der Grund sei vielmehr, dass die Wohnungslosen immer schwerer auf den Wohnungsmarkt zurückfinden würden. Wer nimmt Mieter auf, die keine Mietschuldenfreiheitsbescheinigung haben, aber einen negativen Schufa-Eintrag, oder die ihr Einkommen vom Jobcenter beziehen?
Sabina B. hat zwar weder einen Eintrag bei der Schufa noch Mietschulden. Aber sie hat auch kein Glück. Seit Juni vergangenen Jahres hat die 28-Jährige Unterkunft in der Teupe gefunden. Sie bewohnt dort ein Zimmer mit Tisch, Schrank, Bett und einem Kinderbett für ihre zweijährige Tochter. Die alleinerziehende, arbeitslose Mutter zog vor zwei Jahren aus der Wohnung ihres damaligen Freundes aus. 18 Monate kam sie bei Bekannten unter. Dann hörte sie von einer Freundin, dass es Unterkünfte für Wohnungslose gibt. Eine Woche später bezog sie in der Teupe ein Zimmer. Dass sie heute immer noch auf der Suche nach einer Wohnung sein würde, das ahnte sie damals nicht. 50 bis 60 Wohnungen hat sie schon angeschaut. Die Hoffnung, eine eigene Bleibe zu finden, schwindet zusehends.
Mieten knapp über dem Hartz-IV-Satz
„Der Wohnungsmarkt ist für Familien besonders schwierig“, stellt der Teupe-Leiter Marcel Deck fest. Erst kürzlich, erzählt er, habe eine achtköpfige Familie, die fast zwei Jahre in der Teupe gelebt hatte, eine Wohnung gefunden. Sie wohnt jetzt in einer Dreizimmerwohnung. Besser man rückt zusammen, als noch länger zu suchen.
Von einem Umzug in ein eigenes Zuhause muss Sabina B. noch träumen. Dabei stand sie schon kurz davor. Vor gut zwei Monaten fand sie über einen Bekannten in Neukölln eine Zweizimmerwohnung. Miete: 484 Euro. Als sie in einem Gespräch mit der Hausverwaltung ihr Interesse bekundete, lag die Miete plötzlich bei 504 Euro: 2,40 Euro über dem Betrag, den das Jobcenter für eine Wohnung in ihrem Fall übernehmen würde. Für Wohnungslose liegt dieser Satz zehn Prozent über dem normalen. Aber dennoch: Es war zu wenig. „Es ist zu beobachten, dass Wohnungsbaugesellschaften gerne die Wohnungen minimal über dem Satz anbieten, den das Jobcenter trägt“, kommentiert die Betreuerin von Sabina B. diese Geschichte. Die junge Mutter gab dennoch die Hoffnung nicht auf. Sie reichte beim Jobcenter den Antrag ein, die zusätzlichen 2,40 Euro aus eigener Tasche zu zahlen. Fehlanzeige: Antrag abgelehnt. Wegen 2,40 Euro.
Die Finanzierung der Wohnungsnotfallhilfe liegt bei den einzelnen Bezirken, genauso wie die politische Verantwortung dafür, dass jeder Wohnungslose eine Notunterkunft bekommt. Über ein zentrales Meldesystem der Berliner Unterbringungsleitstelle (BUL) wird ein freier Platz gesucht, sobald ein Wohnungsloser sich beim Bezirksamt meldet. Aktuell gibt es jeden Tag zwischen 10 bis 35 freie Plätze. „… viel zu wenig“, sagt Stephan Djacenko von der BUL. „Um zehn Uhr morgens sind bereits alle weg.“
„Die Situation ist schwierig“, räumt auch die Sprecherin der Senatsverwaltung für Soziales, Franciska Obermeyer, ein. Ein konkretes Konzept, wie der hohen Zahl an Wohnungslosen künftig abgeholfen werden kann, gibt es dort nicht. Aber die Verantwortung für die Wohnungslosen liege ja auch bei den einzelnen Bezirken, so Obermeyer. Die Beteiligten werfen sich die Hilflosigkeit wie einen Ball gegenseitig zu. „Das ist wie ein Ping-Pong-Spiel zwischen der Senatsverwaltung und der Wohlfahrtspflege“, sagt Gebewo-Chef Veltmann. „Wir sagen: Wir haben hier soundsoviele neue Leute, die finden keine Wohnung. Was sollen wir tun? Dann kommt kurze Zeit später zurück: Mietet für diese Leute eine zusätzliche Wohnung an. Nur: wo und wie?“ Denn nicht nur die Wohnungslosen finden nur noch schwer eine Unterkunft, auch die Nothilfeeinrichtungen selbst.
Unbekannte Zahl verdeckt Wohnungsloser
Dabei haben die Nothilfeeinrichtungen Glück, dass nicht alle Wohnungslosen in Berlin bei ihnen Schlange stehen. Eine große unbekannte Zahl schlüpft bei Freunden, Bekannten, der Familie oder sonstwo unter. Beispielsweise in einem Gartenhäuschen. Wie Paula Ankla Steffensen. Die Spandauerin war über Monate hinweg eine von vielen sogenannten verdeckt Wohnungslosen, also ohne festen Wohnsitz, nur dass keine Behörde davon wusste. Wie viele es von ihnen in Berlin gibt, weiß niemand. Für Frauen gilt diese Situation als besonders heikel. „Sie stecken oft in Abhängigkeitsverhältnissen“, sagt Gebewo-Chef Veltmann.
Paula Ankla Steffensen steckte nicht in einem Abhängigkeitsverhältnis, aber dennoch ziemlich in der Klemme, als sie im Mai 2011 ihre Wohnung in einem Sozialen Wohnungsbau verlor. Sie ist eine engagierte und rebellische Rentnerin, die damals zusammen mit zwei weiteren Mietern gegen die Betriebskostenabrechnung klagte. Sie bekam Recht. Kurz darauf folgte eine 35-prozentige Mieterhöhung von ihrem Vermieter, genau wie bei den beiden anderen klagenden Mietern. Weil der Berliner Senat bestimmten Gebäuden des Sozialen Wohnungsbaus eine Anschlussförderung versagte, darf der Vermieter eine wesentlich höhere Miete als bisher einfordern. Diesen Umstand machen sich manche Vermieter gegen unbotmäßige Bewohner zunutze. Dieses Mal half der 85-Jährigen keine Rebellion, sie kündigte umgehend. „Hätte ich dort weiter gewohnt, wäre ich in die Altersarmut abgerutscht“, sagt sie.
Ein Fall, wie ihn nur Berlin kennt: Horrende Mieterhöhungen im Sozialen Wohnungsbau, die die Mieter zu schnellen Kündigungen treiben. Doch auch wer in einem frisch sanierten Gebäude wohnt, den kann die neue Miethöhe ebenfalls schnell überfordern. Innerhalb weniger Wochen muss eine neue Wohnung her.
Zwei Monate lang hatte Steffensen Zeit, sich eine neue Bleibe zu suchen. Sie fand auch eine, doch einen Tag, bevor sie ausziehen musste, platzte der neue Mietvertrag. Über Nacht musste sie improvisieren: Anstatt die Möbel ins neue Zuhause zu schaffen, stapelten sie sie in einem Container. Und dann zog sie in ihr Schrebergartenhaus. „Das war eine schlimme Zeit“, blickt sie heute zurück. Es gab kein Warmwasser, abends wurde es kühl im Häuschen. Im November erst, fünf Monate später, hatte sie endlich ein neues Zuhause.
Wiebke Schönherr
Wer seine Wohnung verliert, landet nicht zwangsläufig auf der Straße. Er kann sich beim Bezirksamt für einen Platz in einem Heim für Wohnungslose melden. Doch nicht jeder kommt dort unter: „Viele Menschen sind so hilflos oder krank, dass sie die Wege in die Hilfesysteme nicht schaffen“, sagt Dieter Puhl von der Stadtmission. Dann werden sie obdachlos. Puhl schätzt ihre aktuelle Zahl auf gut 1000, doch er betont: „Genaue Zahlen kennt niemand.“ Viele seien alkoholabhängig oder psychisch krank, oftmals beides. „Viele haben nicht mal mehr einen Ausweis“, sagt Puhl. Doch ohne Pass keine Aufnahme in einem Wohnungslosenheim. Für den Winter gibt es die vom Senat eingerichtete Berliner Kältehilfe, sie bietet unter anderem unbürokratisch Notübernachtungsplätze an. Momentan sind es 420. Im vergangenen Jahr waren es 480. Für mehr Plätze konnten dieses Jahr keine Räume gefunden werden.
ws
MieterMagazin 3/13
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alle Fotos: Daniel Sebastian Schaub
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18.08.2013