Im Wohnungsneubau sieht Berlins Stadtentwicklungssenator Michael Müller die zentrale Lösung für die Probleme auf dem Berliner Wohnungsmarkt. Unstrittig ist: Um den Wohnungsmarkt zu entspannen und Versorgungsengpässe zu beheben, braucht Berlin mehr Wohnungen, und zwar möglichst schnell. Michael Müller ließ es seit seinem Amtsantritt an Ankündigungen, wie viele Wohnungen in welchem Jahr gebaut werden sollen, nicht mangeln. Doch wie dieser Wohnungsbau finanziert werden soll, damit er auch für die Berliner bezahlbar ist, darauf gibt es noch immer keine Antwort. Reichlich Streitpotenzial steckt auch in der Frage, an welchen Orten die vielen Wohnungen entstehen sollen. Ebenfalls ungeklärt ist, wie man bauen will: hoch oder flach, kleckern oder klotzen? Der Berliner Mieterverein warnt, im Neubau ein Allheilmittel zu sehen und dabei andere wichtige wohnungspolitische Weichenstellungen zu vernachlässigen.
„Berlin braucht neue Wohnungen“, verkündete Stadtentwicklungssenator Michael Müller (SPD) wieder einmal Mitte März beim feierlichen ersten Spatenstich für den Bau eines Wohnhauses in Marienfelde. Auch wenn die Wohnungsbaugesellschaft Degewo in der Waldsassener Straße nur 52 Wohnungen errichtet, ist der Bau für den Senat ein Meilenstein, denn es ist seit zehn Jahren das erste Mal, dass ein landeseigenes Wohnungsunternehmen neue Mietwohnungen baut. Dabei soll es nicht bleiben. „Wir planen mittelfristig den Neubau von rund 1500 Wohnungen in verschiedenen Quartieren und haben uns um weitere Standorte am Tempelhofer Feld beworben“, gab Degewo-Vorstand Frank Bielka bekannt.
Im Neubau an der Waldsassener Straße werden die Nettokaltmieten zwischen 7,00 Euro und 9,50 Euro pro Quadratmeter liegen, im Schnitt bei 8,50 Euro. Niedrigere Mieten, die sich auch Geringverdiener leisten können, wären nur mit einer öffentlichen Förderung möglich. Wie ein solches Förderprogramm finanziert werden soll, hat der Senat trotz langer Diskussionen noch immer nicht entschieden. Und ob die ins Auge gefassten Baugrundstücke wie das Tempelhofer Feld tatsächlich für eine schnelle Bebauung verfügbar sind, steht in vielen Fällen auch noch nicht fest.
Selbst wenn die weiteren fünf städtischen Wohnungsbaugesellschaften dem Beispiel der Degewo mit Neubauprojekten in ähnlicher Größenordnung folgen, reicht das aber längst nicht aus, um den riesigen Bedarf zu decken.
Wohnungsnot inzwischen unumstritten
Nachdem die Warnungen von Experten, dass zu wenig neu gebaut wird, in den letzten Jahren wirkungslos verhallt sind, wird heute von niemandem mehr bezweifelt, dass Berlin neue Wohnungen braucht. Die letzte Bevölkerungsprognose des Amtes für Statistik Berlin-Brandenburg hat das eindrucksvoll unterstrichen: Bis zum Jahr 2030 wird Berlin um rund 250 000 Einwohner wachsen. In der Hauptstadt werden dann 3,75 Millionen Menschen leben.
Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung erarbeitet deshalb zurzeit einen neuen Stadtentwicklungsplan (StEP) Wohnen, mit dem Flächen für 122.000 neue Wohnungen bis 2025 sichergestellt werden sollen. Bis 2020 sollen demnach jährlich 11.500 Wohnungen entstehen, anschließend 6000 Wohnungen pro Jahr. Auch die Investitionsbank Berlin beziffert in ihrem jüngsten Wohnungsmarktbericht den jährlichen Bedarf an neuen Wohnungen auf 10.000 bis 12.000. Doch trotz anziehender Baukonjunktur reicht die Zahl der tatsächlich errichteten Wohnungen bei Weitem noch nicht an diese Zahlen heran. 2011 sind knapp 4500 Wohnungen fertiggestellt worden. Für 2012 liegen dem Amt für Statistik noch keine Zahlen vor. Die Zahl der Baugenehmigungen ist 2012 immerhin auf etwa 7500 Wohnungen angestiegen – was jedoch noch längst nicht bedeutet, dass diese Wohnungen auch tatsächlich gebaut werden.
Weil aber gleichzeitig Wohnungen durch Zusammenlegungen, Zweckentfremdungen und Abrisse vom Markt verschwinden, bleibt unter dem Strich nur ein geringer Zuwachs. „Das eigentliche Problem ist aber, dass das neugeschaffene Angebot der Mehrheit der Wohnungssuchenden nichts nützt, da vorwiegend Eigentumswohnungen oder hochpreisige Mietwohnungen entstehen“, so Reiner Wild, Geschäftsführer des Berliner Mietervereins (BMV). Damit der Wohnungsneubau nicht weiterhin völlig an den Mietern mit mittleren und geringen Einkommen vorbeigeht, müsste sich der Senat also etwas einfallen lassen.
Das Problem mit dem Wohnungsneubau ist also zunächst einmal das Problem der entstehenden Mietpreise. Baufachleute schätzen, dass für neue Wohnungen eine Nettokaltmiete von mindestens 8,50 Euro pro Quadratmeter verlangt werden muss, damit sich der Bau rechnet. Um auch Menschen mit geringem Einkommen, die ja am meisten unter der Wohnungsknappheit leiden, den Bezug einer Neubauwohnung zu ermöglichen, geht kein Weg an einer öffentlichen Förderung vorbei, die die Mieten auf einen Quadratmeterpreis um die 5 Euro heruntersubventioniert. Senator Müllers Zielvorgabe ist allerdings nicht so ehrgeizig: „Wir wollen Mieten von 6,50 Euro pro Quadratmeter erzielen.“
Ein halbes Dutzend Vorschläge, wie eine geeignete Wohnungsbauförderung aussehen könnte, schwirren momentan durch den politischen Raum. Das finanzielle Desaster und die geringen sozialen Effekte der Sozialen Wohnungsbauförderung, wie sie bis 1997 in Berlin praktiziert wurde, mahnen auf jeden Fall neue Ideen an. Auf den Weg gebracht hat der Stadtentwicklungssenator aber noch nichts. Allenfalls wird die Absicht bekundet, die sogenannten Kompensationsmittel in Höhe von 31 Millionen Euro, die Berlin jährlich vom Bund für den Sozialen Wohnungsbau erhält, künftig für den Neubau einzusetzen. „Wir sind wild entschlossen, diese Gelder ab dem Doppelhaushalt 2014/2015 dann auch wirklich für den Neubau auszugeben“, kündigte Ephraim Gothe, Staatssekretär in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt, an. Doch diese Summe ist ein Tropfen auf den heißen Stein: Rund 1000 Wohnungen könnten damit pro Jahr gefördert werden.
Tropfen auf den heißen Stein
Die Berliner SPD hat vorgeschlagen, dass die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften neue Kredite in Höhe von 600 Millionen Euro aufnehmen, um neu zu bauen – was die Oppositionsparteien prompt als „Schattenhaushalt“ ablehnten. Eine Förderung durch zinsverbilligte Baukredite schlägt der Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen (BBU) vor. Der BBU, in dem vor allem die ehemals gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaften und -genossenschaften organisiert sind, will so Wohnungen mit einer Einstiegsmiete von 6,50 Euro pro Quadratmeter nettokalt bauen. Warum es dazu des ins Auge gefassten Mittels bedarf, ist aber schleierhaft: Die Zinsen sind auch am freien Kapitalmarkt auf einem historischen Tiefstand. Finanzsenator Ulrich Nußbaum hat erklärt, dass er sich unabhängig von der Art der Förderung Neubaumieten von 6,50 Euro nicht vorstellen könne. Ohne seinen Segen kann aber keine Förderung beschlossen werden. Wenn der Senat in den Beratungen für den Landeshaushalt 2014/2015 kein Förderprogramm beschließt, wird vor 2016 auch nicht mit dem Bau preiswerter Neubauwohnungen begonnen.
Eine andere Möglichkeit zur Baukostensenkung wäre, geeignete landeseigene Grundstücke verbilligt an Bauherren abzugeben. Die jahrelange Debatte um diese Neuausrichtung der Berliner Liegenschaftspolitik steht laut Gothe kurz vor einem Abschluss. „Wir wollen die Grundstücke zu einem fairen Preis beispielsweise den Genossenschaften oder den städtischen Wohnungsbaugesellschaften anbieten“, so der Staatssekretär. Auch über Erbpachtmodelle werde im Senat gesprochen. Gothe: „Der Wermutstropfen dabei ist aber, dass wir leider schon sehr, sehr viele Grundstücke verkauft haben und es mit dem, was wir noch haben, eher mager aussieht.“
Auf in die Serienproduktion
Zur Neubaubeschleunigung und -verbilligung spricht sich der Unternehmensverband BBU für den Bau neuer Großsiedlungen aus. Dabei solle „nicht mehr in Hunderter-, sondern in Tausenderschritten gedacht werden“, fordert BBU-Vorstand Maren Kern. Auch Frank Schrecker, Vorstandsvorsitzender der Wohnungsbaugenossenschaft Berolina, erklärte in einer vom RBB-„Inforadio“ organisierten Diskussionsrunde: „Wenn es nicht gelingt, wirklich in Masse vorwärts zu kommen, nicht nur Leuchttürme zu entwickeln, sondern auch in die Serienproduktion reinzugehen, dann werden wir unsere Probleme nicht lösen können.“
Der Vorteil der Idee liegt auf der Hand: Wenn man auf einer großen Fläche wie am Fließband viele gleiche Wohnungen aus einer Hand baut, sind die Kosten pro Wohnung geringer, und die Bauzeit ist kürzer. Die Nachteile des industriellen Wohnungsbaus kennt man hingegen aus den Großsiedlungen der 60er bis 80er Jahre: Bei einer Reihung des immer gleichen Gebäudetyps droht eine städtebauliche Ödnis, in der sich kein urbanes Leben einstellt. Ephraim Gothe ist deshalb von solchen Großsiedlungsplänen nicht begeistert: „Das Ziel kann aus meiner Sicht nur das gemischte, städtisch geprägte, urbane Quartier sein.
Idealtypisch ist es, wenn man es in einem größeren Quartier schafft, neben privaten Bauherren auch Baugruppen zu aktivieren, Genossenschaften und auch die städtischen Wohnungsbaugesellschaften mit ins Spiel zu bringen“, erklärte Gothe. „Dann kann es gelingen, schon über die Leute, die da bauen, eine Mischung der zukünftigen Bevölkerungsstruktur vorzuprägen.“ Der aktuelle Entwurf des StEP Wohnen erteilt deshalb Großsiedlungen und Hochhäusern eine Absage, denn man wolle „nicht heute die Leerstandsrisiken von morgen erzeugen“. In der Frage, wie man preiswert bauen kann, herrscht also zwischen Senat und den ins Auge gefassten Bauherren keine Übereinkunft.
Michael Müller wirbt aber auch auf der Immobilienmesse MIPIM in Cannes für Wohnungsbauinvestitionen in Berlin. Dort tummeln sich keine Baugruppen oder selbstorganisierte Genossenschaften, sondern vor allem internationale Großinvestoren, die sich für kleinteilige Bauprojekte kaum interessieren dürften. „Wir laden all jene ein, die in Berlin investieren wollen, insbesondere für den Wohnungsbau“, sagt Müller. Besonders das Tempelhofer Feld wurde in Cannes von ihm persönlich beworben.
Dabei ist die Frage, wo gebaut werden soll, noch ungeklärt. „Klotzt man nach alten sozialdemokratischen Rezepten, geht das auf Kosten der von der Immobilienwirtschaft als Marktindikator immer wieder beschworenen Wohnlage“, meint Reiner Wild. „Andererseits kann gerade aber in den Quartieren mit der höchsten Nachfrage der Wohnungsbestand nur minimal erhöht werden.“ Wie umgehen mit dem Widerspruch?
Statt der gefragten innerstädtischen Lagen sind deshalb Bauflächen ins Blickfeld gerückt, die vermeintlich schnell und einfach verfügbar sind – allen voran das Tempelhofer Feld. Das Senatskonzept sieht an den Rändern des ehemaligen Flughafens zurzeit den Bau von 4700 Wohnungen vor. Der BBU fordert, die Planung auf 10.000 Wohnungen zu verdoppeln. Dies könne man dadurch erreichen, dass höhere Häuser und kleinere Wohnungen gebaut werden. Denkbar wäre zudem, die für Gewerbeansiedlungen vorgesehenen Flächen am Tempelhofer Damm und am Südrand des Geländes zugunsten des Wohnungsbaus zu verkleinern.
Vage Nutzungspläne für Tegel
Erheblich mehr Wohnungen will der BBU auch auf dem bald zu schließenden Flughafen Tegel errichten. Der bisher noch sehr vage Masterplan der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung sieht dort überwiegend Grünflächen und Gewerbebauten vor, nur 1000 Wohnungen sind hier nach derzeitigem Stand geplant. Diese Zahl sollte man nach Ansicht des BBU verzehnfachen. „Angesichts der Entwicklung am Wohnungsmarkt ist es fraglich, ob Berlin sich den Luxus neuer Großgewerbegebiete in guten Lagen wirklich leisten kann“, sagt BBU-Vorstand Maren Kern zu den Nachnutzungsplänen für Tegel. „Bei den weiteren Planungen sollte deshalb auf jeden Fall ein wesentlich größerer Flächenanteil für Wohnbebauung vorgesehen werden, als bisher angedacht. Bei intelligenter Flächenaufteilung müssen Wohnen und Gewerbe kein Widerspruch sein“, so Kern. Solange in Tegel reger Flugverkehr herrscht, ist hier eine Wohnbebauung kaum vorstellbar. Wenn man sich aber vor Augen hält, dass das östliche Ende des Tegeler Flugfeldes direkt an den Bezirk Mitte grenzt und nahe der U-Bahn-Linie 6 liegt, erscheint das Gelände durchaus als Wohngebiet tauglich. Anders als beim Tempelhofer Feld wird es in Tegel auch wohl kaum zu Anwohnerprotesten gegen eine Teilbebauung kommen. Die neue Diskussion um eine längere Laufzeit für den Flughafen bringt aber eine neue Unsicherheit, ab wann der Platz für Wohnungen verfügbar ist.
Die geplante Randbebauung des Tempelhofer Feldes ist dagegen sehr umstritten. Vor allem aus den Nachbarquartieren in Neukölln und Kreuzberg regt sich Widerstand. Die Anwohner befürchten, dass nur teure Wohnungen gebaut werden und dies die Mietsteigerungen in den angrenzenden Altbauvierteln ankurbelt, zum Beispiel im Neuköllner Schillerkiez. Das im Dezember 2012 begonnene Volksbegehren „100 % Tempelhofer Feld“ traf deshalb auf viel Zustimmung. Innerhalb von sechs Wochen waren mehr als die für die erste Stufe des Begehrens nötigen 20.000 Unterschriften gesammelt. Die Initiative spricht sich gegen jegliche Bebauung aus und will das Gelände so belassen, wie es seit der Eröffnung als Park daliegt. Wenn der Senat dieses Begehren wie erwartet ablehnt, müssten innerhalb von vier Monaten im kommenden Herbst und Winter 173.000 Unterschriften gesammelt werden, bevor darüber in einem Volksentscheid – möglicherweise gleichzeitig mit der Europawahl am 8. Juni 2014 – abgestimmt werden kann.
Die Senatsverwaltung will ob der Widerstände denn auch eine offene Debatte über die Frage führen, wo gebaut werden soll. Ephraim Gothe: „Der Bürger stimmt im Allgemeinen zu, dass man in der Stadt neue Wohnungen braucht, aber wenn es dann konkret wird, gibt es immer eine Nachbarschaft, die das nicht will.“ Zusammen mit den Bezirken hat die Senatsverwaltung eine Liste mit größeren und kleineren Flächen zusammengestellt, auf denen Wohnungen gebaut werden können. Darunter befinden sich auch viele Kleingartenanlagen. Auch der BBU hat innenstadtnahe Kleingärten wie am Schöneberger Südgelände als Wohnbauland in die Diskussion geworfen. Der Verband der Gartenfreunde hat umgehend Protest angemeldet.
Der Beschluss, in Berlin wieder Wohnungen zu bauen, lässt indes auch Architekten Morgenluft wittern. So legte Jan Kleihues einen Plan für ein neues Stadtquartier direkt am Bahnhof Zoo vor. Zwischen Hardenberg- und Müller-Breslau-Straße will er neben den bestehenden Gebäuden und auf der Brache, auf der einst ein Riesenrad geplant war, sechs Hochhäuser bauen. Eins davon soll mit 161 Metern noch beträchtlich höher sein als das kürzlich eröffnete „Zoofenster“. Weil Wohnungsbau gerade opportun ist, garnierte Jan Kleihues den Entwurf, den Vater Josef Paul Kleihues schon vor über zehn Jahren zeichnete, nachträglich mit 800 Wohnungen. Bei der vorgesehenen Baumasse von 400.000 Quadratmetern Geschossfläche macht der Wohnanteil denoch gerade mal 20 Prozent aus. Und: Preiswert werden diese Wohnungen keineswegs sein.
Am Kern vorbei
„Neubau ist kein Allheilmittel für Berlins Wohnungsmarktprobleme“, sagt Reiner Wild und warnt vor überzogenen Hoffnungen: „Die Behauptung, dass der Neubau einen nachhaltigen Effekt auf das Mietpreisniveau hat, ist schon deshalb falsch, weil der Anteil preis- und belegungsgebundener Wohnungen ziemlich gering sein wird.“ Dem Kern der Wohnungsmarktmisere werde indessen immer noch zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt: „Wegen der geringen Einkommen wesentlicher Teile der Berliner Bevölkerung und auch der Zuwanderer wird eine höhere Wohnkostenbelastung zu einem zentralen sozialen Problem der Stadt“, so Wild. Eine sozial orientierte Stadtentwicklung ist ohne Korrekturen in der Berliner Wohnungspolitik und ohne Änderungen des Mietrechts nicht zu erreichen.
Jens Sethmann
Die hektische Suche nach Neubauflächen und Finanzierungsmöglichkeiten wirft ein schlechtes Licht auf die Weitsicht der Berliner Wohnungspolitik. Noch vor zehn Jahren hat der damalige Stadtentwicklungssenator Peter Strieder keine Möglichkeit ausgelassen, den hohen Wohnungsleerstand zu beklagen: Er sprach von 150.000 überschüssigen Wohnungen, ohne die Zahl fundiert belegen zu können.
Mit dem 2003 gestarteten Bund-Länder-Programm „Stadtumbau Ost“ sind bis 2008 rund 4500 Wohnungen abgerissen worden, nahezu alle in Marzahn-Hellersdorf. Bezahlbare Wohnungen, die einst mit staatlichen Mitteln gebaut worden sind, wurden mit öffentlichen Geldern wieder beseitigt.
Entgegen den Beteuerungen des Senats war der Zweck des sogenannten Rückbaus doch weitestgehend eine „Marktbereinigung“ im Interesse der dortigen Vermieter. Alternativen wie der Vorschlag, die damals leeren Wohnungsbestände „einzumotten“, damit man sie später bei Bedarf wieder reaktivieren kann, wurden seinerzeit überhaupt nicht ernst genommen. Der letzte Stadtumbau-Abriss fand vor gerade einmal fünf Jahren statt, und es wird munter weiter preiswerter Wohnraum vernichtet: zum Beispiel am Lützowplatz in Tiergarten oder am Barbarossaplatz in Schöneberg.
js
Der Begriff „Großsiedlung“ wurde in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts geprägt. Gemeint waren seinerzeit Wohnanlagen mit mehr als 1000 Wohnungen.
Die 1925 bis 1930 gebaute Hufeisensiedlung in Britz war Berlins erste Großsiedlung und blieb mit fast 2000 Wohnungen auch die größte in der Weimarer Zeit. Die Großsiedlung Siemensstadt, die Weiße Stadt in Reinickendorf und die Friedrich-Ebert-Siedlung im Wedding folgten mit jeweils 1300 bis 1400 Wohnungen. Zum Charakter der Großsiedlungen gehörte, dass sie nach einem einheitlichen Plan von einem einzigen Bauherrn errichtet wurden. Teilweise wurden auch standardisierte und vorgefertigte Bauteile verwendet.
Nach dem Krieg gab es mit der Industrialisierung des Bauwesens einen Maßstabssprung. Die beiden größten West-Berliner Großsiedlungen, die Gropiusstadt (gebaut 1962 bis 1975) und das Märkische Viertel (gebaut 1964 bis 1974) umfassen 17.000 beziehungsweise 16.000 Wohnungen, das Falkenhagener Feld (gebaut 1963 bis 1973) etwa 8000 Wohnungen. Wohnanlagen wie die High-Deck-Siedlung in Neukölln, die Thermometersiedlung in Lichterfelde oder die Rudolf-Wissell-Siedlung in Spandau mit einer Größenordnung von 2000 bis 4000 Wohnungen wurden in den 70er Jahren schon längst nicht mehr als Großsiedlungen bezeichnet.
Mit der vollständig industrialisierten Plattenbauweise stieß man im Ost-Berliner Siedlungsbau in neue Dimensionen vor: Die 1976 begonnene Großsiedlung Marzahn umfasste 1990 knapp 60.000 Wohnungen, Hellersdorf (ab 1980 gebaut) 44.000 und Neu-Hohenschönhausen (ab 1984 gebaut) fast 30.000 Wohneinheiten. Von der Einwohnerzahl her sind das schon fast eigene Großstädte. Da den Neubaukomplexen aber viele städtische Einrichtungen fehlten, behielten sie den Charakter von Trabantensiedlungen.
js
„In der Neubau- wie in der Bestandspolitik sind deutliche Korrekturen notwendig“, sagt BMV-Geschäftsführer Reiner Wild. Bei der Diskussion um den Wohnungsneubau hat der Senat die bestehenden 1,9 Millionen Wohnungen aus dem Blick verloren. Der StEP Wohnen konzentriert sich fast ausschließlich auf die Erschließung von Neubauflächen. Konzepte zur Sicherung bezahlbarer Mieten, zum Beispiel mit Hilfe des Milieuschutzes, fehlen. Vom BMV seit langem geforderte Eingriffe wie ein Verbot der Zweckentfremdung von Wohnraum oder die Einschränkung der Eigentumsumwandlung geht der Senat nur im Schneckentempo und halbherzig an.
„Beim Senat wird viel geredet, aber etwas Handfestes ist dabei bislang nicht herausgekommen“, kritisiert Reiner Wild. „Weder wird die weitergehende Vernichtung preiswerten Wohnraums gestoppt, noch entstehen preisgünstige Neubauwohnungen für Mieter.“ Während der Senat nach einer bescheidenen Neubauförderung sucht, versagt er gleichzeitig bei den 150.000 geförderten Wohnungen, die schon da sind. Die Mieten in den vorhandenen Sozialwohnungen liegen vielfach über dem Marktniveau, ohne dass wirksam gegengesteuert wird.
„Stadtentwicklungssenator Müller macht alle paar Wochen viel Lärm um nichts“, meint Mehmet Kavlak von der Kreuzberger Sozialmieterinitiative Kotti & Co. „Außer großen Ankündigungen zum Neubau – also neuen Geschenken für die Wirtschaft – nicht für die Bestandsmieter, hat dieser Senat nichts zu bieten.“
js
MieterMagazin 5/13
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