Leitsätze:
Der Mieter einer ausreichend großen Wohnung ist auch dann befugt, ein eigenes Kind in die Wohnung aufzunehmen, wenn das Kind volljährig ist und vor dem Einzug bereits einen eigenen Hausstand geführt hat. Einer Erlaubnis des Vermieters i.S.d. § 540 BGB bedarf der Mieter insoweit nicht.
LG Potsdam vom 4.9.2012 – 4 S 96/12 –
Mitgeteilt von RiLG Ralf-Dietrich Schulz
Anmerkungen des Berliner Mietervereins
Die 72-jährige Mieterin wurde auf Räumung ihrer Dreizimmerwohnung (85 Quadratmeter) in Anspruch genommen, nachdem das Mietverhältnis unter anderem wegen eines behaupteten Verstoßes gegen § 540 BGB gekündigt worden war. Eine unstreitig vom Vermieter nicht genehmigte Drittüberlassung sollte in der dauerhaften Mitbenutzung der volljährigen und wirtschaftlich selbstständigen Tochter der Beklagten zu sehen sein. Die Mieterin hatte die Überlassung der Wohnung zur dauerhaften Mitbenutzung bestritten und sich im Übrigen unter anderem damit verteidigt, pflegebedürftig zu sein und insoweit täglich besuchsweise von ihrer Tochter unterstützt zu werden.
In zweiter Instanz wurde die Räumungsklage abgewiesen. Nach der Entscheidung des Landgerichts Potsdam komme es auf das Maß einer bestehenden Pflegebedürftigkeit nicht an, weil die Aufnahme der eigenen Tochter in eine Wohnung mit ausreichendem Raumangebot durch die familiäre Bindung privilegiert sei und grundsätzlich nicht unter den Erlaubnisvorbehalt des § 540 BGB falle. Die insoweit vom Amtsgericht angenommene Beschränkung der Privilegierung auf minderjährige, wirtschaftlich unselbstständige oder besonders schutzbedürftige Kinder finde keine Grundlage in Artikel 6 GG und sei deshalb abzulehnen.
Urteilstext
Zum Sachverhalt
Die beklagte 72-jährige Mieterin wurde auf Räumung ihrer 3-Zimmerwohnung (85 qm) in Anspruch genommen, nachdem das Mietverhältnis u.a. wegen eines behaupteten Verstoßes gegen § 540 BGB gekündigt worden war. Eine unstreitig vom Vermieter nicht genehmigte Drittüberlassung sollte in der dauerhaften Mitbenutzung der volljährigen und wirtschaftlich selbständigen Tochter der Beklagten zu sehen sein.
Die Beklagte hat die Überlassung der Wohnung zur dauerhaften Mitbenutzung bestritten und sich im Übrigen u.a. damit verteidigt, pflegebedürftig zu sein und insoweit täglich besuchsweise von ihrer Tochter unterstützt zu werden.
Das Amtsgericht hat die Kündigung gemäß § 573 Abs. 2 Nr. 1 BGB für wirksam gehalten und die Beklagte antragsgemäß verurteilt. Die als erwiesen anzusehende dauerhafte Aufnahme eigener Kinder könne mit Rücksicht auf Art. 6 GG zwar privilegiert sein, dies jedoch (unter Hinweis auf Sternel, Mietrecht aktuell (4. Aufl. 2009); Rdnr. VI 160) nur so lange, wie die Kinder noch keinen eigenen Hausstand begründet hätten. Eine andere Rechtfertigung für die Mitnutzung der Wohnung sei ebenfalls nicht anzunehmen, weil die behauptete Pflegebedürftigkeit der Beklagten kein Ausmaß erreiche, das die Aufnahme einer Pflegeperson in die Wohnung erforderlich erscheinen lasse.
Die Berufung führt zur Aufhebung des amtsgerichtlichen Urteils und zur Klageabweisung. Nach dieser Entscheidung kommt es auf das Maß einer bestehenden Pflegebedürftigkeit nicht an, weil die Aufnahme der eigenen Tochter in eine Wohnung mit ausreichendem Raumangebot durch die familiäre Bindung privilegiert ist und grundsätzlich nicht unter den Erlaubnisvorbehalt des § 540 BGB fällt. Die insoweit vom Amtsgericht angenommene Beschränkung der Privilegierung auf minderjährige, wirtschaftlich unselbständige oder besonders schutzbedürftige Kinder findet keine Grundlage in Art. 6 GG und ist deshalb abzulehnen.
Gründe:
I.
Hinsichtlich der tatsächlichen Grundlagen der vorliegenden Streitigkeit aus einem Wohnraummietverhältnis der Parteien wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils des Amtsgerichts verwiesen.
Von der Abfassung eines weitergehenden Tatbestands wird gemäß § 313 a Abs. 1 ZPO abgesehen, weil gegen das Urteil unzweifelhaft ein Rechtsmittel nicht zulässig ist. Mangels Zulassung der Revision durch das Berufungsgericht würde ein Rechtsmittel im Sinne des § 313 a ZPO das Erreichen der Streitwertgrenze des § 26 Nr. 8 EGZPO voraussetzen, woran es aber fehlt.
II.
Die statthafte Berufung der Beklagten ist form- und fristgerecht eingelegt worden.
Das zulässige Rechtsmittel hat auch in der Sache Erfolg. Der vom Amtsgericht zuerkannte Anspruch auf Räumung und Herausgabe der Wohnung besteht nicht, denn das zwischen den Parteien bestehende Mietverhältnis wurde durch die Kündigungen vom 02.09.2011 und vom 06.12.2011 nicht beendet.
Bei Ausspruch der Kündigungen haben keine schuldhaften Pflichtverletzungen der Beklagten vorgelegen, die eine Kündigung seitens der Klägerin hätten rechtfertigen können.
1. Hinsichtlich der Kündigungserklärung vom 02.09.2011 ist nach dem Vorbringen der Klägerin das tatsächliche Vorliegen der in der Erklärung angeführten Kündigungsgründe nicht feststellbar.
Soweit die Kündigung auf eine behauptete Vernachlässigung der Wohnung gestützt worden ist, wurden die entsprechenden Tatsachenbehauptungen zu Geruchsbelästigungen und Verschmutzungen, die in der Wohnung vorgelegen haben sollen, von der Beklagten ausdrücklich bestritten. In der mündlichen Verhandlung vom 06. März 2012 hat im Übrigen schon das Amtsgericht das Erfordernis weiterer Substantiierung im Hinblick auch die Gefährdung des Mietobjektes hingewiesen.
Die Klägerin hat insoweit gleichwohl weder ihren Vortrag konkretisiert bzw. ergänzt, noch den ihr insoweit obliegenden Beweis angetreten. Soweit sie sich in der Klageschrift diesbezüglich auf die von ihr erteilten Abmahnungen gestützt hat, ist dieses Beweisangebot untauglich; ein Abmahnungsschreiben erbringt allenfalls Beweis dafür, was gerügt worden ist, nicht aber dafür, dass gerügte Umstände auch tatsächlich vorgelegen haben. Auch die pauschale Inbezugnahme der Zeuginnen K und N (Klageschrift S. 5) erfüllt die Anforderungen an beweiserhebliches Vorbringen nicht, weil weder in den Abmahnungen noch schriftsätzlich dargestellt worden ist, wann insoweit welche Feststellungen getroffen worden sein sollen. Da schlüssiger Vortrag sich insoweit zwingend auf Zeitpunkte zeitlich vor dem Ausspruch der Abmahnungen bzw. der Kündigung beziehen muss, ist auch die als Beweisangebot aufgeführte „Inaugenscheinnahme“ nicht zur Beweisführung geeignet.
Entgegen der Auffassung des Amtsgerichts rechtfertigt auch die als Kündigungsgrund angeführte Überlassung der Wohnung an die Tochter der Beklagten zur Mitnutzung eine Kündigung des Mietverhältnisses nicht.
Insoweit begegnet es bereits erheblichen Zweifeln, aus dem Umstand einer Meldeanschrift der Tochter der Beklagten unter der Wohnanschrift Nplatz in Brandenburg Schlussfolgerungen auf einen dort unverändert bestehenden Wohnsitz zu ziehen. Nach eigenem Vortrag der Klägerin wohnte die Tochter bis 2010 in einer eigenen (anderen) Wohnung in demselben Objekt, weshalb in dieser Zeit die von der Klägerin ermittelte Meldeanschrift schlicht zutraf; selbst wenn seit dem Auszug der Tochter diese eine Ummeldung auf aktuelle Wohnanschriften noch nicht vorgenommen hätte, könnte dieser Umstand weder Schlussfolgerungen noch vertragsrechtliche Konsequenzen zulasten der Beklagten rechtfertigen.
Letztlich kommt es allerdings auf die entsprechenden Annahmen des Amtsgericht ebenso wenig an, wie auf die von den Parteien streitig diskutierte Frage nach Grund und Ausmaß einer Pflegebedürftigkeit der Beklagten. Selbst wenn nämlich Die Tochter der Beklagten ohne einen (z.B. durch erforderliche Pflegeleistungen) zwingenden Grund als Mitbewohnerin in die Wohnung der Beklagten eingezogen wäre, würde die entsprechende Gestattung seitens der Beklagten keine schuldhafte Pflichtverletzung darstellen. Auch das Amtsgericht geht im Grundsatz davon aus, dass die Aufnahme eigener leiblicher Kinder in die eigene Mietwohnung Teil eines auch durch vertragliche Abreden nicht beschränkbaren Kerns des vertragsgemäßen Gebrauchs ist. Zu einem anderslautenden Ergebnis gelangt das angefochtene Urteil dann allerdings ohne jede inhaltlich belastbare Begründung allein mit dem Hinweis, leibliche Kinder eines Mieters seien nur bis zur (erstmaligen) Begründung eines eigenen Haustandes privilegiert. Diese Ansicht, für die sich insbesondere im Gesetz kein Anhaltspunkt findet, teilt das hier erkennende Gericht nicht.
Die Gestaltung des eigenen innersten Lebensbereichs ist auch für einen Wohnraummieter als Gegenstand der freien Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) in einem gewissen Rahmen unabhängig davon geschützt, ob die jeweiligen Wünsche des Mieters (zusätzlich) von einer entsprechenden vertraglichen Vereinbarung gedeckt also sozusagen: ausdrücklich erlaubt sind. Insbesondere gilt dies im Bereich solcher Güter und Interessen, die unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stehen, wie dies gemäß Art. 6 Abs. 1 GG für Ehe und Familie der Fall ist. In diesem engen Bereich bedarf der Mieter für seine Entscheidungen nicht eigens einer Erlaubnis seitens des Vermieters (vgl. Münch-Komm/Bieber; 5. Aufl. (2008); Rz. 5 f. zu § 540 BGB). Der insoweit vom Amtsgericht für bedeutsam gehaltenen Frage, ob die betroffenen engsten Familienangehörigen des Mieters noch wirtschaftlich unselbständig sind, fehlt jeder Bezug zu den genannten verfassungsrechtlich maßgeblichen Kategorien, denn der Schutz der in Art. 6 GG genannten Institute ist nicht auf Minderjährigkeit oder andere Gründe eingeschränkter Selbstständigkeit oder besonderer Schutzbedürftigkeit beschränkt. Mit Recht wird daher auch in der Kommentarliteratur überwiegend betont, dass auch im Bereich des § 540 BGB die Erziehungsbedürftigkeit oder wirtschaftliche Unselbständigkeit der ggf. aufzunehmenden Kinder ohne Belang ist (vgl. Schmidt-Futterer, 10. Aufl. (2011) Rz. 24 § 540 BGB m.w.N.).
Besondere Gründe, die vorliegend zu einer anderen Entscheidung führen könnten, wären ein Mitwohnen der Tochter unterstellt nicht ersichtlich. Die nach dem Vortrag der Beklagten von ihr allein bewohnte Wohnung mit 3-Zimmern würde ersichtlich durch eine zweite Bewohnerin keine Überbelegung erfahren. Das Amtsgericht hatte zwar in der mündlichen Verhandlung vom 06.03.2012 gerade in Bezug auf die Person der Tochter der Beklagten angedeutet, wegen der mit dieser geführten Räumungsstreitigkeit zum Aktenzeichen 38 C 75/10 könne eine Wohnsitznahme durch die Tochter für die Klägerin unzumutbar sein, diese Behauptung bedürfte allerdings eines inhaltlich tragfähigen Grundes, der vorliegend nicht ersichtlich wäre. Ein (früherer) Räumungsrechtsstreit mit dem Familienangehörigen eines Mieters mag eine gewisse Relevanz besitzen, wenn er inhaltlich schwere persönliche Zerwürfnisse mit dem Vermieter, Straftaten oder andere einschneidende Störungen des Hausfriedens zum Inhalt hatte. Anders dürfte es dagegen bei einem Räumungsverfahren sein, in dem der Familienangehörige z.B. wegen eigener Zahlungsrückstände unterlegen ist. Auf besondere gerade in der Person der Tochter liegende Gründe hat im Übrigen die Klägerin sich auch in den Abmahnungen und Kündigungen nicht berufen.
2. Auch die Kündigung vom 06.12.2011 hat das Mietverhältnis nicht beendet. Hinsichtlich einer von der Klägerin behaupteten Mitnutzung der Wohnung durch die Tochter würde die Richtigkeit dieser Behauptung unterstellt das oben Gesagte entsprechend gelten.
Soweit in dieser Kündigung zusätzlich eine Überlassung der Wohnung an zwei Enkel der Beklagten als Kündigungsgrund angeführt wird, verfängt auch dies nicht. Auch dieser Vortrag ist von der Beklagten unter konkreter Darstellung der persönlichen Verhältnisse der Enkel bestritten worden; auf die Hinweise des Amtsgerichts in der mündlichen Verhandlung vom 06. März 2012, wonach (auch schon für die Tochter der Beklagten) konkrete Aufenthaltszeiten vorzutragen und unter Beweis zu stellen sind, hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 20.03.2012 zwar auch die Enkeltochter S nochmals erwähnt, konkrete Zeiten zu etwaiger Anwesenheit in der Wohnung aber für die Enkeltochter gerade nicht vorgetragen und unter Beweis gestellt. Entsprechendes gilt für den Enkelsohn M, der in dem weiteren Vorbringen der Klägerin nur noch im Hinblick auf die Meldeadresse auftaucht, was aber nach den oben bereits dargestellten Zusammenhängen mit der früheren Wohnung der Tochter in eigener Wohnung im selben Hause gerade keine anderen Rückschlüsse gestattet, als dass ggf. Ummeldeobliegenheiten verletzt worden sein könnten. Einen Kündigungsgrund zulasten der Beklagten gäbe ein solches Verhalten (völljähriger) Enkel oder anderer Verwandter selbstverständlich nicht ab.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 91 Abs. 1 ZPO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit entspricht den §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.
Die Revision wird nicht zugelassen, weil die gesetzlichen Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 ZPO nicht vorliegen. Die Rechtssache hat weder grundsätzliche Bedeutung, noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts. Das Berufungsurteil beruht im Kern auf einer Würdigung der tatsächlichen Umstände des Einzelfalls. Das Gericht schließt sich im Übrigen verbreiteten Auffassungen in der Rechtsprechung anderer erkennender Gericht und in den einschlägigen Kommentierungen an; Abweichungen von der Rechtsanwendung in obergerichtlichen Entscheidungen sind nicht ersichtlich.
16.08.2013