Von Dr. Rainer Tietzsch
1. Vor zwölf Jahren hat in Berlin erstmals der Bezirk Tiergarten von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, eine Erhaltungssatzung gemäß § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des Baugesetzbuchs (BauGB) zu erlassen. [1]
Ziel einer derartigen „Milieuschutz“-Satzung [2] ist es, im Zuge der zu erwartenden Modernisierungsmaßnahmen möglichst zu verhindern, dass die Zusammensetzung der Gebietsbevölkerung völlig verändert wird, insbesondere die wenig durchsetzungsfähigen Bevölkerungsgruppen aus dem Gebiet verdrängt werden, weil dies zu städtebaulichen Problemen sowohl im Gebiet als auch in anderen Gebieten führen kann. [3]
Ausgangspunkt war die durch sozialwissenschaftliche Gutachten und städtebauliche Bewertung begründete Aussicht, dass in dem bis zum Fall der Mauer am äußersten Rand West-Berlins gelegenen Gebiet „Stephankiez“ ein starker Modernisierungsdruck entstehen werde, weil es nun in unmittelbarer Nähe des Stadt- und Regierungszentrums lag, und in vielen Wohnungen Spielraum für umfangreiche Modernisierungen vorhanden war. [4]
Im Ostteil der Stadt war die Problemstellung in manchen Gebieten der Innenstadtbezirke ähnlich, verschärft noch dadurch, dass nicht nur großer Modernisierungsspielraum bestand, sondern der Althausbestand in großen Teilen sehr heruntergekommen war und durch die Steuergesetzgebung (Sonderabschreibungen) ein besonderer Anreiz für Modernisierungsmaßnahmen gegeben wurde. Es bestand eine hohe Erwartung der Öffentlichkeit gegenüber der Regierung, hier rasch und intensiv einzugreifen, nicht zuletzt im Interesse einer zügigen Angleichung der Lebensverhältnisse in beiden Teilen der Stadt.
Gerade in den östlichen Bezirken stellten sich auf Grund ungeklärter Eigentumsverhältnisse zahlreiche Sonderprobleme, und angesichts halb verfallener Gebäudeflügel boten sich oftmals grundstücksübergreifende Maßnahmen an. Hier ist zu einem anderen vom BauGB angebotenen Instrument gegriffen worden, der Sanierungssatzung (§§ 136 ff. BauGB). Dazu beschloss der Berliner Senat am 31.8.1993 u.a.: „Die Erneuerung ist an den Bedürfnissen der Bewohner zu orientieren, die Erneuerungsmaßnahmen und -verfahren werden sozialverträglich gestaltet. Auch bei vielfach freifinanzierten Modernisierungsaktivitäten sind für die Stadterneuerungsgebiete negative Auswirkungen zu vermeiden, die den sozialen Zielen einer Gebietserneuerung und dem Erhalt der Gebietsbevölkerung entgegenstehen; bei gebietstypisch unterschiedlicher Ausprägung gilt es zu vermeiden:
Verdrängung einkommensschwacher Bevölkerungsgruppen,
die Beschleunigung von Segregationsprozessen und die Destabilisierung der Gebietsbevölkerung und
individuelle Härten anpassungsunfähiger Haushalte.“ [5]
Dies war eine grundsätzliche Festlegung von Sanierungszielen, wie sie dem Senat von Berlin nach dem Gesetz zukommt. [6]
2. Der Senat von Berlin setzte eine erhebliche Zahl von Sanierungsgebieten fest, [7] und insbesondere die Innenstadtbezirke haben für ihre Sanierungsgebiete die vom Senat festgelegten grundsätzlichen Sanierungsziele gebietspezifisch weiter ausdifferenziert, wie das ihre Aufgabe ist. [8] Neben baulichen Sanierungszielen formulierten die Bezirke soziale Sanierungsziele, um die vorstehend zitierten Zielsetzungen des Senats konkret handhabbar zu machen. Später wurden für andere Gebiete, in denen ebenfalls Erneuerungsbedarf bestand, weitere Erhaltungssatzungen festgesetzt, in einem Gebiet überlagern sich eine Sanierungssatzung und eine Erhaltungssatzung. [9]
Grundlage dieser Strategie waren unter anderem mehrere Rechtsgutachten, die bestätigten, dass einerseits auch in Gebieten mit städtebaulichem Erneuerungsbedarf die Festlegung des Schutzes der Gebietsbevölkerung durch eine Satzung nach § 172 BauGB zulässig ist, andererseits auch für die Sanierungsgebiete gemäß § 140 Ziff. 3 BauGB eine Festlegung sozialer Sanierungsziele erlaubt ist und ihre Durchsetzung durch Sanierungsrecht. [10]
Der Zustand der Häuser und die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Bewohner wurden für jedes Gebiet umfangreich geklärt, und dementsprechend wurden für die städtebaulichen Instrumente die Interventionsgrenzen festgelegt, unter anderem auch die unter dem etwas irreführenden Begriff der „Mietobergrenzen“ bekannt gewordenen Belastungsgrenzen der Gebietsbevölkerung.
3. Allerdings bedeutet die Verkündung einer Sanierungs- oder Erhaltungssatzung zunächst nur, dass für bauliche Maßnahmen und Nutzungsänderungen eine besondere Genehmigung erforderlich ist, [11] die Eigentümer also ein besonderes Verfahren, insbesondere eine detaillierte Erörterung des Vorhabens, bei der Verwaltung hinter sich bringen müssen. [12] Für die Verwaltung bringt das umgekehrt die Verpflichtung, die Vorhaben im Einzelnen zu prüfen, und im Rahmen der vom Senat und vom Bezirk formulierten Sanierungsziele bzw. der Kriterien für die Anwendung der Erhaltungssatzung zu entscheiden.
Dabei ist anerkannt, dass ein Verstoß des Vorhabens gegen die Zielsetzung der Satzung grundsätzlich zur Versagung der Genehmigung führt, dass aber die Versagung vermieden werden kann, wenn sich der gesetzliche Zweck durch Nebenbestimmungen sicherstellen lässt. Dann soll eine Genehmigung mit entsprechenden Nebenbestimmungen erteilt werden. [13] Seit 1998 ist für das Sanierungsrecht auch ausdrücklich im Baugesetzbuch (§ 145 Abs. 4 Satz 3 BauGB) vermerkt, dass die Erteilung einer Genehmigung vom Abschluss eines öffentlichrechtlichen Vertrages abhängig gemacht werden kann. [14]
Formal haben diese beiden Wege erhebliche Unterschiede: Eine Genehmigung und die Nebenbestimmungen müssen genau den Regelungen des öffentlichen Rechts folgen, und eine Vollstreckung ist nur nach dem Verwaltungsvollstreckungsgesetz möglich; andererseits können sie mit der gerichtlichen Anfechtungsklage angegriffen werden. Es kann sogar dazu kommen, dass ein Eigentümer die Genehmigung bestandskräftig werden lässt und nur die ihn belastenden Nebenbestimmungen angreift. [15] Demgegenüber kann ein Vertrag die gewünschten Regelungen flexibler formulieren, insbesondere auch andere Überprüfungsmaßnahmen, Sanktionen und Sicherheiten festlegen, er ist außerdem nur im Wege der Anfechtung angreifbar, so dass eine größere Rechtssicherheit erreicht werden kann.
4. Die Berliner Bezirke haben sich zunächst weitgehend auf den Weg der Genehmigung mit Nebenbestimmungen begeben, weil dies die herkömmliche und erprobte Entscheidungsstruktur ist. [16] Sie versuchten, den Eigentümern dadurch entgegen zu kommen, dass eine Genehmigung für Vorhaben, die eigentlich wegen ihres Umfanges die Gefahr der Verdrängung der Gebietsbevölkerung bargen, eben dennoch erteilt wurde, aber mit zuvor abgesprochenen Nebenbestimmungen über die Art und Weise der Durchführung der Sanierungsmaßnahmen, über die danach höchstens verlangte Miete und über etwaige Umsetzungen von Mietern im Gebiet versehen, um die verdrängenden Auswirkungen auszuschließen oder abzumildern. Damit sollte eine Bewahrung der Bevölkerungsstruktur [17] in der Erneuerung der Substanz erreicht und zugleich dem Bedürfnis nach Modernisierung entsprochen werden.
Da sich eine soziologische Struktur nicht unmittelbar festhalten lässt, sollte dies durch indirekte Steuerung geschehen, durch eine Begrenzung der Modernisierungsmaßnahmen selbst, deren Auswirkungen wieder über die nach Modernisierung erzielbare Miete bewertet wurden. Modernisierungsmaßnahmen, die zu einer Miete oberhalb dieser Interventionsgrenzen führen, sollten eigentlich versagt werden, jedenfalls aber sollte die Miete nach Modernisierung auf dieses für die Gebietsbevölkerung (im Durchschnitt) noch verkraftbare Maß begrenzt werden, die so genannten Mietobergrenzen. Dahinter stand die Überlegung: Kann nach der Modernisierung ohnehin nur eine begrenzte Miete erzielt werden, dann spricht vieles dafür, dass Modernisierungsmaßnahmen wirtschaftsrational auf das Maß beschränkt werden, das „sich rechnet“, und andererseits bleiben die Wohnungen wenigstens finanziell erreichbar für die typische Gebietsbevölkerung. Die Bewohner sollten rechtlich in den Stand versetzt werden, die Durchsetzung getroffener Regelungen zumindest teilweise selbst zu übernehmen. [18]
Diese Verwaltungspraxis ist allerdings fehleranfällig. Immerhin geht es um ein Volumen von mehreren Tausend Wohnungen. Jede einzelne Sachbearbeitung muss bei einer Überprüfung erkennen lassen, dass die Verwaltung den konkreten Fall sachgerecht geprüft und die rechtlichen Kriterien genau durchschaut hat. Jede nachlässige Formulierung kann letztlich dazu führen, dass die Festlegungen als rechtswidrig oder als nicht vollstreckbar angesehen werden. Streitigkeiten um solche Einzelfehler haben zunächst das Bild bestimmt.
5. Die Strategie der Bezirke ist inzwischen aber sowohl für das Erhaltungsrecht als auch für das Sanierungsrecht vom Verwaltungsgericht Berlin grundsätzlich angegriffen worden.
Mit Urteil vom 18.7.2002 hat die 13. Kammer des Verwaltungsgerichts Berlin entschieden, die Bevölkerungsstruktur eines Gebietes könne nicht mit den Mitteln des Sanierungsrechts (§§ 136 – 164 b BauGB) geschützt werden. Dies sei allein der Erhaltungssatzung („Milieuschutzsatzung“) des § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BauGB vorbehalten. [19] Die 19. Kammer des VG Berlin hatte zuvor durch Urteil vom 17.10.2001 entschieden, in Erhaltungsgebieten nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BauGB müssten ohne jegliche Nebenbestimmungen alle Modernisierungen genehmigt werden, die zu einer „durchschnittlich üblichen Ausstattung“ führten, wobei der Bundesdurchschnitt maßgeblich sei, aber jedenfalls das Vorhandensein der Ausstattung in 50 % der Wohnungen des Gebiets ausreiche. [20]
Hält man diese beiden Ergebnisse nebeneinander, dann ergibt sich: Ein Schutz der Gebietsbevölkerung als städtebauliches Strukturelement wäre selbst dann ausgeschlossen, wenn in dem Gebiet städtebaulicher Erneuerungsbedarf in knapp 50 % der Gebäude besteht und entsprechende Maßnahmen zu erwarten sind. Für die Gebietsbevölkerung bliebe allenfalls noch ein individueller Schutz vor unbilligen Härten. Das wäre für Regelungen des Städtebaurechts, dessen Zielsetzung doch die nachhaltige Ordnung der Strukturen ist, ein ziemlich dürftiges Ergebnis.
6. Der Ansatz der 13. Kammer zum Sanierungsrecht überzeugt auch rechtsdogmatisch nicht. Das Gericht meint, da § 136 Abs. 2 BauGB städtebauliche Missstände als Sanierungsgrund nennt, komme eine Bewahrung der Bevölkerungsstruktur als (ein) Sanierungsziel nicht in Betracht. Das ist zu kurz gegriffen. Zum einen darf der notwendige Sanierungsgrund nicht gleichgesetzt werden mit den möglichen Sanierungszielen. Die Sanierung darf nicht nur bereits eingetretene Missstände beheben, sie muss auch der Behebung neuer, insbesondere sanierungsbedingter Misstände vorbeugen.
In § 136 Abs. 2 BauGB sind nicht nur bauliche Missstände angesprochen, [21] sondern ausdrücklich auch Funktionsmängel eines Gebiets. [22] Für diesen Tatbestand ist aber geradezu kennzeichnend, dass ein Mangel auch in der zukünftigen Struktur und Funktion des Sanierungsgebietes nicht bestehen soll. [23] Die Funktion eines Gebiets besteht stets aus Aspekten der Baulichkeiten, der stadträumlichen Lage und der Arbeits- und Wohnmöglichkeiten. Ohne Berücksichtigung der Bevölkerungsstrukturen ist eine Gebietsstruktur und ihre Funktionalität gar nicht zu begreifen.
§ 136 Absatz 3 BauGB nennt eine ganze Reihe von Aspekten, die bauliche Strukturen in Bezug setzen zur Bevölkerung, und diese werden ausdrücklich („insbesondere“) als nicht abschließend gekennzeichnet. [24] § 136 Absatz 4 BauGB ordnet an, dass Sanierungsmaßnahmen „dem Wohl der Allgemeinheit dienen“ sollen. Ausdrücklich werden dort auch Ziele nicht baulicher Art („Wirtschafts- und Agrarstruktur“) genannt. Es ist also keineswegs ausgeschlossen, andere als nur bauliche Ziele in die Sanierungskonzeption einzubeziehen. Grundsätzlich können alle Ziele, die das Baugesetzbuch kennt, Sanierungsziele sein. [25]
Gerade das Anliegen der Erhaltung und des Schutzes der Bevölkerungszusammensetzung sollte ursprünglich ins Städtebauförderungsrecht aufgenommen werden, es wurde dann aber ein besonderer Abschnitt des Besonderen Städtebaurechts geschaffen, nicht um dies Institut im Sanierungsgebiet auszuschließen, sondern um es auch außerhalb der Sanierungsgebiete nutzbar zu machen.
§ 141 BauGB verlangt für die Sanierungsgebiete, dass in vorbereitenden Untersuchungen „die sozialen, strukturellen und städtebaulichen Verhältnisse“ aufgeklärt werden. Wozu sollte das dienen, wenn die Sanierung nur bauliche Ziele verfolgen dürfte?
Nach § 164 b BauGB ist ein Schwerpunkt für den Einsatz von Finanzmitteln des Sanierungsrechts die „Behebung sozialer Missstände“. [26] Es ist vernünftigerweise undenkbar, dass der Gesetzgeber zunächst bei der Anwendung des Sanierungsrechts eine Zerstörung der Sozialstrukturen zuließe, um sodann die Beseitigung der Schäden wieder zum Gegenstand von Sanierungsmaßnahmen zu machen.
Das Sanierungsrecht kann daher gar nicht anders verstanden werden als in dem Sinne, dass auch sozialstrukturelle Ziele wie die Erhaltung einer gemischten Bevölkerungsstruktur im innerstädtischen Raum (ein) Ziel und Zweck der Sanierung sein können. [27]
7. Das Urteil der 19. Kammer vom 17.10.2001, in welchem der Schutz der Gebietsbevölkerung im Erhaltungsrecht darauf reduziert wird, dass ausgesprochene Luxusmodernisierungen versagt werden können, alles andere ohne jede Steuerung zu genehmigen sei, stützt sich auf die Veränderung, die am Baugesetzbuch 1998 vorgenommen wurde. [28] Es ist nicht zu bestreiten, dass hier intensive Lobbyeingriffe sich durchsetzen konnten und das Erhaltungsrecht modernisierungsfreundlicher gestalteten. Dies mündete aber in eine derart krude Formulierung, [29] dass es eine vornehme Aufgabe für das Gericht gewesen wäre, jeglichen Spielraum in dem Sinne zu nutzen, diese Entstellung des Gesetzes zu mäßigen. [30] Die 19. Kammer nahm dies hingegen zum Anlass, die Maßstäbe eher noch weiter zu vergröbern und auch Modernisierungsmaßnahmen, die eindeutig nicht allgemein üblich sind, quasi bei Gelegenheit der anderen Maßnahmen mit durchzuwinken.
8. Die Urteile beider Kammern sind nicht rechtskräftig, das Oberverwaltungsgericht Berlin kann also in den Berufungsverfahren die Dinge wieder auf die Füße stellen. Angesichts des dortigen Terminsstandes wird es aber einige Jahre dauern, bis diese Fragen einer grundsätzlichen Klärung zugeführt werden. [31] Bis dahin muss man davon ausgehen, dass diese beiden für Baurecht zuständigen Kammern des VG Berlin alle Versuche der Behörden, einen gegenteiligen Standpunkt durch konkrete Maßnahmen durchzusetzen, in „Eilverfahren“ aushebeln werden, also immer dann, wenn ein Eigentümer sich gegen die konkrete Inanspruchnahme wendet. Die meisten dieser Fälle eignen sich nicht dafür, seitens des Landes Berlin eine Beschwerde zum Oberverwaltungsgericht zu führen. Auf diesem Wege eine Korrektur der VG-Praxis zu erreichen, ist nicht einfach.
9. Das Urteil der 13. Kammer vom Juli 2002 bietet immerhin noch zwei positive Aspekte: Zum einen verweist es bezüglich des Ziels, die Zusammensetzung der Bevölkerung im Sanierungsgebiet zu wahren, auf eine Erhaltungssatzung. Es wäre also möglich, die Sanierungsgebiete zusätzlich mit einer Erhaltungssatzung zu überziehen. [32] [33]
Zum anderen hat die 13. Kammer – auch dies durch Berufung angegriffen – in demselben Urteil entschieden, dass der Bezirk durchaus das Recht [34] hat, den sozialverträglichen Ablauf der Erneuerung im Sanierungsgebiet für die vorhandenen Bewohner durch Sozialpläne zu regeln, und die Wirksamkeit der Sanierungsgenehmigung davon rechtlich abhängig zu machen („Bedingung“), [35] dass dies durch entsprechende Modernisierungsvereinbarungen zwischen Eigentümer und Bewohner gesichert ist. [36]
10. Im Ergebnis bedeutet die Rechtsprechung der beiden Kammern des Verwaltungsgerichts und die Aussicht, lange auf eine Klärung durch das OVG Berlin (und ggf. das Bundesverwaltungsgericht) warten zu müssen, dass die Bezirke nicht mehr wie bisher Zusagen der Eigentümer, am Schutz der Zusammensetzung der Bevölkerung mitzuwirken, in bloßen Auflagen zu den Bescheiden niederlegen dürfen. [37] Die Gefahr, dass Eigentümer die Genehmigung entgegen nehmen und die Verpflichtungen missachten, ist größer geworden.
Häufiger wird vielmehr nun, wenn eine Beeinträchtigung des Schutzes der Bevölkerung durch das Vorhaben zu erwarten ist, eine ausdrückliche Versagung ausgesprochen werden müssen. Ich halte nach wie vor auch Bedingungen, die auf den Schutz der Bevölkerungsstruktur abzielen, für zulässig. Zumindest aber muss das Wirksamwerden einer Genehmigung davon – real oder notfalls rechtlich durch eine Bedingung – abhängig gemacht werden, dass effiziente Sicherungen für den Schutz der konkret vorhandenen Bewohner vorliegen, insbesondere sorgfältig abgestimmte zivilrechtliche Vereinbarungen zwischen Eigentümern und Mietern geschlossen sind.
11. Die hohen Erwartungen, die vor allem von den Betroffenenvertretungen mit dem Sanierungsrecht und dem Erhaltungsrecht verbunden wurden, waren vielfach – schon von den gesetzlichen Vorgaben her – nicht einzulösen. Halbheiten, unfruchtbares Kompetenzgerangel und manche Ungenauigkeit im Detail haben die Durchsetzungskraft der Strategie zur Erhaltung der Bevölkerungsstruktur in den Innenstadtgebieten geschwächt. Dennoch sollte man nicht unter den Teppich kehren, dass sie, gemessen am enormen Aufwertungsdruck in diesen Gebieten während des Hauptstadtbooms, einige Erfolge vorweisen kann. [38] In manchen Gebieten sind innerhalb von sechs Jahren über 50 % der Häuser instand gesetzt und modernisiert worden. Dabei konnte erreicht werden, dass mehr als 60 % der Bewohner im Gebiet blieben. [39] Die Explosion der Grundstückspreise konnte zeitweise gedämpft werden, die Mieten stiegen nicht ganz so rapide wie befürchtet. Bei aller Kritik ist einzuräumen, dass sich der Einsatz der Rechtsinstrumente, flankiert von öffentlichen Förderungsangeboten, im Prinzip bewährt hat.
12. Die Gefahr besteht, dass nun bis zu einer grundsätzlichen Klärung durch die Obergerichte durch die Modernisierungsmaßnahmen weitere Prozesse der Veränderung der örtlichen Bevölkerungsstruktur ausgelöst oder gefördert werden und in einigen Jahren schon weit fortgeschritten sein werden. Im Ergebnis kann damit diese Zielsetzung der Erhaltungs- und Sanierungssatzungen vielleicht sogar dauerhaft zu einem großen Teil vereitelt werden. Wenigstens der Schutz der individuell Betroffenen muss daher um so stärker und effizienter werden. Hierfür haben die Bezirke die Möglichkeit, vertraglich Mietbindungen und Belegungsrechte zu erhalten. In manchen Gebieten, in denen die Bevölkerungsstruktur nicht mehr zu halten ist, wird der Erlass von Umstrukturierungssatzungen (§ 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BauGB) nahe liegen. Für den Schutz von Wohnungen gegenüber Nutzungsänderungen (Nutzung für gewerbliche oder Dienstleistungs-Zwecke) wird häufiger und intensiver als bisher zu Instrumenten der verbindlichen Bauleitplanung zu greifen sein, auch sonst ist dringend dazu zu raten, die planungsrechtlichen Instrumente umfangreich einzusetzen. [40]
13. Dass nach dem bisherigen Stand der Rechtsprechung ein Schutz der Bevölkerungsstruktur nicht mehr stattfindet, sollte der Politik zu denken geben. Auch die Rechtsprechung sollte selbstkritisch prüfen, ob es Sinn macht, die städtebaulichen Instrumente gegen einander auszuspielen. Werden im Rahmen der weiteren Erneuerung die einkommensschwachen Teile der Bevölkerung aus den Innenstadtgebieten vertrieben, dann ist dieser Prozess unumkehrbar, die bisher sehr gute und breite Mischung der Bevölkerung in den meisten Gebieten wird zerstört. Wir werden dann die Konzentration der Ausgegrenzten in Wohnungsbeständen erleben, deren Modernisierung sich wegen mangelnder Lagegunst ohnehin (noch) nicht rentiert. Andererseits ist mit der Zunahme sozialer Entwurzelung zu rechnen. Wem dies als nur individuelles Problem der Betroffenen erscheint, der mag sich die Entwicklung der Pariser banlieue ansehen.
Fußnoten:
[1]
Rechtsverordnung über das Erhaltungsgebiet „Stephankiez“ v. 10.12.1991, GVBl. 240.
[2]
In Berlin zu erlassen als Rechtsverordnung, siehe dazu heute § 30 AGBauGB.
[3]
Die Konzentration oder Absonderung bestimmter Bevölkerungsschichten in einzelnen Gebieten bezeichnet man als Segregation, die Einleitung oder Verstärkung derartiger Vorgänge als Segregationsprozess.
[4]
Gude, Schulze, (TOPOS) Stephankiez, April 1991. Siehe im Übrigen v.a. Henke: Stadterhaltung als kommunale Aufgabe; Berlin 1985, S. 177 ff.; Blasius, Dangschat (Hrsg.): Gentrification; Die Aufwertung innenstadtnaher Wohnviertel; Frankfurt/Main 1990; Tietzsch: Stadtsanierung ohne Verdrängung?, Berlin 1996, 12 ff., 54 ff. m.w.Nw.
[5]
Komplette Wiedergabe der „Leitsätze zur Stadterneuerung“ bei Tietzsch, Stadtsanierung (Fn. 4), 171 ff.
[6]
§ 140 Ziff. 3 BauGB sowie seinerzeit § 4 Abs. 1 AZG i.V.m. Nr. 8 Abs. 3 c) des Zuständigkeitskatalogs; heute § 26 Abs. 1 Satz 2 AGBauGB.
[7]
Auch dies in Berlin als Rechtsverordnung; siehe dazu heute § 24 AGBauGB.
[9]
Die Satzungen für alle Sanierungs- und Erhaltungsgebiete sind am einfachsten aufzufinden in Berliner Rechtsvorschriften, Kulturbuchverlag Berlin, Loseblatt, Kapitel 2130.
[10]
Breuer, Bauplanungsrechtliche Instrumente zum Schutz der Sozialstruktur, 1985; Groth, von Oppen: Rechtliche Möglichkeiten der Festlegung sozialer Sanierungsziele (unveröffentlicht), Potsdam 1994; Tietzsch, Sanierung (oben Fn. 4). Weitere Gutachten anderer Autoren mit demselben Ergebnis wurden von den Auftraggebern nicht veröffentlicht.
[11]
Grundsätzlich ist es möglich, auch die ganze Satzung/Verordnung mit einer Normenkontrollklage anzugreifen. Dies kommt selten vor und hat soweit ersichtlich bisher nirgendwo Erfolg gehabt. In Berlin sind derzeit zwei entsprechende Klagen beim OVG Berlin anhängig.
[12]
Siehe dazu Krautzberger, in: Battis, Krautzberger, Löhr: Baugesetzbuch, 8. Auflage, Rdnr. 7 zu § 142 BauGB (Sanierungsrecht); Rdnr. 38 zu § 172 BauGB (Erhaltungsrecht). Derartige gesetzliche Kontrollinstrumente führen zunächst dazu, mit den Eigentümern der Grundstücke überhaupt von Bezirksseite in zielführende Gespräche zu kommen. Dabei ist auch das Angebot öffentlicher Förderungsmittel sehr hilfreich, zumindest dort, wo es für die betroffenen Eigentümer ernsthaft wirtschaftlich schwierig wird.
[13]
VGH München, Urteil v. 01.03.1993, GuG 1995, 380 (Teilabdruck); Krautzberger (Fußnote 12), Rdnr. 3 und 10 zu § 145; Rdnr. 38 zu § 172.
[14]
Das Verwaltungsverfahrensgesetz (§ 54) erlaubt für die meisten Konstellationen, in denen üblicherweise Bescheide ergehen, auch die Regelung durch öffentlichrechtlichen Vertrag. Das gilt auch für das Erhaltungsrecht und das Sanierungsrecht. Dass § 145 Abs. 4 Satz 3 BauGB dies nun ausdrücklich bekräftigt, kann auch in Grenzfällen die Vertragslösung absichern.
[15]
Es ist umstritten, wann genau eine solche isolierte Anfechtungsklage zulässig ist. In Berlin sind Genehmigungen mit Nebenbestimmungen fast durchweg nur dann erlassen worden, wenn der Eigentümer ausdrücklich in der Erörterung versprochen hatte, diese zu akzeptieren. Dies lässt eine anschließende Anfechtung als unredlich erscheinen. Hierfür interessiert sich die Rechtsprechung bisher aber kaum.
[16]
Rechtsprechung dazu, Vorhaben im Sanierungs- oder Erhaltungsgebiet durch Vertrag zu regeln, ist bis heute kaum feststellbar.
[17]
Der Schutz der Gebietsbevölkerung als Struktur ist nicht zu verwechseln mit dem Schutz der einzelnen Bewohner. Auf diese Unterscheidung komme ich später zurück.
[18]
Indirekte Steuerung und Durchsetzung von Regelungen durch private Akteure sind typische Instrumente für den vielfach gewünschten „schlanken Staat“.
[19]
VG Berlin VG 13 A 424/01 vom 18.07.2002, NVwZ 2003, 242; GE 2002, 1133, m. Anm. Dyroff, GE 2002, 1314.
[20]
VG Berlin VG 19 A 234/00 vom 17.10.2001, GE 2001, 1545 m. Anm. Lammek, GE 2001, 1521.
[21]
§ 136 Absatz 2 Satz 2 Nr. 1 BauGB.
[22]
§ 136 Absatz 2 Satz 2 Nr. 2 BauGB.
[23]
BVerwG NVwZ 1985, 184; Bielenberg in Bielenberg, Koopmann, Krautzberger: Städtebauförderungsgesetz, Band I C § 136, Rdn. 41 f.; Krautzberger, in Battis, Krautzberger, Löhr, Baugesetzbuch, 8. Aufl. Rdnr. 11 zu § 136.
[24]
Für die Entwicklungsgebiete (§§ 165 ff. BauGB) hat das BVerwG den Rahmen der möglichen Zielsetzungen sehr weit gefasst.
[25]
So auch Peine, DÖV 1992, 85; May, DÖV 1994, 846; Tietzsch, Sanierung (oben Fn. 4); Lammek, Berger, GE 1997, 1302 (1304); Schmitz, LKV 2001, 443, Hong, ZMR 2001, 857; Schmidt-Eichstädt, NVwZ 2003, 566 f.; a.A. Partsch, NVwZ 1997, 139; v. Hase, GE 2001, 329.
[26]
§ 164 b Absatz 2 Ziffer 3 BauGB.
[27]
VG Berlin 19 A 1139.95 vom 05.07.1995 (Einstweiliger Rechtsschutz versagt); bestätigt durch OVG Berlin 2 S 7.95 vom 10.10.1995, NVwZ 1996, 920 mit Anm. Tietzsch, NVwZ 1996, 870.
[28]
Allerdings entstand schon zuvor der Eindruck, dass diese Kammer des VG Berlin dem gesetzlichen Auftrag der Erhaltungssatzung recht fremd gegenüber steht. Siehe dazu Urteil VG Berlin 19 A 248.91, GE 1992, 1047 mit Anmerkung Tietzsch in Foyer 1993, 36-37.
[29]
Zu genehmigen ist, „wenn die Änderung einer baulichen Anlage der Herstellung des zeitgemäßen Ausstattungszustandes einer durchschnittlichen Wohnung unter Berücksichtung der bauordnungsrechtlichen Mindestanforderungen dient“, § 172 Abs. 4 Satz 3 Ziff. 1 BauGB.
[30]
Die – nicht aufgegebene – Zielsetzung des Gesetzes, die Bevölkerungsstruktur zu erhalten, legt eher nahe, die Genehmigungspflicht nicht absolut zu setzen, sondern flankierende Verpflichtungen zuzulassen. In diesem Sinne VG München, GuG 1998, 315.
[31]
Nicht nur die Zielsetzung, sondern auch die konkrete Umsetzung im jeweiligen Verwaltungsakt steht dann auf dem Prüfstand.
[32]
So auch Schmidt-Eichstädt, ZfBR 2002, 212, der parallele Festsetzungen rechtlich für zulässig hält, aber die Zielsetzungen von Erhaltung und Erneuerung in einen mir künstlich erscheinenden Widerspruch stellt (216).
[33]
Der Vorschlag erscheint allerdings ziemlich unpraktisch. Abgesehen davon, dass die Rechtsprechung der 19. Kammer vom Bevölkerungsschutz nichts übrig lässt, müssten Eigentümer und die Verwaltung für jedes Vorhaben ein weiteres Genehmigungsverfahren durchlaufen.
[34]
Sie ist durch § 180 BauGB sogar dazu verpflichtet, ausdrücklich im Sanierungsgebiet und dort, wo Festsetzungen durch Bebauungsplan getroffen werden. Dies gilt auch im Erhaltungsgebiet, das gemäß § 172 BauGB „durch Bebauungsplan oder besondere Satzung“ festgelegt werden kann; es kann nicht von der Wahl der Satzungsform abhängen, ob die Sozialplanpflicht besteht oder nicht.
[35]
Die 13. Kammer und das OVG halten Bedingungen, wenn sie eindeutig als solche formuliert sind, nicht für isoliert anfechtbar, VG 13 A 49/01 vom 9.3.2001; OVG 2 SN 6/01 vom 7.5.2001, NVwZ 2001, 1059 mit Anm. Tietzsch, NVwZ 2002, 435.
[36]
Dies hält auch Schmidt-Eichstädt, NVwZ 2003, 566, im Sanierungsgebiet für zulässig als so genannte „Ablaufsicherung“. Freilich greifen konkrete Sozialpläne nur dort, wo die Häuser nicht schon entmietet wurden.
[37]
Dem frühen Rat, stets (auch) Bedingungen aufzuerlegen, sind die Bezirke nur teilweise gefolgt.
[38]
Von einer Regelung, die nur Parameter setzen kann, darf keine Wirksamkeit oder gar ein Wirkungsnachweis in jedem Einzelfall verlangt werden; das ist für jede indirekte Steuerung selbstverständlich. Siehe dazu BVerwGE 105, 67 (71 ff.) = NVwZ 1998, 503 mit Anmerkung Tietzsch, NVwZ 1998, 590.
[39]
In den betroffenen Gebieten wurden über 95 % der Modernisierungsfälle mit den Eigentümern einvernehmlich unter Festlegung der Mietobergrenzen nach Modernisierung geregelt. In den meisten Fällen wurden diese Beschränkungen – trotz der bekannt lückenhaften öffentlichen Kontrollmöglichkeiten – auch eingehalten.
[40]
Der Autor ist sehr interessiert an Hinweisen, insbesondere unveröffentlichten Gerichtsentscheidungen, Kritik und Anregungen, am besten per E-Mail über sanierung@rainer-tietzsch.de bzw. erhaltung@rainer-tietzsch.de
18.03.2013