Es war wenige Monate vor dem Mauerfall, als der Berliner Mieterverein 1989 sein 101. Jubiläum feierte und der Öffentlichkeit seine kleine Geschichte der Berliner Wohnungspolitik vorstellte. Als man Mieter noch mit th schrieb, begann in Berlin mit anfänglich 6000 Vereinsmitgliedern der organisierte Kampf „wider Miethswucher und Eigenthümertyrannei“. Heute, ein ganzes und ein viertel Jahrhundert nach der Gründung, hat der Berliner Mieterverein rund 120.000 Mitglieder und ist zu einem wichtigen Mitspieler in der Berliner Landes- und in der Bundespolitik geworden.
Im Dreikaiserjahr 1888 wird der „Verein Berliner Wohnungsmiether“ gegründet, eine respektable Organisation des bildungsnahen Kleinbürger- und Beamtentums, die anfänglich ein Verlagsbuchhändler leitet, später der „Redakteur“ Helmut Horn. Im Jahr 1890 ist dieser Verein mit 6300 Mitgliedern und einem Geschäftslokal in der Kreuzberger Solmsstraße der größte Verein im Gebiet der späteren Großgemeinde Berlin. Die Vereinsarbeit ist in der Zeit vor 1900, als das Bürgerliche Gesetzbuch BGB in Kraft tritt, durch den Kampf für einen einheitlichen Mietvertrag bestimmt. Mit ihm will man die Vorherrschaft der üblichen „Knebelverträge“ mit ihren willkürlichen Klauseln über „Kahlpfändung“ bei Mietrückständen und die Möglichkeiten zur jederzeitigen Exmission – sprich: Rauswurf – eindämmen. Es ist eine Zeit, in der es für die historisch noch junge Wohnform zur Miete viel Willkür und wenig soziale Sicherheit gibt.
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und 30 Jahre nach der Gründung der ersten Mieterorganisation schließt sich der Verein Berliner Wohnungsmiether mit anderen Vereinen zum „Mieterbund Groß-Berlin“ zusammen. Die Anfänge des gesetzlichen Mieterschutzes, das Reichsmietengesetz und der Aufbau des gemeinwirtschaftlichen Wohnungsbaus bestimmen die Arbeit des Berliner Vereins in der Weimarer Republik. Die Politisierung der Mieterarbeit und explodierende Mitgliederzahlen werden erkauft mit parteipolitischen Absplitterungen, kräfteraubenden Fehden zwischen ihren politischen Flügeln und schließlich der Spaltung der von Berlin und von Dresden aus geführten Dachorganisationen. Der „Bund deutscher Mietervereine“ und der „Reichsbund Deutscher Mieter“, dem die Berliner angehörten, stehen nun – ausgelöst durch die galoppierende Inflation – neben- und gegeneinander.
Im Jahr 1934, in dem der Berliner Mieterverein seinen heutigen Namen erhielt, werden die rivalisierenden Dachorganisationen durch die Nationalsozialisten zwangsweise zum Reichsbund zusammengeschlossen. Die deklarierte parteipolitische Neutralität der Mieterarbeit wird zum Schutzschild gegen ihre Zerschlagung. Aber die Gleichschaltung der Organisation, der Ausschluss ihrer jüdischen Mitglieder im Jahr 1934 und die Aufhebung des Mieterschutzes für jüdische Bürger sind mit der Beginn der Verfolgung der Juden in Deutschland. Belege für Proteste und Versuche des Aufbegehrens gegen den späteren Genozid sucht man auch in der Schutzorganisation aller Mieter vergeblich.
Das Wohnen wird wieder politisch
Der Magistrat der Vier-Sektoren-Stadt Berlin hat 1949 keine Bedenken gegen den Antrag auf Zulassung der „nicht politischen Organisation“ Berliner Mieterverein e.V. Zu diesem Zeitpunkt sind bereits wieder fast zwei Drittel der Wohnungen im „Schutthaufen bei Potsdam“ – so Bertold Brecht über das Nachkriegs-Berlin – mit Hilfe der Trümmerfrauen und mit viel Mieterselbsthilfe notdürftig repariert worden. Der reaktivierte Berliner Mieterverein setzt sich anfänglich für die „Notgemeinschaft der Mieter und Vermieter“ ein und begleitet die Tätigkeit der Mietpreisstellen und die staatliche Zuteilung des knappen Wohnraums.
Viele Jahre vor dem Mauerbau im Jahr 1961 ist der Verein faktisch eine Organisation der drei Westsektoren. Der Kalte Krieg und die Ost-West-Konfrontation haben begonnen.
Erst beim Kampf gegen den Lücke-Plan und das Gesetz zum Abbau der Zwangswirtschaft im Juni 1960 beginnt eine Politisierungsphase, die den Mieterorganisationen auf der westdeutschen und West-Berliner Seite des Eisernen Vorhangs große Mitgliederzuwächse beschert. Berlin behält als letzte Stadt des westlichen Deutschlands die Mietpreisbindung im Altbau und wird zur Hauptstadt des Sozialen Wohnungsbaus mit all seinen Licht- und Schattenseiten. Der lange Kampf gegen den „Weißen Kreis“ und die Abschaffung der Mietpreisbindung wird Ende der 1970er Jahre durch den Protest gegen die Abriss-Neubau-Sanierung und die damit verbundenen Leerstände in den Berliner Altbaubezirken ergänzt. Anders als beim Lücke-Plan wird diese Fehlentwicklung jedoch einer SPD-geführten Stadtregierung angelastet und mündet in Hausbesetzungen und eine starke Bürgerprotestbewegung, die neue politische Wege geht. Der Kampf gegen Abrisspolitik und Altstadtzerstörung wirft seine Schatten bis in den Mieterverein hinein und führt 1979 zu einer hausinternen Revolution, bei der die alten Vorstände und die Geschäftsführung ausgewechselt werden.
Personifiziert durch den neuen Geschäftsführer Hartmann Vetter beginnt eine neue Phase der Mieterarbeit, die durch Politisierung bei gleichzeitiger Professionalisierung der Beratungsarbeit bestimmt wird und eine Explosion der Mitgliederzahlen herbeiführt. 13.100 Mitglieder hat der Mieterverein im Jahr 1979 vorzuweisen. 1988 hat sich diese Zahl mit rund 33.500 fast verdreifacht. 1998 sind es bereits stolze 83.000 und 2012 116.000 Mitgliedshaushalte, in Personen gerechnet: über 150.000. Der Mieterverein wird in Berlin und in der Bundesorganisation zu einer „Stimme der Mieter“ mit politischem Gewicht.
Im Jahr des 101-jährigen Jubiläums des Berliner Mietervereins endet mit dem Mauerfall auch die Epoche der isolierten Mieterarbeit im „Schaufenster des Westens“. Beim Kampf der Wirtschafts- und Sozialsysteme zwischen den beiden deutschen Staaten nahmen der Ost- und der Westteil der Stadt eine Sonderrolle wahr. Sie waren Vorzeigegebiete für die Überlegenheit des „Systems“. Nun aber kehren sich die Vorzeichen um. Der Sonderfall West-Berlin wird zum Vorbild für Ostdeutschlands Übergang von der Mietpreisbindung in das Vergleichsmietensystem. Die ehemals geteilte Stadt wird zum Labor der Wiedervereinigung, und die kurz darauf vereinte Gesamt-Berliner Mieterorganisation kämpft für eine möglichst behutsame Überführung der staatlichen Planwirtschaft in eine soziale Wohnungsmarktwirtschaft.
Im ganzen Land entstehen Partnerschaften zwischen alten west- und neuen ostdeutschen Mietervereinen und Landesverbänden. In Berlin heißt die Lösung dagegen: Kooperation durch Zusammenschluss. 1990 ist das Jahr, in dem erneut die Mieterarbeit für die ganze Stadt beginnt. Der historische Kreis hat sich geschlossen.
Die letzte Volkskammerwahl am 18. März 1990 würde den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland forcieren. Das war – so das heutige Vorstandsmitglied im BMV Regine Grabowski – den meisten DDR-Bürgern klar: „Wir wussten auch, dass nun einschneidende Veränderungen im Mietrecht auf uns zukommen – was möglichst bald einen starken gemeinsamen Schutzschirm erforderte.“ Mit dem Zusammenschluss von Ost und West entstanden in Berlin und auf Bundesebene eine gesamtdeutsche und Gesamt-Berliner Mieterorganisation. 20 Jahre später – im Jahr 2009 – resümierte Franz Georg Rips – damals Vorsitzender des BMV und heute Präsident des Deutschen Mieterbundes: „20 Jahre nach dem Mauerfall stehen sich die Ost- und West-Berliner beim Wohnen näher als in allen anderen Lebensbereichen – damit gibt es für einen Kernbereich von Lebensqualität eine Positivmeldung.“
Im Wohnen wieder vereint
Für den stetigen Mitgliederzuwachs, den der Verein seit Beginn der 1980er Jahre erlebte, bedurfte es nicht nur der Teilhabe an der Berliner Wohnungspolitik, sondern auch eines steten Personalausbaus, um die professionelle Rechtsberatung zu sichern. Das Beratungssystem in den Berliner Bezirken wurde ausgebaut und um acht Beratungszentren ergänzt, die die Präsenz des Vereins in den Stadtteilen absichern. Die Professionalisierung des Vereins erzwang nicht nur die Einstellung neuer Mitarbeiter, sondern auch mehrere Ortswechsel der Hauptgeschäftsstelle. Von der Spichernstraße in Wilmersdorf wanderte die „Zentrale“ in den 90er Jahren in die unmittelbare Nähe des heimlichen historischen Zentrums des vereinten Berlins, das Brandenburger Tor. Die Mitgliederzahlen im Ostteil Berlins erlebten nun mit dem Aufbau der Beratungsarbeit einen neuerlichen Aufwärtsschwung. Nur ein Vierteljahrhundert Mieterarbeit waren im Ostteil nötig, um mit dem Westteil aufzuschließen. Heute liegt der Organisationsgrad – der prozentuale Anteil der Vereinsmitglieder gemessen an der Zahl der Mieterhaushalte – in den östlichen Stadtbezirken Mitte und Pankow nur wenige Prozentpunkte unter den Werten der alten westlichen Bezirke. In Folge dieser erfreulichen Entwicklung platzte auch die Geschäftsstelle am Brandenburger Tor bald aus allen Nähten und erzwang einen neuerlichen Umzug, der 2012 an eine weniger exponierte, aber geräumigere Adresse in der alten City West führte. Wenige Meter von der ersten Geschäftsstelle in der Spichernstraße entfernt, befindet sich nun das neue logistische Zentrum der organisierten Berliner Mieterschaft.
Die wohnungspolitischen Perioden der Stadtentwicklung im vereinten Berlin folgten freilich einer ganz eigenen Chronologie. Sie lassen sich unter Überschriften wie „Metropolensehnsucht“, „Ernüchterung“ und „wohnungspolitische Apathie“ aufzählen. Der Architektursoziologe Harald Bodenschatz hatte die erste Periode nach dem Mauerfall bis 1995 als „Rauschperiode“ bezeichnet, in der „das Wachstum Berlins grenzenlos zu sein schien“. Regierungssitz- und Hauptstadtentscheidung sowie Zuwanderungsgewinne aus dem Aus- und Umland machten Berlin zum Magneten. Auch wenn der anfängliche Bevölkerungsanstieg wahrlich keine Explosion war, wurde er in Wachstumsprognosen zu metropolitanem Größenwahn gesteigert und von Berlins damaligem SPD-Bausenator Wolfgang Nagel in ebenso megalomane Bauprojekte übersetzt.
Ernüchterung statt Einsicht
Bereits 1995 endete die Euphorie, während der Wohnungsbau – leicht verzögert – 1998 sein jähes Ende fand. Bodenschatz nannte dies die „Ernüchterungsperiode“. Die Bevölkerungszahl sank hauptsächlich aufgrund einer über Fördergebietsgesetzgebung und Eigenheimzulage staatlich subventionierten Wanderung ins Umland bis 2000 auf 3,38 Millionen. Dabei waren die Ostbezirke führend. Bis zum Jahr 2006 gab es eine „Stagnationsperiode“ (Bodenschatz), weil Politik, Medien und Investoren nun entdeckten, dass die Bevölkerung demografisch bedingt schrumpfte und Berlin allenfalls durch Zuwanderung zusätzliche Bewohner gewinnen würde. Leerstände, Stadtumbau und der fast vollständige Rückzug aus einer aktiven Wohnungspolitik bestimmten die Folgephase, in der nach Meinung des seit 2009 amtierenden neuen BMV-Geschäftsführers Reiner Wild die „optimistische Einschätzung des Berliner Wohnungsmarktes maßlos überdehnt wurde“.
Eine selbstverordnete Inaktivität der Berliner Politik verstärkte die Auseinanderentwicklung von Nachfrage und Angebot, sie beschleunigte die Explosion der Wiedervermietungsmieten und war mitverantwortlich dafür, dass die „neue Wohnungsnot“ in Berlin wieder zum Medienereignis wurde. Geburtshelfer dieser neuen Einsicht waren neben dem Wahlkampf zu den Abgeordnetenhauswahlen auch das stete Anrennen des Mietervereins gegen Mauern aus Ignoranz und Unwillen in der Berliner Wohnungspolitik. BMV-Geschäftsführer Reiner Wild: „Über Jahre haben wir keine Gelegenheit ausgelassen, um den politisch Verantwortlichen ihre verhängnisvoll falsche Einschätzung der Wohnungsmarktsituation zu verdeutlichen.“
Gibt es einen besseren Beweis für den Erfolg dieser Beharrlichkeit als die jüngst bekundete Bereitschaft der Kanzlerin, die Forderung nach einer Kappungsgrenze für Wiedervermietungsmieten ins Wahlprogramm der CDU zu schreiben? Auch wenn es erst einmal nur auf Papier steht, so ist es doch ein „historisches Ereignis“ in der bundesdeutschen und Berliner Mieterpolitik.
Armin Hentschel
Dr. Armin Hentschel ist Leiter
des Potsdamer Instituts
für Soziale Stadtentwicklung
Die Berliner Kollegen mit ihrem eigenen Kopf
„In Berlin ist ein zehnjähriges Unternehmen bereits ein gewisser Garant für Solidität, ein hundertjähriges ist es ganz gewiss.“ So begrüßte der Vorsitzende des Berliner Mietervereins Edwin Massalsky nicht ohne Stolz die Festgäste zur 101-Jahrfeier. Man schrieb das Jahr 1989. Als er dem Verein ein weiteres erfolgreiches Jahrhundert wünschte, klang das nach Utopie. Heute ist bereits das erste Viertel dieser Wegstrecke zurückgelegt, und der damalige Wunsch klingt weniger kühn. Allerdings fragen sich auch wohlwollende Beobachter, was den Verein wohl getrieben hat, solche „Schnapszahlenjubiläen“ wie das 101. und später das 111. zu feiern. Die Antwort führt zu widersprüchlichen Aussagen über das Gründungsdatum und zu einer Recherche, die zunächst auf das Jahr 1918 verwies. Hinter dieser Jahreszahl versteckte sich bei Durchsicht der Akten der Zusammenschluss von Interessengruppen zum „Mieterbund Groß-Berlin e.V.“ Bei genauerem Quellenstudium wurde deutlich, dass der organisatorische Kern dieses Zusammenschlusses bereits einige Jahre auf dem Buckel hatte. Personell wie politisch stand die neue Organisation in Kontinuität mit dem sehr viel älteren „Verein Berliner Wohnungsmiether“, der bereits 1888 gegründet wurde. Für das nun notwendige Zurück in die Archive reichte die Zeit zu einer 100-Jahr-Feier nicht mehr aus. Dem damaligen Präsidenten des Deutschen Mieterbundes Gerhard Jahn blieb nur noch die rückblickend wohlwollende Anmerkung, dass die „Berliner Kollegen ja schon immer ihren eigenen Kopf gehabt haben“. Auch Jahn konnte zu diesem Zeitpunkt nicht wissen, dass die Jubiläumsfeier kurz vor dem Fall der Mauer stattfand. Das Vereinsjubiläum hatte also um Haaresbreite vor einem der wichtigsten weltpolitischen Ereignisses der Nachkriegsgeschichte stattgefunden und wäre damit fast zur politischen und medialen Fußnote geworden. Das hätte diese solide Institution wahrlich nicht verdient. Im Jahr 1898 hatte ein Amtsvorgänger des heutigen Vereinsvorsitzenden Edwin Massalsky anlässlich der ersten Zehnjahresfeier des Mietervereins stolz verkündet, sein Verein sei nun „fest auf märkischer Scholle verankert“ und habe „allen Angriffen seiner Feinde getrotzt.“ Heute, 115 Jahre später, möchte man ergänzen: Auf den sprichwörtlichen (märkischen) Sand gebaut war diese Institution jedenfalls nicht.
ah
MieterMagazin 7+8/13
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