Leitsatz:
Die Aufrechnungsmöglichkeiten nach § 95 Abs. 1 InsO werden durch § 110 Abs. 3 InsO nicht beschränkt.
BGH v. 21.12.2006 – IX ZR 7/06 –
Langfassung: www.bundesgerichtshof.de [PDF, 9 Seiten]
Anmerkungen des Berliner Mietervereins
Im Ergebnis führt die BGH-Entscheidung dazu, dass dem Mieter jederzeit die Möglichkeit offen steht, eigene Forderungen mit den laufenden Mietverbindlichkeiten aufzurechnen und sich somit außerhalb des Insolvenzverfahrens zu befriedigen.
Urteilstext
Zum Sachverhalt:
15.2.2000: Mietvertragsbeginn.
1.9.2001: Eröffnung des Insolvenzverfahrens über Vermögen des V.
14.5.2002: Insolvenzverwalter rechnet über Betriebskosten für 2000 ab. Der Mieter hat daraus ein Guthaben in Höhe von 876,61 Euro.
1.7.2002: Mieter verrechnet das Guthaben mit der Miete für Juli 2002.
Januar 2003: Insolvenzverwalter rechnet über Betriebskosten für den Zeitraum 1.1.2001 bis 31.8.2001 ab und errechnet für den Mieter ein Guthaben in Höhe von 842,37 Euro.
1.2.2003: Mieter verrechnet dieses zweite Guthaben mit den Mieten für Februar und März 2003.
Nunmehr verklagt der Insolvenzverwalter den Mieter auf Zahlung der drei ausstehenden Monatsmieten. Das Amtsgericht und das Landgericht Berlin (GE 06, 513) geben der Klage statt.
Die vom Mieter eingelegte Revision hat Erfolg. Der BGH hält die Aufrechnung des Mieters für rechtens.
Entscheidungsgründe:
„Die Revision hat Erfolg; sie führt zur Klageabweisung.
I. Das Berufungsgericht, dessen Urteil veröffentlicht ist in Grundeigentum 2006 S. 513, meint, die gegen die unstreitigen Mietzinsansprüche erklärten Aufrechnungen seien unwirksam. Gemäß § 110 Abs. 3 Satz 1 InsO bestehe im Fall der Insolvenz des Vermieters für den Mieter nur die Möglichkeit, für den Zeitraum des § 110 Abs. 1 InsO, dies wäre hier der September 2001 gewesen, mit Gegenforderungen aufzurechnen.
Eine Aufrechnungsmöglichkeit bestehe auch nicht gemäß § 110 Abs. 3 Satz 2, § 95 InsO über den September 2001 hinaus. Mietverhältnisse bestünden gemäß § 108 InsO mit Wirkung für die Insolvenzmasse fort. Zum Ausgleich dafür habe der Gesetzgeber die Aufrechnungsmöglichkeit in § 110 InsO begrenzt.
II. Diese Erwägungen halten einer rechtlichen Prüfung nicht stand.
1. Der Beklagte durfte gegen den Anspruch der Masse auf Zahlung der Mietzinsen für die Monate Juli 2002 sowie Februar und März 2003 gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 InsO aufrechnen, nachdem die Voraussetzungen für die Aufrechnung – Fälligkeit des Anspruchs auf das Guthaben aus der Nebenkostenabrechnung und Erfüllbarkeit der Forderung der Masse – eingetreten war, § 387 BGB.
a) Der Anwendbarkeit des § 95 Abs. 1 InsO steht § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO nicht entgegen. § 95 Abs. 1 Satz 1 InsO will die Aufrechnung erleichtern und geht der Regelung des § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO vor (BGHZ 160, 1, 3; BGH, Urteil vom 11. November 2004 – IX ZR 237/03, ZIP 2005, 181).
b) Die Voraussetzungen des § 95 Abs. 1 Satz 1 InsO liegen vor.
aa) § 95 Abs. 1 Satz 1 InsO ist weit auszulegen. Er erfasst alle Fälle, in denen nur eine vertragliche Bedingung oder gesetzliche Voraussetzung für das Entstehen der einen oder der anderen Forderung fehlt. Er dehnt die Aufrechnungsbefugnis zudem auf Fälle aus, in denen lediglich ein Element der rechtlichen Voraussetzungen des Anspruchs noch nicht erfüllt ist. Die Vorschrift soll die Gläubiger schützen, deren Forderung in ihrem rechtlichen Kern aufgrund gesetzlicher Bestimmungen oder vertraglicher Vereinbarung bereits gesichert ist und fällig wird, ohne dass es einer weiteren Rechtshandlung des Anspruchsinhabers bedarf (BGHZ 160, 1, 5 f; BGH, Urteil vom 6. November 1989 – II ZR 62/89, ZIP 1990, 53, 55).
bb) Die Mietzinsansprüche für Juli 2002 sowie Februar und März 2003 waren gemäß § 163 BGB befristet mit Beginn des jeweiligen Zeitabschnitts, für den der Mietzins zu zahlen war, entstanden (BGHZ 111, 84, 94 f; BGH, Urteil vom 30. Januar 1997 – IX ZR 89/96, WuM 1997, 545, 546; vom 11. November 2004 aaO Seite 182). Damit standen sie gemäß § 163 BGB aufschiebend bedingten Forderungen im Sinne des § 95 Abs. 1 Satz 1 InsO gleich. Dies wird von den Parteien des Revisionsverfahrens nicht in Frage gestellt.
cc) Nach § 4 Nr. 4 des Mietvertrages waren die Nebenkostenvorauszahlungen jährlich abzurechnen. Da der Mietvertrag gemäß § 108 Abs. 1 InsO mit Wirkung für die Insolvenzmasse fortbestand, war im Jahr der Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Abrechnung für die Zeit bis zur Verfahrenseröffnung und für die Zeit danach getrennt vorzunehmen, weil die Erstattungsansprüche des Mieters für die Zeit bis zur Eröffnung des Verfahrens Insolvenzforderungen sind (§ 108 Abs. 2 InsO), für die Zeit danach dagegen Masseforderungen. Entsprechend hat der Kläger abgerechnet.
Aus dem Mietvertrag ergibt sich auch die – dort nicht ausdrücklich geregelte – Verpflichtung des Vermieters, ein Guthaben aus der Nebenkostenabrechnung an den Mieter auszuzahlen (BGH, Urteil vom 11. November 2004 aaO S. 182 m.w.N.).
Die Abrechnungszeiträume, auf die sich die hier streitigen Überzahlungen bezogen, waren bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens abgelaufen, die für einen Rückzahlungsanspruch maßgebliche Bedingung der Überzahlung jeweils eingetreten. Es fehlte lediglich jeweils die Abrechnung, mit deren Erteilung der Rückforderungsanspruch fällig wurde (BGHZ 113, 188, 194). Auch dieser Fall wird von § 95 Abs. 1 Satz 1 InsO erfasst (vgl. BGH, Urteil vom 11. November 2004 aaO). Spätestens in dem Zeitpunkt, in dem auch die Mietforderungen fällig waren, konnte damit gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 InsO durch den Beklagten die Aufrechnung erfolgen.
c) § 95 Abs. 1 Satz 3 InsO stand einer Aufrechnung nicht entgegen. Der Anspruch auf Rückzahlung des Guthabens aus den Nebenkostenvorauszahlungen für das Jahr 2000 war mit dem Zugang der Abrechnungen vom 14. und 22. Mai 2002 fällig. Damit rechnete der Beklagte gegen die Mietzinsforderung der Masse für Juli 2002 auf, die gemäß § 5 Abs. 1 des Mietvertrages am dritten Werktag des Juli 2002 und damit nicht vor seiner eigenen Forderung unbedingt und fällig wurde.
Dasselbe gilt entsprechend für die Aufrechnung mit dem Guthaben aus der Nebenkostenabrechnung für Januar bis August 2001 gegen die Mietforderungen für Februar und März 2003.
2. Für eine Unwirksamkeit der Aufrechnung gemäß § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO besteht kein Anhaltspunkt. Sie wird vom Kläger auch nicht geltend gemacht. Für die Anfechtbarkeit einer Aufrechnungslage ist maßgeblich, wann das Gegenseitigkeitsverhältnis begründet wurde. Daher kommt es darauf an, zu welchem Zeitpunkt die spätere Forderung entstanden ist. Da Bedingungen und Befristungen gemäß § 140 Abs. 3 InsO außer Betracht bleiben, war maßgeblich der Zeitpunkt des Abschlusses des Mietvertrages (BGH, Urteil vom 11. November 2004 aaO). Die Anfechtungsvoraussetzungen sind für diesen Zeitpunkt weder vorgetragen noch sonst erkennbar.
3. § 110 Abs. 3 Satz 1 InsO steht entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts der Aufrechnung nicht entgegen.
Die Vorschrift beschränkt nicht die Möglichkeit der Aufrechnung nach § 95 InsO, sondern schließt die Unzulässigkeit der Aufrechnung nach § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO für den dort bezeichneten Zeitraum aus. Sie gewährt ein besonderes, zusätzliches Aufrechnungsrecht, erweitert also die Aufrechnungsmöglichkeiten. Dies ergibt sich aus § 110 Abs. 3 Satz 2 InsO, wonach § 95 InsO und § 96 Abs. 1 Nr. 2 bis 4 InsO unberührt bleiben. Für den Wirksamkeitszeitraum des § 110 Abs. 1 InsO wird unabhängig von den Voraussetzungen des § 95 InsO und abweichend von § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO eine Aufrechnung zugelassen, auch dann, wenn der Insolvenzgläubiger erst nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens etwas zur Masse schuldig geworden ist; der Schuldgrund der Gegenforderung ist dabei unerheblich (BT.-Drucksache 12/2443 Seite 147 zu § 124 des Reg-Entwurfs zur InsO; HK-InsO/Marotzke, 4. Aufl. § 110 Rn. 13; MünchKomm-InsO/Eckert, § 110 Rn. 22; Kübler/Prütting/Tintelnot, InsO § 110 Rn. 10; Andres/Leithaus, InsO § 110 Rn. 5; Nerlich/Römermann/Balthasar, InsO § 110 Rn. 13; Hess in Hess/ Weiss/Wienberg, InsO 2. Aufl. § 110 Rn. 14; Uhlenbruck/Berscheid, InsO 12. Aufl. § 110 Rn. 12 f). …“
23.02.2013