Wohin ein Kahlschlag der staatlichen Wohnungsversorgung führt, zeigen viele ehemalige Ostblockstaaten – aber nicht nur diese.
Nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten Mittel- und Osteuropas gab es dort auch in der Wohnungspolitik eine 180-Grad-Wende: Privatisierung hieß das neue Zauberwort. In der Wohnungswirtschaft gab es einen Wechsel von einem Extrem ins andere. In manchen postkommunistischen Staaten wurde von einem Tag auf den anderen das Ruder von „staatlich“ auf „privat“ herumgerissen – zuweilen ohne sich die Folgen klarzumachen.
Am schnellsten hat Litauen Tatsachen geschaffen. Schon 1993 waren 93 Prozent der ehemals staatlichen Wohnungen zu verbilligten Preisen an die Bewohner verkauft worden. Radikaler, außerordentlich schlecht organisiert ist das Privatisierungsprogramm in Russland, wo Anfang der 90er Jahre mehr als zwei Drittel aller Wohnungen dem Staat gehörten. Seit 1992 kann jeder Mieter einer staatlichen oder kommunalen Wohnung einmalig seine Wohnung kostenlos in sein Privateigentum übernehmen. Nur wer mehr als 18 Quadratmeter pro Person bewohnt, muss eine geringe Ausgleichszahlung leisten. Die Mieter gehen auf dieses Geschenk nach wie vor nur zögerlich ein. Zum einen gibt es in den russischen Staatswohnungen einen hohen Mieterschutz, und Mietverhältnisse können auch an Nachkommen vererbt werden. Zum anderen ist der hohe Instandhaltungsaufwand der oftmals schlecht gepflegten Wohnhäuser offensichtlich. Nach Privatisierungen stecken die Neueigentümer viel Mühe in die Instandhaltung und Modernisierung ihrer Wohnungen, die Häuser gehen aber langsam zugrunde: Fassaden bröckeln, undichte Dächer werden nicht repariert, Treppenhäuser verdrecken, Installationen verrotten und die Haustechnik bleibt vorsintflutlich. Ein Großteil der Wohnungseigentümer wäre mit den anteiligen Kosten einer Grundinstandsetzung auch finanziell überfordert.
Es haben sich ohnehin nur selten handlungsfähige Eigentümergemeinschaften zusammengefunden. Wo es sie gibt, können sie sich häufig nicht gegen die mächtigen Hausverwaltungen durchsetzen, die sich in den Städten kartellartig organisiert haben. Sie kassieren zwar von den Eigentümern hohe Gebühren, führen Reparaturen aber nur nach Gutdünken durch.
Obwohl die vollständige Privatisierung ausdrückliches Ziel der russischen Regierung ist, waren Anfang 2013 immer noch 24 Prozent der staatlichen Wohnungen in öffentlicher Hand. Die ursprünglich bis 2006 begrenzte Möglichkeit der Gratis-Privatisierung wurde deshalb schon dreimal verlängert, sie gilt nun bis 2015.
Das Wohnen zur Miete wird in Russland nur noch als Notbehelf gesehen. Mieter werden stark benachteiligt: Sie bekommen in der Regel keine amtliche Meldebestätigung. Deshalb können sie oft keine Sozialleistungen beantragen und nicht an Kommunalwahlen teilnehmen. Es gibt auch kein nennenswertes Mietwohnungsangebot. Für Sozialwohnungen gibt es jahrelange Wartezeiten. Neu gebaut werden fast nur Eigentumswohnungen.
Etwas gemäßigter führte Polen die Privatisierung durch. Hier wurden nach 1990 zunächst sämtliche staatlichen Wohnungen an die Städte und Gemeindeverwaltungen übertragen. Diese sind verpflichtet, die Wohnungen an kaufwillige Mieter abzugeben. Bis zu 20 Prozent des Verkehrswertes wurde den Käufern dabei erlassen. Weil es in Polen schon nach 1972 die Möglichkeit gab, staatliche Wohnungen in privates Eigentum zu überführen, lief die Mieterprivatisierung nach 1990 geordneter ab als in Russland. Der Anteil öffentlicher Wohnungen sank zwischen 1990 und 2002 von 31 auf 11 Prozent.
Das Kaufangebot gilt auch für die genossenschaftlichen Wohnungen, die 1990 ein Viertel des polnischen Wohnungsbestandes ausmachten. Dabei werden aber nur handelbare Wohnrechte veräußert. Die Genossenschaften bleiben als Gebäudeeigner und -verwalter bestehen, ihr Anteil am Wohnungsbestand ist nahezu gleich geblieben.
In anderen Ländern wurden die Genossenschaften stärker als Teil des abzuschaffenden sozialistischen Systems wahrgenommen. Deshalb drängte man sie nach der Wende oft zurück. So sind in Russland viele Wohnungsbaugenossenschaften in gewerbliche Unternehmen umgewandelt worden. In der Slowakei, Tschechien und Ungarn hat man den Genossenschaften die gesetzliche Grundlage entzogen. Sie können nun zwar noch ihre Bestände bewirtschaften und verwalten, aber keine neuen Wohnungen mehr bauen. Damit haben die Staaten einen nicht-profitorientierten Akteur ausgebremst, der günstigen Wohnraum bieten könnte.
Ein Vorbild für die Privatisierung in den ehemaligen Ostblockstaaten dürfte die marktradikale Politik Margaret Thatchers in Großbritannien gewesen sein. Seit 1980 gilt dort das „Right to buy“ (Kaufrecht): Wer mindestens drei Jahre Mieter in einer kommunalen Wohnung („council home“) ist, kann diese kaufen. Mit Preisnachlässen von bis zu 70 Prozent auf den Verkehrswert werden dazu große Anreize gegeben. Von einst rund 6,6 Millionen öffentlichen Wohnungen gingen rund zwei Millionen in privates Eigentum über. Viele dienten anschließend als Spekulationsobjekte. Etwa ein Drittel dieser Wohnungen gehört heute gewerblichen Vermietern. Schottland hat den Ausstieg aus dem Right to buy ab 2017 beschlossen. Der britische Premierminister David Cameron treibt hingegen die Privatisierung noch weiter voran. Allein in London, wo der Kaufpreisnachlass im letzten Jahr auf 100.000 Pfund erhöht wurde, sind bereits rund 520.000 kommunale Wohnungen privatisiert worden.
Nicht ganz zufällig gehören heute neben London auch Moskau, St. Petersburg und Warschau zu den teuersten Wohnorten Europas.
Jens Sethmann
MieterMagazin 7+8/14
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03.09.2014