Im Juni hat der Senat beschlossen, dass die Bezirke nur noch nach einheitlichen Richtlinien Sozialwohnungen von der Belegungsbindung freistellen dürfen. Die Praxis einiger Bezirke, die einst teuer erkauften Sozialbindungen großzügig preiszugeben, wird damit aber nicht gestoppt. Auf der anderen Seite startet der Senat ein Pilotprojekt zum Ankauf von Belegungsrechten im Wohnungsbestand – ein teurer Widerspruch.
In Sozialwohnungen können grundsätzlich nur Haushalte mit Wohnberechtigungsschein (WBS) und entsprechend geringem Einkommen einziehen. Der Senat hat jedoch 16 Siedlungen des Sozialen Wohnungsbaus von dieser Belegungsbindung ausgenommen, um zu vermeiden, dass sich dort eine „einseitige Sozialstruktur“ bildet oder verfestigt. Man möchte Menschen mit höheren Einkommen den Zuzug ermöglichen, damit kein „Armenghetto“ entsteht. Darüber hinaus können die Bezirke seit 2002 selbstständig Sozialwohnungen von der Belegungsbindung ausnehmen. Die Bezirke handeln dabei sehr unterschiedlich. Der Senat hat keine Übersicht, wie viele Sozialwohnungen von den Bezirken freigestellt wurden.
Wegen der angespannten Wohnungsmarktsituation will der Senat nun die Freistellungen „auf ein notwendiges Maß beschränken“. Nur wenn aufgrund der Sozialdaten eine Gebietsfreistellung zwingend notwendig ist, dürfen die Bezirke auf die Wahrnehmung der Belegungsbindungen verzichten. Dazu hat der Senat einheitliche Kriterien festgelegt: den Anteil von Migranten, Arbeitslosen, Bedarfsgemeinschaften, Sozialhilfe- und Grundsicherungsempfänger sowie die Wohndauer. Eine Freistellung kommt in Betracht, wenn mindestens vier dieser sechs Indikatoren schlechter als im Berliner Durchschnitt sind. Dies trifft zum Beispiel auf alle Quartiersmanagementgebiete zu. Daher kann auch künftig in Nord-Neukölln, Kreuzberg, Moabit oder Wedding nahezu der gesamte Sozialwohnungsbestand freigestellt werden.
Soziale Stabilisierung auf Kosten Benachteiligter?
Das Bezirksamt Neukölln hat im Juli auch prompt die flächendeckende Freistellung für alle Sozialwohnungen im Ortsteil Neukölln um zwei Jahre verlängert. „Kontraproduktiv“ nennt das Reiner Wild, Geschäftsführer des Berliner Mietervereins (BMV). „Eine Stabilisierung und Verbesserung in den benachteiligten Quartieren ist notwendig“, so Wild. „In der jetzigen Wohnungsmarktsituation müssen wir aber sicherstellen, dass WBS-berechtigte Haushalte überhaupt Wohnraum finden.“ Der Neuköllner Grünen-Bezirksverordnete Jochen Biedermann kritisiert: „Das Bezirksamt ignoriert die Schieflage und entzieht sozial schwachen Gruppen mehr als 8000 Wohnungen.“
Gleichzeitig hat der Senat im Juli ein Pilotprojekt zum Ankauf von Belegungsrechten gestartet. Gesucht werden Eigentümer, die bereit sind, innerstädtische Wohnungen an WBS-berechtigte Familien mit dringendem Wohnbedarf zu einer Nettokaltmiete von anfangs höchstens 6 Euro pro Quadratmeter zu vermieten. Für ein zehnjähriges Belegungsrecht zahlt der Senat dem Eigentümer 2 Euro pro Quadratmeter monatlich. „Mit dem Erwerb von Belegungsbindungen testen wir nun einen weiteren Weg, Einfluss auf den Wohnungsmarkt zu nehmen“, sagt Stadtentwicklungssenator Michael Müller. Für diesen Testballon stehen eine Million Euro zur Verfügung. Das reicht für höchstens 60 Wohnungen.
Der Berliner Mieterverein (BMV) begrüßt grundsätzlich den Ankauf von Belegungsrechten, mahnt aber an, auch die bestehenden Sozialbindungen konsequent zu nutzen. „Ansonsten beißt sich die Katze in den Schwanz, und der Ankauf von Belegungsrechten wird den Berliner Haushalt belasten, ohne den beabsichtigten Schutz für die Mieter zu verwirklichen“, erklärt Wibke Werner vom BMV. Es fehlt auch immer noch eine Lösung für die 28.000 Sozialwohnungen, bei denen nach der Streichung der Anschlussförderung sämtliche Bindungen entfallen sind.
Jens Sethmann
MieterMagazin 9/14
Auch nach den neuen Richtlinien können die Sozialwohnungsbestände ganzer Ortsteile von der Belegungsbindung freigestellt werden (Beispiel: Kreuzberg)
Foto: Paul Glaser
Zum Thema
137.000 – Tendenz sinkend
Berlin hat zurzeit 137000 Sozialwohnungen. Der Bestand sinkt stetig, da bei älteren Sozialwohnungen die Bindungen auslaufen und seit Ende der 90er Jahre in Berlin praktisch kein sozialer Wohnungsbau mehr stattfindet. Von den 137.000 Sozialwohnungen sind 34.300 Wohnungen in Großsiedlungen von der Belegungsbindung ausgenommen. Bei 28.000 Sozialwohnungen ohne Anschlussförderung sind die Bindungen komplett entfallen. Dazu sind noch viele Wohnungen durch die Bezirke von der WBS-Pflicht freigestellt worden. Die Belegungsbindungen gelten aktuell für rund 65.000 Sozialwohnungen – weniger als die Hälfte des Berliner Bestands.
js
30.09.2014