Das Zentrum Kreuzberg (ZK) gilt vielen als heruntergekommenes Betonmonster mit kriminellem Umfeld. Einige Mieter berichten, dass selbst Familienangehörige sich weigern, sie hier zu besuchen. Dabei ist der Komplex am Kottbusser Tor längst kein soziales Ghetto mehr. Künstler, Ärzte und sogar Architekten aus aller Welt haben sich eingemietet, und einige der angesagtesten Clubs haben hier ihr Domizil.
Ende der 90er Jahre forderte der damalige CDU-Fraktionschef Klaus Landowsky die Sprengung der „Kriminalitätshochburg“. Seitdem ist aus dem „ZK“ zwar keine heile Welt geworden, aber es hat sich vieles zum Positiven gewendet. „Früher war es viel schlimmer“, sagen langjährige Bewohner. Alle können Geschichten erzählen von Messerstechereien im Treppenhaus und Junkies, die sich in den Laubengängen ihre Spritze setzten.
„1999 hatten wir eine kritische Situation“, sagt Andrea Schindler von der „Kremer Hausverwaltung“. Weil viele Wohnungen und Gewerbeeinheiten leerstanden und zudem bei vielen Bewohnern hohe Mietschulden aufgelaufen waren, stand die Betreibergesellschaft kurz vor der Insolvenz. Der neue Geschäftsführer Peter Ackermann riss das Ruder herum, indem er dem Komplex ein striktes Krisenmanagement verordnete. Die Eingangstüren wurden so umgebaut, dass man sie nicht mehr einfach aufdrücken konnte und Obdachlose und Dealer nicht mehr ins Haus gelangen konnten. In den Fahrstühlen wurde eine Videoüberwachung installiert, und die Durchgänge und Treppenhäuser ließ man von Graffiti-Künstlern gestalten. Die leerstehenden Gewerberäume wurden an Künstler und andere Zwischennutzer vermietet, zunächst gegen Betriebskostenbeteiligung, später wurde die Miete am Umsatz orientiert. „Das ist sehr gut angekommen und hat zur Belebung beigetragen“, sagt Andrea Schindler.
„Mieterbeirat, Hausverwaltung, Bezirksamt und Quartiersmanagement haben Hand in Hand gearbeitet“, sagt Celalettin Aktürk, der seit 1981 im Haus wohnt. Mittlerweile habe sich vieles verbessert. Im Blockinnenbereich wurde ein Kinderspielplatz gebaut, und das leerstehende Parkhaus – viele Jahre ein Riesenproblem – ist wieder vermietet. „Ich wohne gerne hier“, sagt Aktürk. Vor einigen Jahren hat er für seine erwachsenen Kinder die Wohnung nebenan dazu gemietet.
Leerstand war gestern
„Wir vergeben die Wohnungen vorrangig an unsere Bestandsmieter“, erklärt Andrea Schindler. Vor allem türkischstämmige Mieter leben gern im Familienverband. Sofern man keine negativen Erfahrungen mit einer Familie gemacht hat, wolle man das gern ermöglichen. Einer Verdrängung durch einkommensstärkere Mieter soll dadurch ein Riegel vorgeschoben werden. Denn von Leerstand kann längst keine Rede mehr sein. Seit 2005/2006 sei die Nachfrage nach den insgesamt knapp 300 Wohnungen stark angestiegen, heißt es bei der Hausverwaltung. „Wir könnten das Haus zweimal vermieten“, sagt Schindler.
Es seien Leute, die sich bewusst für diese Architektur und für diesen Ort entscheiden würden, meint die Mitarbeiterin der Hausverwaltung: „Die wollen mittendrin wohnen und haben keine Probleme mit dem Umfeld.“ Anders als im sogenannten Südblock, wo die Mieterinitiative „Kotti & Co“ gegen steigende Mieten protestiert, sind die Mieten im ZK seit 2008 unverändert geblieben. Bestandsmieter zahlen 4,99 Euro netto kalt pro Quadratmeter. Durch die hohen Nebenkosten – allein die kalten Betriebskosten betragen 2,40 Euro – sind aber vor allem Empfänger von Transfereinkommen trotzdem an der Grenze ihrer Belastbarkeit. Von neu Einziehenden wird 1 Euro mehr Kaltmiete verlangt.
„Wir sind richtig international geworden“, sagt Inge Raddatz, stolze Erstbezieherin im „NKZ“ („Neues Kreuzberger Zentrum“), wie der Gebäudekomplex früher hieß. Mit ihren beiden Söhnen hat sie zuerst in einer Zweieinhalbzimmerwohnung gelebt. Noch heute schwärmt sie von der „wunderschönen Wohnung“ mit der großen Wohnküche und dem Riesenbalkon. Mittlerweile ist die 79-Jährige in eine geräumige Einzimmerwohnung umgezogen. Von ihrem Balkon hat sie einen fantastischen Ausblick auf die Stadt.
Nebenan wohnt ein schwules Pärchen, „meine Jungs“, wie sie sagt, mit denen sie auch schon mal in die Szene-Bar „Möbel Olfe“ unten im Haus geht. „Die passen auf mich auf und würden mir auch helfen, wenn ich mal krank werde.“ Mit einer anderen jungen Nachbarin verabredet sie sich zum Kino, und die Tochter der türkischen Familie nebenan kann bei ihr bleiben, bis die Eltern von der Arbeit kommen. Ob sie nicht trotzdem lieber im ruhigen, sicheren Grunewald leben würde? „Nee“, meint sie entschieden, „da würde ich sterben! Ich kenne so viele junge Menschen hier, das hält lebendig.“ Das einzige, was sie stört, ist der Lärm. Demonstrationen und Verkehrskrach gab es am „Kotti“ schon immer, doch in letzter Zeit wird der Kiez zunehmend von Party-Touristen bevölkert. Vor ihrem Fenster liegt das Hostel, das vor fünf Jahren im ersten Stock der Ladenzeile eröffnet hat.
„Das Herumlungern und Partyfeiern hat zugenommen“, sagt auch Kathy Säbisch. Der Hof werde vom Party-Volk als Toilette benutzt, und bis nachts werde herumgebrüllt. Davon abgesehen fühlt sich die junge Frau, die vor sieben Jahren aus Sachsen hergezogen ist, sehr wohl. Die Verkehrsanbindung ist hervorragend, und man habe hier alles, was man brauche. Ob sie keine Angst hat? „Ich wurde noch nie belästigt“, sagt Kathy Säbisch.
Eine erstaunliche Aussage, schließlich gilt das Kottbusser Tor als gefährlicher Ort, den viele lieber meiden. „Es ist nicht so, dass man hier bedroht und verprügelt wird“, sagt auch Monika Berg. Klar, als sie 2009 von Reinickendorf hierher in die Nähe ihrer Tochter gezogen ist, war das schon ein Unterschied. Aber sie hat sich schnell eingelebt und engagiert sich auch für ihre Nachbarschaft: „Ich möchte, dass der Spielplatz mal frei von Hundekot und Spritzen ist und meine Enkel hier spielen können“, meint sie. Monika Berg arbeitet in der „Computeria“, einem Laden im Zentrum Kreuzberg, wo Leute mit geringem Einkommen das Internet nutzen oder Bewerbungen schreiben können. Was das Zusammenleben mit den türkisch- und arabischstämmigen Nachbarn betrifft, hat sie allerdings den Eindruck, dass sich viele abschotten und mit dem Wohnumfeld wenig achtsam umgehen.
Die Besucher staunen
Das sieht Monika Barthelmeß, die seit fast 40 Jahren im Haus lebt, anders. „Die Nachbarschaft ist gut, ich habe keine schlechten Erfahrungen gemacht.“ Gerade kümmert sie sich um das Meerschweinchen einer türkischen Familie, die in Urlaub ist. Die 70-Jährige wohnt mit ihrem Partner in einer Zweieinhalbzimmerwohnung im achten Stock. „Wenn Besucher kommen, bleiben die erst einmal mit offenem Mund am Fenster stehen“, erzählt sie.
Dabei können Freunde und Bekannte oft nicht verstehen, dass man ausgerechnet in diesem übel beleumundeten Betonklotz wohnt. „Wenn sie dann mal hier waren, sind sie ganz erstaunt“, erzählt Monika Barthelmeß. Ein Wermutstropfen: Seit vielen Jahren hat sie in ihrer Wohnung Schimmel an den Wänden. Ursache ist das undichte Dach. Die immer wieder versprochene Reparatur ist nun für nächstes Frühjahr geplant, wie die Hausverwaltung verlauten lässt.
Der tolle Ausblick und die gut geschnittene, schöne Wohnung waren für Monika Barthelmeß Grund genug, nicht wegzuziehen, als sich hier in den 90er Jahren Ghetto-Milieu breitmachte. Einmal fand sie zufällig ein Bündel Geldscheine im Geländer des Laubengangs. „Plötzlich stand einer mit der Knarre hinter mir.“ Doch die 70-Jährige ist nicht auf den Mund gefallen und weiß sich zu wehren.
„Zimperlich darf man hier nicht sein, das ist nichts für Weicheier“, weiß Andrea Schindler. Eine Siedlung mit Kuschelfaktor wird aus dem Zentrum Kreuzberg wohl nie werden.
Birgit Leiß
Ein Puffer für die Autobahn
Das Zentrum Kreuzberg gehört in die lange Liste der Skandalobjekte des West-Berliner Sozialen Wohnungsbaus. Die Kommanditgesellschaft, die das Hochhaus 1969 bis 1974 errichten ließ, verdiente sich dank großzügiger Steuervergünstigungen und Investitionszulagen eine goldene Nase. Der zwölfgeschossige halbkreisförmige Bau, der die Adalbertstraße überspannt, wurde von den Architekten Wolfgang Jokisch und Johannes Uhl entworfen. Die besondere Form hatte mit der damals geplanten Autobahntrasse zu tun. Der Baukörper sollte sozusagen als Puffer wirken. Zum Komplex gehörten ursprünglich zwei Parkhäuser – eines davon wurde 1988 zu einer Kita umgebaut – sowie eine Ladenzeile im Erdgeschoss und im ersten Stock. Eigentümer ist bis heute die Kommanditgesellschaft.
bl
21.12.2016