Die Berliner Wohnungsbaugenossenschaften werben mit dem Slogan: „Mit uns wohnen Sie anders: sicher, fair und günstig.“ Doch das Wohnen wird auch in den Genossenschaften immer teurer. Einige Vorstände beschließen ohne Beteiligung der Mitglieder beträchtliche Erhöhungen der Nutzungsentgelte – das sind die „Mieten“ der Genossenschaften – bei Neuvergaben, andere Wohnungsgenossenschaften bauen vor allem Wohnungen im Hochpreissegment.
In Berlin verwalten heute mehr als 80 Wohnungsgenossenschaften circa 180.000 Wohnungen – über zehn Prozent des Bestandes. Einige von ihnen wirtschaften allerdings nicht im Sinne des genossenschaftlichen Gedankens, sondern agieren wie profitorientierte Unternehmen. Gewinne werden dann nicht an die Mitglieder ausbezahlt und auch nicht dafür genutzt, die Nutzungsentgelte zu senken oder die Wohnungen der Baugenossen preiswert zu modernisieren, sondern in den Bau teurer, noch mehr Profit abwerfender Wohnungen investiert.
Preisschub bei neuen Wohnungen
Die Baugenossenschaft „Ideal“ vollzieht am Kormoranweg, ohne die Mitglieder in den Planungsprozess einbezogen zu haben, eine „Nachverdichtung“ durch neun drei- bis fünfgeschossige Gebäude mit insgesamt 100 Wohnungen plus zwei Tiefgaragen. Das Wohnumfeld für die bisherigen Bewohner verschlechtert sich durch das Roden von Bäumen, die Bebauung von Grünflächen und den stärkeren Verkehr. Die Mitglieder der Baugenossenschaft sind empört. Genossenschafts-Pressesprecherin Kerstin Brehmer wiegelt ab: „Die Proteste im Vorfeld möchten wir nicht weiter erläutern – unsere Erklärungen dazu wären ausführlich und umfangreich.“ 9 bis 10 Euro pro Quadratmeter soll die Netto-Kaltmiete für die neuen Wohnungen betragen.
Auch der „Wohnungsbau-Verein Neukölln e.G.“ (WBV) sorgt für negative Schlagzeilen. Die Genossenschaft will zwei Blöcke in der Heidelberger Straße 15-18 mit 75 Wohnungen abreißen, um dort Neubauten zu errichten. Zurzeit zahlen die Betroffenen rund 5 Euro Nutzungsentgelt netto kalt, im Neubau werden es mindestens 8,50 Euro pro Quadratmeter sein – zu viel für die bisherigen Bewohner. 14 Bewohner haben sich zusammengetan, um sich den Plänen zu widersetzen.
Die Genossenschaft Marzahner Tor erhöht das Nutzungsentgelt regelmäßig bis zu einem Wert von 5 Prozent unterhalb der Mietspiegelobergrenze. Bei Neuvermietungen überschreitet sie die ortsübliche Vergleichsmiete „nur“ um 20 Prozent.
Immer wieder treffen Genossenschaftsvorstände Entscheidungen, die direkt oder indirekt zu Wohnkostensteigerungen führen. So baut die „Berolina“ in der Dresdener Straße 95 Wohnungen mit Nutzungsentgelten bis zu 12,50 Euro.
Als sich kürzlich Frau S.* um eine Wohnung bei der Wohnungsbaugenossenschaft „Solidarität“ bewarb, wurde sie aufgefordert, die Genossenschaftsanteile und das Eintrittsgeld bereits am Tag des Vertragsabschlusses bar zu zahlen. Diese Zahlungen werden eigentlich erst bei Vertragsbeginn oder bei der Wohnungsübergabe fällig. Frau S. bezieht ALG II, hat aber keinerlei Mietschulden und eine tadellose Schufa. Allerdings: Ihr Job-Center hätte erst bei Vertragsbeginn die Kosten übernommen. Sie musste deshalb auf die Wohnung verzichten.
In vielen Genossenschaften regt sich Widerstand gegen die Politik ihrer Vorstände, die mit den hehren Zielen der Genossenschaftsbewegung nichts mehr zu tun hat und direkt oder indirekt die Mieten in die Höhe treibt. Mitglieder Berliner Wohnungsgenossenschaften, organisiert in der Initiative „Genossenschaft von unten“, fordern eine Änderung des Genossenschaftsgesetzes und die Erarbeitung einer Mustersatzung.
Die uneingeschränkte Entscheidungsgewalt der Vorstände müsse begrenzt werden. Sie sollten nicht länger vom Aufsichtsrat eingesetzt, sondern von der General- beziehungsweise Vertreterversammlung gewählt werden. Denn die Genossenschaftsmitglieder sind keine Mieter. Sie sind Miteigentümer.
Rainer Bratfisch
* Der Name ist der Redaktion bekannt.
Kulturerbe Genossenschaft
Neben dem Chorsingen, der Morsetelegrafie, der Flößerei und dem Orgelbau steht auch die Genossenschaftsidee im bundesweiten Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes. In der internationalen „Repräsentativen Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit“ der UNESCO ist eine solche Form der gesellschaftlichen Selbstorganisation bislang nicht vertreten. Im März 2015 hat Deutschland deshalb die Genossenschaftsidee für die Aufnahme in die internationale Liste nominiert. Jetzt müssen die Mitglieder dafür sorgen, dass diese gute Idee nicht durch die Preistreiberei einzelner Genossenschaften in Verruf gerät.
rb
26.01.2017