Wohnen auf 6,4 Quadratmetern? Oder ein sicherer und warmer Schlafplatz in einer Box oder das winzige eigene Häuschen über den Dächern Berlins: Entwürfe für Kleinstwohnungen gibt es mittlerweile viele. Fast alle sind unkonventionell und nicht immer sind sie gern gesehen von den Behörden. Aber die Wohnungsprobleme dieser Stadt sollten Grund genug sein, über eine Verwirklichung solcher Ideen nachzudenken.
Immer wieder bleiben Passanten stehen, lesen den Aushang, der im Fenster klebt und kommen dann näher, um durch die Scheiben nach drinnen zu schauen: Eine komplette Wohnung auf 6,4 Quadratmetern – geht denn so was? Wo man doch hierzulande flächenmäßig eher großzügig lebt? Wohnten die Deutschen im Durchschnitt 1972 noch auf weniger als 30 Quadratmetern, so sind es heute rund 45.
Der Berliner Architekt Van Bo Le-Mentzel hat dem Wohnflächenfraß sein „Tiny House“ entgegengesetzt: ein Mini-Haus aus hellem, duftendem Holz, hohen Fenstern und einer imposanten Eingangstür. Wer eintritt, erlebt ein Raumwunder, denn auf einer Grundfläche von 2 Metern Breite und 3,20 Metern Länge sind Küche, Bad, Toilette, Schlaf- und Arbeitszimmer, sogar eine Abstellkammer und eine Schlafmöglichkeit für Gäste untergebracht. Alles durchdacht und effizient geplant, ineinander geschachtelt, ausklappbar, mit Holz aber auch Gas zu beheizen. Die Deckenhöhe von 3,60 Meter gibt der Mini-Wohnung etwas von der Großzügigkeit der Berliner Gründerzeit und schafft zusätzlich Raum nach oben.
Bei wieviel Quadratmetern beginnt die Menschenwürde?
„Wir hatten es einige Monate am Kreuzberger Carl-Herz-Ufer zwischen Autos geparkt und dort auch zum Probewohnen vermietet“, so der Architekt. Bis zu 300 Interessierte standen auf der Warteliste. Le-Mentzels Wohnprojekt, erst einmal nur ein Experiment, ist nun seit März auf dem Außengelände des Bauhaus-Archivs in der Klingelhöferstraße 14 zu sehen. „Die Idee dazu ist mir 2015 gekommen, als ich die große Not der angekommenen Flüchtlinge gesehen habe“, erklärt der Sohn laotischer Migranten. „Da habe ich mich gefragt: Was braucht man eigentlich, um menschenwürdig zu wohnen?“ Er besorgte sich Holz und griff zum Akkuschrauber.
Genauso pragmatisch ist auch Sven Lüdecke an die Verwirklichung seiner Idee vom „Little Home“ gegangen. Der Fotograf verfügt zwar nicht über die Kenntnisse des Architekten, aber er hat durchaus handwerkliches Geschick, ein Gefühl für Proportionen, und dazu den besonderen Blick auf die Ärmsten in seiner Heimatstadt Köln, auf die Obdachlosen: „Dann sah ich im Fernsehen einen Beitrag über ein Kunstprojekt in New York: Aus Resten wurden da kleine Wohnboxen gebaut“, erzählt Sven Lüdecke. „Ich habe mir überlegt, wie groß so eine Wohnhütte für einen Obdachlosen sein müsste und wie ich sie ausstatten könnte, damit das Nötigste hineinpasst.“ Sein „Little Home“ ist jetzt 2,80 Meter lang, 1,20 Meter breit und 1,60 Meter hoch. Auf etwa drei Quadratmetern ist in der Hütte Platz für eine Matratze, ein Regal, Feuerlöscher, Rauchmelder, Erste-Hilfe-Kasten, Chemietoilette und ein Waschbecken (ohne Wasseranschluss). Das Haus hat Tür und Fenster, ist gegen Kälte mit Schaumstoff und Styropor isoliert, und es kostet in seiner Herstellung nicht mehr als 650 Euro.
Die erste Wohnbox baute Sven Lüdecke im November vorigen Jahres, auf eigene Kosten. Inzwischen aber ist ein Verein gegründet worden, und es werden Spendengelder für das kleine Holzhaus gesammelt, denn nunmehr werden diese Unterkünfte mit dem Schlüssel und einer Schenkungsurkunde an ihre künftigen Bewohner übergeben.
Ämter zeigen sich skeptisch
„Wir helfen gerne bei Reparaturen, aber die Besitzer sollen selber für ihr ,Little Home‘ verantwortlich sein“, so Häuslebauer Lüdecke. Und auch wenn die Stadt Köln sich seinem Projekt noch immer verweigert – sie hat die Boxen auf kommunalem Grund verboten –, zwölf Häuser hat Lüdecke trotzdem inzwischen mit seinem Team gebaut, zu dem mittlerweile auch Obdachlose gehören.
800 Anfragen nach der Unterkunft liegen schon auf seinem Tisch – aus München und Frankfurt, Hamburg und Berlin – eine wichtige Ermutigung für Ideen und Projekte wie die von Van Bo Le-Mentzel und Sven Lüdecke. Denn die sind von Ämtern und Behörden nicht unbedingt gern gesehen: Weil sie unkonventionelle Antworten auf die Wohnungsprobleme der Städte geben, nicht immer ins Regelwerk einzuordnen sind – aber auch, weil sie damit einem kapitalgelenkten Immobilienmarkt etwas entgegensetzen wollen.
„Wer heute noch mitten in der City wohnen will, weil er da arbeitet, studiert und sein soziales Umfeld hat“, so der Architekt Simon Becker, „der muss sich inzwischen sowieso auf deutlich weniger Platz einrichten.“ Zusammen mit seinem Kollegen Andreas Rauch entwickelte er die Idee zu „Cabin Spacey“, einem kleinen Wohncontainer, der genau dort hinpasst, wo es noch viele freie Flächen gibt: auf die Dächer Berlins. Mit einer Grundfläche von gerade einmal 20 Quadratmetern passt das Mini-Apartment auch in solche Lücken, Ecken und auf Restflächen, die bebaubar wären, aber nicht aufgestockt werden können und deshalb ungenutzt bleiben. In einem Cabin Spacey steckt alles, was ein oder zwei Bewohner zum Leben brauchen: Küche, Bad, Wohnraum und Schlafempore. Das Häuschen auf dem Dach hat große Fenster, die viel Licht hereinlassen, entspricht den Anforderungen der Energieeinsparverordnung und ist mit einem Solarpanel ausgestattet, das in der Regel den Strombedarf decken kann. Es braucht auf einem geeigneten Flachdach einen Lastenträger, der zwischen sechs und 15 Tonnen trägt, und eine Verbindung mit dem Versorgungsnetz des Gebäudes darunter. Dann kann das vorgefertigte Häuschen, das je nach Ausstattung zwischen 50.000 und 100.000 Euro kostet, mit einem Kran aufs Dach gehoben und angeschlossen werden. „Das alles lässt sich übrigens gleich mit einer Dachsanierung verbinden“, erklärt Simon Becker und verweist auf die Ressource, die Berliner Dächer darstellen. Etwa 50.000 Wohnungen könnten dort entstehen.
Für Cabin Spacey gibt es längst die ersten Interessenten: eine Berliner Wohnungsbaugesellschaft, aber auch private Bauherren aus Deutschland, Österreich und sogar aus den USA. Denn das kleine Heim braucht nicht nur wenig Platz, es ist auch flexibel und könnte mit seinem Besitzer sogar umziehen – von einem Dach in Berlin auf ein anderes in München oder Hamburg.
Rosemarie Mieder
Mut zur Lücke
„20 M2 BERLIN“ lautete im vergangenen Jahr die Herausforderung für Architekturstudenten der Hochschule Darmstadt. Ihr Thema: Kleinstwohnungen in Stadträumen, die man eigentlich kaum sieht. Die Wohnungsbaugesellschaft Berlin-Mitte (WBM) hatte sie gebeten, sich doch einmal über jene Baulücken Gedanken zu machen, die in den 1980er Jahren beispielsweise in der August- und der Joachimstraße in Mitte entstanden waren, weil rechtwinklige Plattenbauten auf gründerzeitliche, gekrümmte Straßenzüge trafen. Oft waren die kleinen Flächen von der Straße aus mit Waschbetonmauern verkleidet und damit unsichtbar.
Ihr Professor Carsten Gerhards: „Das Spannende für die Studenten: die 20 Quadratmeter mussten Platz für alle Notwendigkeiten bieten, die eben zum Wohnen dazugehören“ – waschen und Toilette, kochen und essen, schlafen und auch arbeiten oder studieren. Ihre kreativen Lösungen zeigten, welche Baulandreserven in den Mikroräumen einer Großstadt wie Berlin liegen können. Carsten Gerhards: „Und die Studierenden haben eins ganz sicher gelernt: Man kann auf sehr kleinen Flächen gut leben – Wohnqualität resultiert nicht aus Größe!“
rm
04.05.2017