Leitsatz:
Zu den Voraussetzungen einer zulässigen Wahrunterstellung gehört es, dass die unter Beweis gestellte Behauptung so übernommen wird, wie die Partei sie aufgestellt hat. Das bedingt bei abwägungsrelevanten Umständen, dass diese grundsätzlich auch mit dem ihnen vom Behauptenden beigelegten Gewicht als wahr unterstellt werden (Fortführung des Senatsbeschlusses vom 11. Oktober 2016 – VIII ZR 300/15, NZM 2017, 23 Rn. 15).
BGH vom 15.3.2017 – VIII ZR 270/15 –
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Anmerkungen des Berliner Mietervereins
Es ging in dieser Entscheidung vorrangig um die Frage, in welchem Umfang sich Gerichte mit vom Mieter vorgetragenen Härtegründen bei der Entscheidung über eine Fortsetzung eines Mietverhältnisses nach § 574 Abs. 1 BGB auseinanderzusetzen haben.
Hier wollte der Sohn des Vermieters die gekündigte Mieterwohnung im Erdgeschoss mit seiner Wohnung im gleichen Haus zusammenlegen und in die größere Wohnung zusammen mit seiner Frau und zwei kleinen Kindern einziehen. Die Mieter legten Widerspruch gegen die Kündigung ein und beriefen sich auf die sogenannte Sozialklausel. Sie machten als Härtegründe geltend, dass der 87-jährige Mieter zahlreiche gesundheitliche Einschränkungen habe und an einer beginnenden Demenz leide. Ein Umzug und damit ein neues Wohnumfeld sei ihm nicht zuzumuten. Das Landgericht urteilte jedoch, diese Härtegründe verdienten keinen Vorrang gegenüber den Interessen der Vermieterseite, nicht länger auf unabsehbare Zeit im eigenen Haus in beengten, für eine Familie mit zwei Kindern nicht angemessenen Wohnverhältnissen zu leben. Die Räumungsklage hatte deshalb vor dem Landgericht Erfolg.
Der BGH hob jedoch das Urteil des Landgerichts auf und verwies den Rechtsstreit dorthin zurück. Die Mieter können zumindest vorläufig wohnen bleiben.
In seinem Urteil hat der BGH die besondere Bedeutung unterstrichen, die bei der Prüfung von Härtegründen nach § 574 Abs. 1 BGB der sorgfältigen Sachverhaltsfeststellung und Interessengewichtung zukommt. Insbesondere dürfe eine (vermeintliche) Wahrunterstellung vorgetragener Härtegründe nicht dazu führen, dass es das Gericht zum Nachteil des Mieters unterlasse, sich ein in die Tiefe gehendes eigenständiges Bild von dessen betroffenen Interessen zu verschaffen.
Nach § 574 Abs. 1 BGB könne der Mieter einer an sich gerechtfertigten ordentlichen Kündigung widersprechen und die Fortsetzung des Mietverhältnisses verlangen, wenn die Beendigung des Mietverhältnisses für ihn eine Härte bedeuten würde, die auch unter Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters nicht zu rechtfertigen sei. Dabei müssten sich die Konsequenzen, die für den Mieter mit einem Umzug verbunden wären, deutlich von den mit einem Wohnungswechsel typischerweise verbundenen Unannehmlichkeiten abheben, um als tauglicher Härtegrund in Betracht zu kommen.
Dies habe das Landgericht im Ausgangspunkt zwar zutreffend erkannt. Es habe sich dann jedoch darauf beschränkt, den Vortrag der Mieter zu den Härtegründen formal als wahr zu unterstellen und anschließend zu dem Ergebnis zu gelangen, dass diese Härten keinesfalls Vorrang gegenüber den Interessen der Vermieterseite verdienten. Damit habe es das Landgericht unterlassen, sich inhaltlich mit der im Vortrag der Mieter zum Ausdruck gekommenen existenziellen Bedeutung der Beibehaltung der bisherigen Wohnung in der gebotenen Weise auseinanderzusetzen.
Gerade bei drohenden schwerwiegenden Gesundheitsbeeinträchtigungen oder Lebensgefahr seien die Gerichte verfassungsrechtlich gehalten, ihre Entscheidung auf eine tragfähige Grundlage zu stellen. Das Gericht müsse sich gegebenenfalls mit Hilfe eines Sachverständigen ein genaues und nicht nur an der Oberfläche haftendes Bild davon verschaffen, welche gesundheitlichen Folgen im Einzelnen für den Mieter mit einem Umzug verbunden seien, insbesondere welchen Schwergrad zu erwartende Gesundheitsbeeinträchtigungen erreichen könnten und mit welcher Wahrscheinlichkeit dies eintreten könne.
16.09.2017