Die aktuelle Krise offenbart besonders deutlich, dass es nicht das Ziel der „sozialen“ Marktwirtschaft ist, menschliche Grundbedürfnisse wie Ernährung, Wohnen oder die Energie- und Wasserversorgung für alle Bürger:innen zu sichern. Das untermauern auch die jüngsten Zahlen einer Studie zur Energiearmut in Deutschland.
Nach mehreren Monaten mit drastischen Preiserhöhungen im Supermarkt, beim Friseur, aber besonders bei Strom und Gas ist noch kein Ende in Sicht: Auch die Krankenkassenbeiträge sollen 2023 steigen, und laut dem ifo Institut für Wirtschaftsforschung plant die Mehrheit von Unternehmen in verschiedenen Wirtschaftszweigen weitere Preiserhöhungen. Zunehmend kommen Menschen ohne starke Einschränkungen ihres Lebensstandards nicht mehr über die Runden.
Energiearmut in Deutschland
Da die Teuerungen besonders durch die Energiepreise getrieben werden, ist nach Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) mittlerweile ein Viertel der Haushalte in Deutschland akut von Energiearmut bedroht. Im Jahr 2021 waren es noch 14,5 Prozent. Als „energiearm“ gelten nach geläufiger Definition Haushalte, die mehr als zehn Prozent des Haushaltsnettoeinkommens für Strom und Energie, beispielsweise zum Heizen und für Warmwasser ausgeben. Für viele Menschen stellt Energiearmut keineswegs ein neues Problem dar, sie geraten jedoch durch die aktuelle Krise in noch größere Bedrängnis.
Ungerechte Verteilung der Entlastungen
Die im dritten Entlastungspaket der Bundesregierung vorgesehene Strompreisbremse sollte hier Abhilfe schaffen. Die Ausgestaltung ist jedoch nicht gerecht. Die geplante Subventionierung eines Basisverbrauchs, der sich am Durchschnittsverbrauch von Vergleichshaushalten orientiert, unterstützt auch diejenigen Haushalte, die sich die höheren Kosten leisten könnten. Wohlhabendere Haushalte verbrauchen mehr Strom, allerdings müssen sie einen weitaus niedrigen Anteil ihres Einkommens für Energie ausgeben als finanzschwächere Haushalte.
Hinzu kommt, dass sich Menschen mit weniger Geld ohnehin schon stärker einschränken müssen und die Belastung bei ihrem eigentlich notwendigen Bedarf noch höher liegen würde. Laut Statistischem Bundesamt sahen sich bereits 2020 – vor dem massiven Anstieg der Energiepreise – neun Prozent der Haushalte in Deutschland nach eigenen Angaben nicht in der Lage, angemessen zu heizen. Neben erheblichen Einbußen in Lebensqualität sowie gesundheitlichen Risiken, führt mangelhaftes Heizen häufig auch zu Schimmelbefall in der Wohnung, was wiederum zu einer schlechten Wohnsituation und zusätzlichen Kosten führt.
Sicher durch den Winter?
Auch die Mitte Oktober von der Expert:innenkommission Gas und Wärme der Bundesregierung vorgeschlagenen Entlastungsmaßnahmen greifen für eine ausreichende und zielgerichtete Entlastung von bedürftigen Haushalten viel zu kurz. Für die Industrie sollen ab dem 1. Januar 2023 für 70 Prozent des Vorjahresverbrauchs die Preise auf 7 Cent/kWh gedeckelt werden. Für Privathaushalte soll die Bremse erst im März und April gelten und der Preis nur auf 12 Cent/kWh für 80 Prozent des Vorjahresverbrauchs gedeckelt werden. Die Differenz zum Preis beim Anbieter zahlt in beiden Fällen der Staat. Zusätzlich soll dieser einmalig die Abschlagszahlung im Dezember für Privathaushalte übernehmen. Weiterhin ist ein Härtefallfonds geplant, dessen Ausgestaltung allerdings noch komplett offen ist.
Keine Rücklagen für ungeplante Ausgaben
Die schlechteren Konditionen für Privathaushalte sind eine politische Entscheidung und lassen die jetzt schon desolate Lage vieler Menschen außer Acht. Während der Gaspreis für Neukunden vor einem Jahr noch unter 7 Cent/kWh lag, ist selbst „nur“ eine Anhebung auf 12 Cent/kWh für viele nicht tragbar. Zudem soll die Preisbremse erst ab März gelten – für die kalten Wintermonate erachtet die Expert:innenkommission die einmalige Übernahme der Abschlagszahlung im Dezember als ausreichend. Die Begründung, man wolle damit weitere Sparanreize schaffen, könnte im Hinblick auf die finanzielle Lage von weiten Teilen der Bevölkerung zynischer kaum sein. Während wohlhabende Haushalte die Unterstützung nicht unbedingt nötig haben, kriegen sie ihre oft höheren Abschlagszahlungen erstattet und einen höheren Verbrauch subventioniert, bekommen also insgesamt deutlich mehr. Dagegen müssen auch Menschen mit weniger Einkommen und Ersparnissen ihren oft schon unter den eigentlichen Bedarf beschränkten Verbrauch um weitere 20 Prozent senken, damit die Bremse bei ihnen voll greift. Hinzu kommt, dass Menschen mit kleinen Einkommen häufiger in Gebäuden leben, die zu den schlechtesten Energieeffizienzklassen gehören, was sparsames Heizen zusätzlich erschwert. Für die Nachforderungen bei den Betriebskosten oder gestiegene Abschläge für Strom und Gas wird die Einmalzahlung der Abschläge im Dezember für viele Haushalte nicht reichen: Im Jahr 2021 war laut Statistischem Bundesamt ein knappes Drittel der Deutschen nicht in der Lage, ungeplante Ausgaben über 1.150 Euro zu bestreiten.
Ärmeren Menschen drohen Versorgungssperren und Wohnungsverlust
Die Politik sollte dabei insbesondere die Situation von Menschen, die zur Miete wohnen, in den Fokus rücken. Laut Bundesregierung galt 2019 ein Viertel der Mieter:innen als arm, verdienten also weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens in Deutschland. Durch die Corona-Krise dürfte sich ihre Lage noch verschärft haben. Im Gegensatz zu Wohneigentümer:innen laufen Mieter:innen Gefahr, bei Zahlungsverzug nicht nur Strom und Gas abgestellt zu bekommen – ihnen droht die Kündigung des ganzen Mietvertrags.
Um die Menschen in Deutschland sicher durch den Winter zu bringen, braucht es daher eine stärkere Entlastung, die die besonders Bedürftigen in den Fokus rückt. Um die Gaspreisbremse für private Haushalte fairer zu gestalten, ließe sich beispielsweise eine Unter- und Obergrenze des Verbrauchs definieren, innerhalb derer der günstigere, staatlich subventionierte Preis gilt. Weiterhin braucht es Regelungen, die Mieter:innen vor Kündigungen aufgrund von Zahlungsrückständen schützen – und davor, dass Vermieter:innen oder Versorgungswerke den Gashahn zudrehen oder den Strom abschalten.
Die Maßnahmen greifen kurzfristig und verhindern akute Notlagen in diesem Winter. Darüber hinaus muss aus unserer Sicht der Diskurs verstärkt werden, wie wir die Daseinsvorsorge für alle Bürger:innen langfristig sichern können. Wesentliche Lebensbereiche, zu denen auch die Energieversorgung zählt, sollten daher in der öffentlichen Hand und unter demokratischer Kontrolle liegen.
Moritz Lang
19.10.2022