Sogenannten Doppelspitzen – Führungsduos, die gemeinsam und gleichberechtigt eine Leitungsfunktion ausüben – begegnet man in der Politik schon seit längerer Zeit. Seltener gibt es sie in Wirtschaftsunternehmen und Verbänden, aber zunehmend werden auch dort solche neuen Führungsstrukturen diskutiert. Der Berliner Mieterverein wird seit September dieses Jahres von einem Führungstrio geleitet. Drei Personen an der Spitze: das ist eher ungewöhnlich. Wie werden sie das Schwergewicht Berliner Mieterverein – aktuell: 188.000 Mitglieder – steuern? Und wohin werden sie es steuern? Ein Gespräch mit den drei BMV-Geschäftsführenden Wibke Werner, Sebastian Bartels und Ulrike Hamann.
MieterMagazin: Sie haben gemeinsam mit dem Vorstand vereinbart, dass Sie den Mieterverein als Dreierspitze gleichberechtigt leiten wollen, was versprechen Sie sich von diesem Modell?
Bartels: Sechs Augen nehmen in jedem Fall mehr wahr als zwei. Außerdem erlaubt dieses Vorgehen eine rationellere Aufgabenbewältigung und hilft Fehler vermeiden.
Hamann: Die Arbeit zu teilen, aber Entscheidungen gemeinsam zu treffen ist das, was nach unserer Auffassung gerade bei den Herausforderungen gut funktioniert, die wir vor uns haben. Gut ist auch, dass wir gleichzeitig an unterschiedlichen Orten sein und an unterschiedlichen Themen arbeiten können, wo immer wir es aber für wichtig halten, das Anstehende dann gemeinsam diskutieren. Ein so großes Schiff wie den Berliner Mieterverein kann man zusammen viel besser lenken als alleine.
Werner: Die Idee ist auch, Aufgaben gemeinsam anzugehen und sich beim Einarbeiten in die verschiedenen Arbeitsbereiche zu unterstützen und zu entlasten. Wir sind ein großer Verein, in dem wir alle gemeinsam dieses Schiff Mieterverein lenken und zum Fahren bringen. Auch sind die Themenfelder so komplex – da ist es gut zu wissen, Entscheidungen nicht alleine treffen zu müssen.
MieterMagazin: Kommen wir zu den politischen Themen Die beispiellose Energiekrise derzeit bringt viele Menschen in eine finanziell bedrohliche Situation. Wo sieht der Mieterverein hier Lösungen?
Werner: Zum Einen geben wir allen Nachfragenden Tipps, wie sie den Wasserverbrauch reduzieren und ihr Heizverhalten optimieren können. Außerdem bieten wir die rechtliche Prüfung der Heizkostenabrechnung sowie die weitere Unterstützung in der Auseinandersetzung mit den Vermieter:innen an. Schließlich suchen wir auch mit den Vermieterverbänden und auch Verbraucherorganisationen das Gespräch, um gemeinsam zu überlegen, wie verhindert werden kann, dass Menschen ihre Wohnung aufgrund von Energiekostensteigerungen verlieren.
Hamann: Deutschlandweit lebt ein Drittel der Menschen schon an der Grenze zur Armut. Es droht eine Wohnungsnot, die sich aus dem Anhäufen von Energieschulden ergibt. Und da sind momentan keine Lösungen in Sicht. Auch mit einem Moratorium, das energieschuldenbedingte Kündigungen verhindert, lassen sich diese Schulden nicht abbauen.
Bartels: In einer Situation wie der jetzigen fällt uns auch die vernachlässigte energetische Modernisierung auf die Füße. Wir haben einen verhältnismäßig geringen Modernisierungsgrad im Wohnungsbestand. Die Bestandsgebäude, die vor 1979 errichtet worden sind, weisen mehrheitlich die schlechtesten Effizienzklassen auf. Und genau dort wohnen auch die ärmeren Mieter:innen. Geringere Einkünfte – höhere Ausgaben für die Heizung: Hier muss ganz schnell gehandelt werden.
Hamann: Die verschlafene Energiewende zeigt jetzt ihre ganze Tragweite. Die jetzigen Entlastungspakete sind kurzfristige Maßnahmen. Mittel- und langfristig braucht es eine komplette Änderung des Energiemarktes und der Wohnungsversorgung.
MieterMagazin: Anderes aktuelles Thema: der Wohnungsneubau. Die Messlatte für die Neubauzahlen wurde unrealistisch richtig hoch gehängt. 400.000 bundesweit, 100.000 in Berlin sollen bis Ablauf der Legislaturperiode neu entstehen. Ist das nicht Ankündigungspolitik nach dem Motto „Seht mal her, wir tun etwas“ und am Schluss wird das verfehlte Ziel dann wieder wortreich mit unvorhersehbaren Faktoren entschuldigt?
Bartels: Diese Zahlen von 400.000 Neubauwohnungen im Bund beziehungsweise 100.000 in Berlin waren wahrscheinlich von Anfang an zu hoch gegriffen – und sie lenken davon ab, dass die Zahl der Sozialwohnungen, die wir wirklich brauchen, entsprechend bescheiden ausgefallen war.
Werner: Ich finde es absurd, dass es immer nur der Neubau ist, der den Wohnungsmarkt entspannen soll. Bis durch Neubau diese Wirkung eintritt, vergeht eine lange Zeit. Im Berliner Mieterverein appellieren wir, den Blick mehr auf die Bestandsentwicklung zu richten. Einerseits aus Klimaschutzgründen – jeder Neubau, jede Versiegelung von Flächen gefährdet die Einhaltung der Klimaschutzziele. Zweitens weil der Neubau für Menschen mit mittleren und niedrigen Einkommen keine Entlastung bringt. Man hätte die Wohnungsversorgung schon seit Langem viel kreativer angehen müssen. Hier in Berlin ist uns das Verständnis des Begriffes „Versorgung“ aber abhanden gekommen. Wohnen wird mit den Begriffen des Marktes belegt und auch so verstanden.
Hamann: Wohnen ist ein Grundbedürfnis. Ich kann mich entscheiden, ob ich auf ein Auto verzichte oder nicht. Ich kann mich aber nicht entscheiden, auf das Wohnen zu verzichten. Wir sehen gerade, dass der Markt komplett daran scheitert, die Wohnungsfrage in irgendeiner Form zu lösen – jedenfalls für die Mehrheit der Bevölkerung.
MieterMagazin: Auch das von der Regierenden Bürgermeisterin Giffey angestoßene „Bündnis für Neubau und bezahlbaren Wohnraum“, setzte sich mit einer leistbaren Wohnungsversorgung auseinander. Der Berliner Mieterverein hat seine Unterschrift unter die Abschlusserklärung verweigert.
Bartels: Wir hatten zuvor viele für unsere Mitglieder wichtige Forderungen zur Mietenbegrenzung vorgetragen – davon fand sich nichts wieder in den Abschlussvereinbarungen. Und das, was sich dort fand, ist nicht verbindlich.
Hamann: Außerdem hat dieses Bündnis für Neubau und bezahlbaren Wohnraum bisher weder für das eine noch für das andere die Voraussetzungen geschaffen. Vieles geht nicht über das hinaus, was ohnehin schon gesetzlich geregelt ist – und wurde dann auch noch als Appell an die Wohnungswirtschaft verfasst.
Werner: Als Mieterverein müssen wir uns auch gegenüber unseren Mitgliedern erklären. Wenn wir eine Bündniserklärung unterschreiben, die für sie keine Wirkung hat, fragen sie zu recht: Warum unterstützt Ihr sowas?
MieterMagazin: Zum Schluss eine Frage zur Zukunft dieses Vereins: Gibt es in Organisation, Struktur und Personalausstattung Defizite, die behoben werden müssen?
Werner: Wir werden unsere Beratungsstruktur weiter verbessern, und wir müssen neue Bedarfsanforderungen berücksichtigen – wie zum Beispiel jetzt bei der Energiepreisentwicklung. Im Übrigen müssen wir zusehen, dass wir weiterhin Mitglieder für unseren Verein begeistern und gewinnen können.
Bartels: Es gibt die Überlegung, Fachleute aus dem Bereich Sozialarbeit zu engagieren. Viele Menschen haben nicht nur Mietrechtsprobleme, sondern psychische und soziale, die sich mit Mietproblemen mischen – und da kommt man mit einer Rechtsberatung nicht weiter.
Hamann: Ich denke, dass wir in unseren Beratungen bisher auch noch nicht genug die Vielsprachigkeit unserer Stadtgesellschaft abbilden. Wer Beratungsbedarf in einer der wichtigsten bei uns gesprochenen Sprachen hat, sollte ein entsprechendes Angebot beim Mieterverein vorfinden.
Das Gespräch führte MieterMagazin-Chefredakteur Udo Hildenstab
Das Team
Wibke Werner fing 2010 als Mitarbeiterin der Geschäftsführung beim Berliner Mieterverein (BMV) an. Fünf Jahre zuvor hatte die Berlinerin ein Jurastudium an der FU Berlin abgeschlossen und danach mit einer Kollegin und einem Kollegen eine Rechtsanwaltskanzlei (Schwerpunkt Mietrecht) eröffnet. 2015 wurde sie beim Mieterverein Stellvertretende Geschäftsführerin, gemeinsam mit Sebastian Bartels.
Bartels, Politikwissenschaftler und ebenfalls Absolvent eines Jurastudiums an der FU, hatte unmittelbar nach Staatsexamen und Anwaltszulassung 1997 erste berufliche Begegnungen mit dem BMV und wurde dort als Vertragsanwalt tätig. 2015 engagierte ihn der BMV als Stellvertretenden Geschäftsführer.
Dritte im Bunde ist Dr. Ulrike Hamann. Nach einem sozialwissenschaftlichen Studium an der Berliner Humboldt-Universität wurde sie 2015 Dozentin im Lehrbereich Stadt- und Regionalsoziologie und engagierte sich unter anderem in der Initiative für die Durchführung des Mietenvolksentscheids. Nach ihrer 2020 angetretenen Tätigkeit als Vorständin der „Wohnraumversorgung Berlin“ wechselte sie 2022 zum Berliner Mieterverein und bildet seit September gemeinsam mit Sebastian Bartels und Wibke Werner das Geschäftsführungsteam.
uh
27.10.2022