Das Bündnis Zwangsräumung verhindern vereint Menschen, die Mieterhöhungen, Verdrängung und den Verlust des Zuhauses nicht hinnehmen wollen. Anna V. ist seit mehr als zehn Jahren dabei, solidarisiert sich mit Betroffenen und kämpft mit vielfältigen Aktionen für die Abschaffung von Zwangsräumungen. Ein Hausbesuch.
Es ist Donnerstagvormittag, Anfang November, die Sonne scheint. Anna öffnet die Tür ihrer Kreuzberger Wohngemeinschaft und bietet mir einen Tee an. Wir machen es uns auf den Sofas in der offenen Wohnküche bequem, um über ihr aktivistisches Engagement zu sprechen. Der Geruch des frisch aufgebrühten Tees sorgt dafür, dass ich mich wie zuhause fühle. Zuhause – das bedeutet vor allem Sicherheit. Damit das so bleibt, setzt sich Anna seit Jahren in den unterschiedlichsten stadtpolitischen Initiativen ein. Bereits vor mehr als zehn Jahren gründete sie gemeinsam mit anderen das Bündnis Zwangsräumung verhindern. „Das Grundprinzip unserer Arbeit war von der ersten Sekunde an klar“, sagt Anna. „Gemeinsame Aktionen auf Augenhöhe, ausgehend von der Initiative der Betroffenen.“
Aktivismus auf Augenhöhe
„Den Stein ins Rollen brachte Nuriye, eine ältere Frau im Rollstuhl, die am Maybachufer wohnte“, erzählt Anna. „Ihr drohte die Zwangsräumung. Und mit einem Zettel im Hausflur machte sie auf ihre Situation aufmerksam. Nachbar:innen und weitere Engagierte reagierten sofort und unterstützten, so gut es ging.“ Verhindern konnten sie die Zwangsräumung auf Dauer nicht, sagt Anna. Aber die gemeinsame Aktion war eine wichtige Unterstützung für Nuriye, sie verschaffte ihr Zeit und gab Rückhalt.
Damit war der Grundstein für das Engagement gegen Zwangsräumungen in Berlin gelegt. Kurz darauf folgte die erste große Mobilisierung für eine Kreuzberger Familie. Schnell sind damals 40 bis 50 Unterstützende zusammengekommen. Heute besteht der Kern des Berliner Bündnisses gegen Zwangsräumungen aus 15 bis 20 Aktiven, dazu zählen (ehemals) Betroffene, Aktivist:innen und solidarische Nachbar:innen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen und aus verschiedenen Generationen. Bisweilen schließen sich weitere Mitstreiter:innen für eine begrenzte Zeit oder einen konkreten Fall an.
„Von einer Räumung bedroht zu sein, führt zu einer über allem schwebenden Existenzangst – da wird schnell alles zu viel“
Anna unterbricht ihre Schilderungen und nimmt einen Schluck Tee. Ich frage sie, wie sie eine drohende Zwangsräumung gemeinsam angehen. „Wir geben Rat, begleiten zu Terminen oder vermitteln Kontakte zu Anwält:innen.“ Selbst können sie keine Rechtsberatung geben, doch sie haben über die Jahre wichtige Erfahrungen gesammelt, die sie im Bündnis teilen. In Absprache mit den Betroffenen organisieren sie Aktionen, plakatieren und nutzen auch mal Formen des zivilen Ungehorsams, um auf die Situation einzelner Betroffener aufmerksam zu machen.
Zurzeit helfen sie Micha. Den Eigentümern seiner Wohnung gehört ein Geschäft für edle Markenschuhe am Kurfürstendamm. Dort hat das Bündnis seit dem Sommer wöchentlich Kundgebungen organisiert. Solche Aktionen sollen Druck auf die Vermieter:innen ausüben und die Fälle von Zwangsräumungen sichtbar machen. Anna und ihre Mitstreiter:innen haben die Erfahrung gemacht, dass gerade kleinere, private Eigentümer:innen davor zurückschrecken, in der Öffentlichkeit schlecht dazustehen. Das Ausmaß und die Form der Proteste sind jedoch immer an die Bedürfnisse und Wünsche der Betroffenen gebunden. „Von einer Räumung bedroht zu sein, führt zu einer über allem schwebenden Existenzangst – da wird schnell alles zu viel“, sagt Anna. „Du kannst vieles, was dir vorher alltäglich erschien, einfach nicht mehr stemmen. In dieser Situation wollen wir niemanden zusätzlich überfordern.”
Zwar steckt hinter jeder Zwangsräumung eine individuelle Geschichte, doch oft teilen die Betroffenen das gleiche Schicksal: „Früher waren Mietschulden der Hauptgrund für den Bescheid, heute sind es fast nur noch Eigenbedarfskündigungen. Vorgeschobener Eigenbedarf kann so gut wie nie bewiesen werden“, sagt Anna sichtlich frustriert. So war es auch in Michas Fall. Die Eigentümer meldeten Eigenbedarf für die Schwiegermutter an. Micha und die Aktiven des Bündnisses haben Zweifel: Die Wohnung befindet sich im dritten Stock eines Altbaus ohne Aufzug. Die Schwiegermutter ist weit über 70 Jahre alt und Gerüchten zufolge nicht mehr gut zu Fuß. Doch beweisen lässt sich das nicht. Mieter:innen können deshalb lediglich darauf hoffen, vom Gericht als Härtefall eingestuft und so vor der Räumung geschützt zu werden. „Unser größter Erfolg ist daher, wenn wir es schaffen, einen Räumungsbescheid schon vor seiner Ausstellung abzuwenden“, sagt Anna.
Ein Erfolg: Zwangsräumungen ins Licht gerückt
Das Bündnis möchte den Betroffenen seelischen Beistand bieten. Ihre dazu etablierte solidarische Prozessbegleitung zeigt vor Gericht Erfolg: „Früher entschieden die Richter:innen fast ausnahmslos gegen die Mieter:innen. Heute sind die Urteile immerhin etwas differenzierter, auch wenn wir uns noch immer oft ohnmächtig fühlen.“
Hinzu kommt, dass das Bündnis nicht die Kapazitäten hat, aktiv auf Mieter:innen zuzugehen. Von Zwangsräumung Bedrohte treten zu ganz unterschiedlichen Zeitpunkten an die Gruppe heran. In manchen Fällen bleibt nur noch eine Woche bis zur Vollstreckung des Räumungsbescheids. Das zehrt an den Kräften von allen. Was Kraft gibt: die Rückmeldung der Betroffenen, dass ihnen die erfahrene Solidarität sehr hilft – auch wenn es am Ende nicht gelingt, ihr Zuhause zu retten. „Früher liefen Zwangsräumungen stets im Verborgenen ab und die Menschen wurden damit alleingelassen. Ich bin froh, dass wir diesen Akt aus der dunklen Ecke geholt haben und dass es heute zu einer Art Selbstverständnis geworden ist, dass Zwangsräumungen verboten gehören“, sagt Anna.
Gut vernetzt den Druck verstärken
Durch das Engagement in der Öffentlichkeit hat sich das Bündnis über die Jahre mit anderen Akteuren gut vernetzt. Es bestehen Kontakte zu Aktivist:innen in vielen Städten und Ländern Europas. In Berlin zum Beispiel mit anderen ortsansässigen Initiativen wie Leerstand HabIchSaath und dem Mietenwahnsinn-Bündnis. Als Teil der European Action Coalition findet in Kürze ein Treffen mit mehr als 80 Delegierten aus verschiedenen europäischen Ländern in Athen statt. Jedes Jahr gibt es Ende März oder Anfang April einen internationalen Aktionstag, den housing action day. Dieser dient der Stärkung der gemeinsamen Strukturen, dem Erfahrungsaustausch sowie der Festigung gemeinsamer Aktionen. Durch den Blick nach außen sammeln die Aktiven Ideen für die eigene Arbeit – zum Beispiel für Nachbarschaftskommittees, wie in Spanien. „In Berlin gibt es nun in mehreren Kiezen genau solche Versuche, trotzdem ist es schwer, eine Selbstorganisierung auf die Beine zu stellen“, erklärt Anna. Was kann helfen? „Wir müssen eine andere Kultur bei Mieter:innen etablieren und deutlich machen, dass Selbstorganisation einen Wert hat und Kräfte entfaltet.“
Von der breiten Vernetzung profitieren jedoch schon jetzt immer wieder einzelne Fälle. So gab es in der Vergangenheit unterstützende Protestaktionen in anderen Städten oder gar im Ausland, wenn herauskam, dass die Vermieter:innen der von Zwangsräumung bedrohten Menschen dort ansässig sind. „Es baut natürlich viel mehr Druck auf, wenn wir direkt vor ihrer Tür stehen“, sagt Anna. Das hat auch schon mehrmals Früchte getragen – zum Beispiel in Köln und in Italien.
„Arbeit gibt es auf jeden Fall noch genug“
Wir sind mit unserem Tee fertig. Anna räumt die Tassen ab – sie muss jetzt ihrer Lohnarbeit nachgehen. Während ich meinen Notizblock einstecke, fasst sie nüchtern zusammen: „Das Bündnis hat auf jeden Fall noch immer viel zu tun.“
Über weitere Unterstützung freuen sich Anna und ihre Mitstreiter:innen deshalb sehr. Interessierte können sich per E-Mail oder telefonisch melden. Bei einem Vortreffen können beide Seiten herausfinden, ob es gut passt. Wer sich in der Gruppe engagieren will, braucht weder fachliches Vorwissen noch sehr viel Zeit. Das Credo: Jede Person bringt ein, was sie geben kann und möchte. Schon die Übernahme von kleinen Aufgaben ist eine wichtige Hilfe und kann zum Schutz vor Zwangsräumungen und Verdrängung beitragen!
Vera Colditz hat Anna V. in ihrer Kreuzberger WG besucht.
16.11.2022