Was meinen wir, wenn wir von „Gemeinwohl“ reden? Geht es um das Wohl einer Gruppe, zum Beispiel der Gesamtgesellschaft? Steht Gemeinwohl im Konflikt mit privaten Einzelinteressen? Eine Annäherung an einen vielschichtigen Begriff.
In Politik, Medien und Gesellschaft ist bisweilen von „Gemeinwohl“ die Rede – ein unscharfer Begriff. Er scheint auf das Wohl einer Allgemeinheit, also einer Gruppe zu zielen und damit im Konflikt zu privaten Einzelinteressen zu stehen. So können wir es verstehen. Aber trifft es das? Geht es bei der Aushandlung allgemeiner oder institutioneller Güter nur um die Summe aus individuellen Bedürfnissen oder vielmehr um das größte gemeinsame Anliegen einer Gruppe, zum Beispiel unserer Stadtgesellschaft?
Ein wichtiger Aspekt ist dabei die moralische Dimension. Warum? Weil wir denken, dass die Spaltungstendenzen in unserer Gesellschaft entlang sozialer Ungleichheit sowie die verstärkte Konkurrenz um knappe Güter und Ressourcen mit einem Defizit an Gemeinwohl zusammenhängen. Und weil große Teile unserer Stadtgesellschaft in den bestehenden Krisensituationen mehr Solidarität einfordern, denn es ist auch der Solidaritätsgedanke, der dem Gemeinwohl innewohnt. Weil wir glauben, dass es an der Zeit ist, dass sich noch mehr Menschen mit dem Thema befassen und dafür werben, dass existenzielle, gesellschaftliche Güter auch allen zur Verfügung stehen, unabhängig von Leistungsfähigkeit oder Herkunft.
Öffentliche Güter für das existenzielle Wohl der Gemeinschaft
Im Englischen wird der Begriff Gemeinwohl mit Commons oder „common goods“ übersetzt: gemeinsame Güter anstelle eines allgemeinen Wohls. Common goods, das sind öffentliche oder auch gesellschaftliche Güter, darunter natürliche Ressourcen wie Böden oder Wälder, aber auch Wasser. Sie gehören der Allgemeinheit und stehen damit für alle frei zur Verfügung. In England beispielsweise nutzten Bäuer:innen öffentliche Böden zu wirtschaftlichen Zwecken als Weideflächen für ihr Vieh und sicherten damit auf dem „Boden der Allgemeinheit“ ihre Existenz bis zum 15. und teilweise sogar bis zum 18. Jahrhundert. Die Aneignung von eigentlich allen zustehenden und durch niemanden geschaffenen Gütern wie Wasser, Seen, Wiesen, Wald oder auch Stadtboden durch Einzelne, schuf die Grundlage für den Reichtum Einzelner und die Armut von Vielen. Als im Zuge der Industrialisierung im 19. Jahrhundert die öffentlichen Güter immer stärker privatisiert wurden – verloren viele Menschen ihre Lebensgrundlage. Nicht nur in England ist die Idee, natürliche Ressourcen können privates Eigentum sein, bis heute ein höchst effizienter Mechanismus, wenn es darum geht, den Zugang zu von allen benötigten Ressourcen zu kapitalisieren.
Kann gemeinwohlorientiertes Handeln privatwirtschaftlich organisiert sein?
Gemeingüter sind nicht nur natürliche, aber endliche Güter, die niemand geschaffen hat, wie Boden oder Wasser, sie werden auch für elementare Dinge der Daseinsvorsorge benötigt. Aus dieser Perspektive betrachtet, betrifft das Gemeinwohl die Frage, wie Gesellschaften den Zugang zu und die Nutzung von Gütern elementarer Lebensbereiche organisieren.
Das rührt an einem wichtigen Punkt: Wie ist die Eigentumsfrage elementarer öffentlicher Güter organisiert? Oder anders gefragt: Wer regelt den Zugang zu Boden, Wasser und anderen natürlichen oder gemeinschaftlich geschaffenen Ressourcen wie das Internet? Denn zu den Gemeingütern gehören nicht nur natürliche Ressourcen, sondern auch gemeinsam geschaffene materielle oder immaterielle Güter, wie die Berliner Kiezkultur oder eben das Internet. Fraglich bleibt deswegen, ob gemeinwohlorientiertes Handeln in Bezug auf existenzielle Güter auch privatwirtschaftlich organisiert sein kann.
Nähern wir uns einer Antwort auf diese Frage, indem wir den deutschen Begriff unter die Lupe nehmen. Gemeinwohl scheint dem Wortsinn nach auf die Interessen und/oder Bedürfnisse einer nicht näher bestimmten Gesamtheit abzuzielen. Damit grenzt es sich von Einzel- beziehungsweise Individualinteressen ab. Der Fokus auf das „Wohl aller“ impliziert zudem die Notwendigkeit, ein Ideal für alle zu finden. Doch wer definiert dieses Ideal?
Ein Blick in die gelebte Praxis
Auch ohne ein greifbares Ideal oder eine klare Definition in der Hand zu haben, ist das Gemeinwohl seit Jahren ein gebräuchlicher Begriff in der (Wohnungs-)Politik. Verschiedene Akteure – darunter Politiker:innen, Verbände, Organisationen – fordern eine Orientierung am Gemeinwohl. Die Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen fasst unter diesen Begriff in ihrem Stadtentwicklungsplan Wohnen 2030 (StEP Wohnen 2030) bezahlbare Mieten für niedrige und mittlere Einkommensklassen, eine Abkehr der Wohnungswirtschaft von der Profitmaximierung und politische Möglichkeiten zum Einfluss auf zulässige Miethöhen. Während die Senatsverwaltung die Umsetzung insbesondere in der Verantwortung von kommunalen Wohnungsbaugesellschaften, Vereinen, Stiftungen und Genossenschaften sieht, beziehen manche Politiker:innen auch private Wirtschaftstreibende der Immobilienlandschaft ein.
Doch eine Wiederentdeckung der Daseinsvorsorge und des Gemeinwohls tragen längst nicht alle Akteure mit. In den vergangenen Jahren haben wir das in Wohnungsfragen leider vielfach zu spüren bekommen. Ein Beispiel ist der erfolgreiche Volksentscheid Deutsche Wohnen und Co. enteignen: Im September 2021 stimmten mehr als 59 Prozent der Wähler:innen für die Vergesellschaftung von Wohnungsunternehmen mit mehr als 3.000 Wohnungen. Die Vergesellschaftung profitorientierter Wohnungsunternehmen kann – so wie andere Vorschläge auch – ein wichtiger Baustein für ein Mehr an Gemeinwohl in unserer Stadt sein. Seitdem müssen wir jedoch zusehen, wie der Senat eine Umsetzung dieser Forderung taktisch verschleppt.
Die Gemeinschaft und ihre Bedürfnisse im politischen Fokus
Die Zweifel in der Gesellschaft mehren sich, dass die Privatisierung existenzieller Güter – darunter auch das Wohnen – der richtige Weg ist, um unsere grundlegenden Lebensbereiche zu organisieren.
Wir sehen an der Situation heute: Der Markt allein regelt nichts. Das zeigt sich nicht nur beim Wohnen, sondern auch in anderen wichtigen Versorgungsbereichen – die Corona-Pandemie legte jüngst die zunehmenden Probleme im Gesundheitssystem offen. Für viele ist klar: Wir müssen etwas ändern. Politisch gilt es, die mit den Krisen erzeugte Offenheit für andere Wege zu nutzen. Jetzt kommt es darauf an, grundlegende Fehler und Probleme in der Wohnraumversorgung anzugehen. Die soziale Wohnraumversorgung und eine Neue Wohnungsgemeinnützigkeit bieten hier eine wichtige Chance, soziale Bedürfnisse – und damit zusammenhängend den Zugang zu grundlegenden Gütern – zu priorisieren und sie vor private Gewinninteressen zu stellen. Neu ist das nicht: Aus einer wirtschaftlichen Perspektive geht es auch um die Gemeinwirtschaft. Eine solche Wirtschaftsidee hat zum Ziel, dass die gemeinschaftlich erwirtschafteten Güter nicht der Gewinnmaximierung von wenigen Menschen dienen, sondern die Bedürfnisse Vieler befriedigen.
Ein Diskussionsbeitrag von Franziska Schulte und Vera Colditz
Exkurs:
Unser Kollege Armin Hentschel, Sozialwissenschaftler und Autor, findet in seiner Studie „Gemeinwohlorientierter Wohnungsbau – Bausteine für eine Neukonzeption“ folgende Definition für das Gemeinwohl:
Als Überschrift und Arbeitstitel für die Reformvorschläge haben wir nicht den Begriff ‚Sozialer Wohnungsbau‘, sondern ‚Gemeinwohlorientierter Wohnungsbau (GWB) gewählt. Wie das Attribut ‚sozial‘ wird auch das Wort ‚gemeinwohlorientiert‘ zeit- und interessenbedingt unterschiedlich definiert. Es ist kein unwandelbares Merkmal oder dauerhafte Eigenschaft irgendeiner Institution. Definitionen, die mit dem Anspruch der Allgemeingültigkeit auftreten, sind anmaßend und weder politisch noch wissenschaftlich zielführend. Die meinungsführenden Gruppen mögen zeitweilig ein Deutungsmonopol beanspruchen, aber letztlich bleibt umkämpft, wofür Gemeinwohl steht. Wir benutzen ‚gemeinwohlorientiert‘ […] als Oberbegriff für eine politisch ausgehandelte Organisationsform und Verfahrensweise, die sich nicht vorrangig auf ungesteuerte Markt- und Preisbildungsprozesse stützen. Das heißt: Wir nennen es gemeinwohlorientiert, wenn Grundstücksverkehr, Finanzierung, Trägerschaft und die Entgelte für einen angemessen großen Teil des verfügbaren Wohnraums durch politisch festgelegte Kriterien und durch Kooperation der Gebietskörperschaften bis hinauf zur gesamteuropäischen Ebene koordiniert werden. An die Stelle einer vorrangig an Märkten und Wettbewerb ausgerichteten Bewirtschaftung, Neubautätigkeit und Preisbildung, in der die Bessergestellten und Durchsetzungsstärksten immer Vorteile genießen, werden demokratisch ausgehandelte Koordination und Kooperation gesetzt. In solchen Prozessen muss offen und ehrlich diskutiert werden, wen man als Zielgruppe staatlicher Hilfen sehen will und wie man dafür sorgen wird, dass die Hilfen, die ja überwiegend aus Steuermitteln stammen, auch die ‚Richtigen‘ erreichen.
16.11.2022