Die städtische Nachverdichtung bietet großes Potenzial zur Schaffung von neuem Wohnraum. Durch Um- und Ausbau bebauter Wohngrundstücke können nachhaltige, klimaresiliente Gebäude mit bezahlbaren Wohnungen für mehr Menschen in unserer Stadt entstehen. Doch die Realität sieht meist anders aus: Anwohner:innen und Umweltaspekte spielen bisher eine untergeordnete Rolle. Häufig leidet die Wohnqualität der Bestandsmieter:innen.
Weniger Sonnenlicht in der Wohnung, kein Vogelgezwitscher mehr vor dem Fenster und die Nachbarskinder hört man auch nicht mehr im Garten spielen. Wie auch? Den Garten gibt es nicht mehr. Im Innenhof, den bis vor wenigen Jahren Bäume und ein Spielplatz zu einem grünen Aufenthaltsort machten, steht jetzt ein weiterer Wohnblock. Was nach einem Albtraum klingt, ist für Mieter:innen der Atzpodienstraße in Lichtenberg Realität geworden und droht an etlichen weiteren Standorten in Berlin.
Stadtentwicklung vor großen Herausforderungen
Die elenden Bedingungen in zu eng besiedelten Großstädten vor rund 100 Jahren führten zum Wohnungsbauleitsatz „Licht, Luft und Sonne“ sowie unter anderem zu einem Boom des sozialen Wohnungsbaus. Beides scheint heute in Vergessenheit zu geraten. Die Klimakrise schafft obendrein große Herausforderungen und setzt neue Maßstäbe, an denen sich gute Stadtentwicklung messen muss: Nachhaltiges Bauen erfordert jetzt auch die Anpassung an höhere Temperaturen und vermehrt auftretende Extremwetterereignisse. Um die Erderwärmung nicht noch weiter anzuheizen, ist die effiziente Nutzung von Flächen, Gebäuden, Baustoffen und lokalem Wissen das Gebot der Stunde.
Nachverdichtung als Chance
Auf der anderen Seite verzeichnen Städte wie Berlin ein stetiges Bevölkerungswachstum. Der Senat rechnet mit einem Anstieg auf knapp vier Millionen Einwohner:innen im Jahr 2030. Um den Bedarf an Wohnraum zu decken, sollen bis dahin 200.000 neue Wohnungen in der Stadt entstehen. Um dieses ambitionierte Ziel zu erreichen, wird an vielen Stellen nachverdichtet, also neuer Wohnraum in bereits besiedelten Bereichen der Stadt geschaffen. Häufig geschieht das durch die Versiegelung noch vorhandener freier Flächen, beispielsweise in großen Hinterhöfen wie dem in der Atzpodienstraße. Noch viel zu selten denken Eigentümer:innen und Investor:innen die Möglichkeiten mit, die Umbau und Gebäudeerweiterungen etwa durch Aufstockungen bieten.
Neben dem Plus an Wohnungen in den begehrten Innenstadtbezirken hat Nachverdichtung und die Bestandserweiterung mittels Um- und/oder Ausbau auch in puncto Klimaschutz Vorteile gegenüber der Entwicklung neuer Siedlungen. Nach dem Leitbild der „Stadt der kurzen Wege“ nutzen dichtere Quartiere (soziale) Infrastruktur effizienter, es entstehen weniger neue Verkehrswege und auch der Bau verbraucht bei guter Planung weniger Ressourcen. Expert:innen sind sich einig: Es gilt Innenentwicklung vor Außenentwicklung.
Auf die Bürger:innenbeteiligung kommt es an
Auch die Anwohner:innen sind oft gar nicht grundsätzlich gegen Nachverdichtung. Sie befürchten allerdings Einbußen bei der Wohn- und Lebensqualität. Das eigentliche Problem ist die oft nachlässig betriebene, das heißt nicht rechtzeitige oder sogar unterlassene Bürger:innenbeteiligung. Dabei könnten gerade Anwohner:innen konstruktive Vorschläge zur Erarbeitung verträglicher Varianten einbringen, zum Beispiel geschickte Aus- oder Umbauten der vorhandenen Gebäude. Die lokale Expertise der Menschen sollte daher ein zentraler Baustein im Rahmen der Bestandsentwicklung und Nachverdichtung sein.
Die Versiegelung ist ein entscheidender Faktor
Die Realität sieht allerdings meist anders aus. Nach den Erfahrungen des „Berliner Bündnis Nachhaltige Stadtentwicklung“ (BBNS) bedeutet Nachverdichtung in etlichen Fällen eben doch: zubetonierte Grünflächen, gefällte alte Bäume, abgerissene Spielplätze und Bestandsbauten mit verminderter Sonneneinstrahlung. Eine so rücksichtslose Nachverdichtung hat fatale Auswirkungen sowohl auf die Wohnqualität als auch auf das Stadtklima.
Ein entscheidender Faktor ist die Versiegelung von Flächen, also die Errichtung von Gebäuden, Tiefgaragen oder undurchlässigen Bodenbelägen wie Asphalt oder Beton. Müssen Grünflächen dem Beton weichen, leidet nicht nur die Anwohnerschaft, sondern auch der Schutz vor Extremwetterereignissen: Wasser kann nicht mehr versickern und führt so schneller zu Hochwasser. Es fehlt Speicherraum, um Vegetation zu wässern und die Stadt in heißeren Perioden durch Verdunstung abzukühlen. Die Versiegelung beeinträchtigt zudem die Biodiversität, da Insekten und andere Tiere ihren Lebensraum verlieren. Neu angelegte Grünanlagen sind zwar für Klima und Erholung der Anwohnenden nützlich, allerdings kann eine „Entsiegelung“ nicht ohne weiteres eine Neuversiegelung an anderer Stelle ausgleichen.
Auswirkungen auf das Mikroklima
Prof. Dr. Stephan Pauleit forscht gemeinsam mit seinen Kolleg:innen an der Technischen Universität München zu nachhaltiger Stadtentwicklung. Sie sehen besonders die Hitze in der Stadt als ein Risiko, das der Klimawandel noch verschärft. Zu viel Hitze bedeutet Stress für den Körper, fördert Krankheiten und kann besonders für alte Menschen lebensbedrohlich sein. Bei Neubauten kommt es auf die richtigen Baustoffe an. Spiegelnde Glasfassaden und massive Baustoffe strahlen auch in der Nacht noch Hitze ab. Laut Naturschutzbund Deutschland (NABU) haben Holzbauten klimatisch die Nase vorn. Auch begrünte Fassaden könnten laut Pauleit die Oberflächentemperatur um bis zu 20 Grad Celsius senken.
Potenziale für Nachverdichtung ohne Neuversiegelung
Eine klimasensible Nachverdichtung sollte verstärkt auf die Bebauung von bereits versiegelten Flächen wie Parkplätzen, einstöckigen Supermärkten, brachliegenden Industriegebieten oder überdimensionierten Straßen setzen. Laut einer Studie zum Bezirk Neukölln 2014 im Auftrag von Bündnis90/Grünen gäbe es so – hochgerechnet auf die gesamte Stadt – Potenzial für 78.000 Wohneinheiten.
Als beste Möglichkeit gilt die Aufstockung von Gebäuden, da so auch die Luftströme in der Stadt weniger beeinträchtigt werden. Rund 26 Prozent des Wohnungsbestands in Berlin befinden sich in Altbauten, die vor 1919 errichtet wurden. Geht man davon aus, dass sich die Hälfte der Dachböden zum Ausbau eignen und davon wiederum die Hälfte bereits ausgebaut ist, bliebe noch Potenzial für rund 30.000 Wohnungen. Problem: Der überwiegende Teil dieser Potenzialflächen ist in privater Hand.
Auch ungenutzte Büroflächen sind potenzielle Wohnflächen – in zahlreichen Fällen ist die Umnutzung zu Wohnraum bereits gelungen. Die Angermann Gruppe errechnete für Ende 2022 eine Leerstandsquote von 3,2 Prozent der Büroflächen, was 696.000 Quadratmetern entspricht. Würde man die gesamte Fläche umwandeln, könnten mehr als 9.000 weitere Wohnungen entstehen.
Landespolitik kein Vorbild
Abgesehen von der Unfähigkeit des Senats, sein „Bauen, Bauen, Bauen“-Mantra einzuhalten – das Ziel von 20.000 Fertigstellungen im Jahr wurde 2022 verfehlt, die Anzahl der Baugenehmigungen ist rückläufig – muss die Leitlinie auch mit der von ihm 2019 ausgerufenen „Klimanotlage“ und der im Koalitionsvertrag festgeschriebenen Netto-Null-Versiegelung bis 2030 vereinbar sein. Demnach muss für jede neu versiegelte Fläche an anderer Stelle eine Fläche gleicher Größe entsiegelt werden. Stadtentwicklungssenator Andreas Geisel (SPD) bekräftigte im Sommer 2022 im Gespräch mit dem rbb dennoch, weiterhin auf Neuversiegelung zu setzen.
Für viele der Negativbeispiele von Nachverdichtungsprojekten wie in der Atzpodienstraße tragen außerdem die landeseigenen Wohnungsunternehmen die Verantwortung. Im ehemaligen Ostberlin ist die schlechte Praxis häufiger als im Westen, da oft Baunutzungspläne fehlen und Wohngebiete im Osten als „Baulücken“ behandelt werden. Diese dürfen nach § 34 Baugesetzbuch (BauGB) unbürokratisch bebaut werden. Dem könnten Bebauungspläne entgegenwirken, doch wie die Pankower Bezirksbaustadträtin Rona Tietje (SPD) im Tagesspiegel erklärte, habe man einfach nicht genug Personal für deren Erstellung.
Was muss sich ändern?
Wieso nutzen die Verantwortlichen die Potenziale für Aufstockung nicht, wo sie doch den geringsten negativen Effekt zu haben scheinen? Laut Arno Bunzel vom Deutschen Institut für Urbanistik befindet sich ein Großteil dieser Potenzialobjekte in Privatbesitz, man habe schlicht „kein Zwangsmittel, da tatsächlich ranzugehen“. Eine Nachverdichtung, die sich finanziell für die Eigentümer:innen lohnt, ist also wahrscheinlich. Das zeigt auch die Erfahrung mit den Dachaufstockungen der vergangenen Jahre: Meist sind auf diesem Weg neue teure Miet- oder Eigentumswohnungen entstanden und nicht der dringend benötigte Wohnraum für Mieter:innen mit geringen oder durchschnittlichen Einkommen.
Um Bestandserweiterungen dennoch möglichst nachbarschafts- und klimagerecht zu gestalten, fordern die Architects for Future ein neues Baugesetzbuch (BauGB) mit höheren Standards für Klimaschutz. Auch Expert:innen vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) fordern eine bessere Planung hinsichtlich Klimastandards, etwa mit einem „stadtklimaoptimierten Entwicklungsflächenkataster“, in das Faktoren wie die städtebauliche Dichte, der Versiegelungsgrad, Stadtklimadaten und Nutzungsstrukturen einfließen. Weiterhin seien runde Tische und echte Bürger:innenbeteiligung ab Beginn der Planung nötig, um lokales Wissen zu nutzen und die Akzeptanz zu erhöhen.
Um diese Punkte umzusetzen, fordern Expert:innen vor allem eins: mehr Personal für Planung und Verwaltung. Weiterhin bietet die 2021 per Volksentscheid beschlossene Vergesellschaftung von großen Immobilienunternehmen in Berlin die Möglichkeit, auch schon vor der Bindung von privaten Akteuren an ein neues BauGB, klimasensiblen Um- und Ausbau des Wohnungsbestandes zu betreiben, Leerstand zu verringern und so eine Vorbildfunktion für andere Städte zu haben.
Wie geht es weiter in Lichtenberg?
Für die Mieter:innen in der Atzpodienstraße kommen diese Ansätze zu spät – sie haben die Folgen der rücksichtslosen Nachverdichtung bereits in ihrem Hof vor Augen. Stattdessen engagieren sie sich nun für ihre Nachbarschaft in einem identischen Innenhof der Plonzstraße, wo die Howoge ein ähnliches Objekt plant. Das Bezirksamt Lichtenberg lehnte die Bebauung ab, da es aufgrund von Licht- und Platzmangel die Wohnqualität gefährdet sieht. Die Howoge legte dagegen beim Senat Widerspruch ein, woraufhin die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung nun die Entscheidung des Bezirksamtes beiseite gewischt und unter Missachtung der Kooperationsvereinbarung die Bebauung des Innenhofs von städtischen Wohnungsbauunternehmen genehmigt hat.
Mit der SPD im Stadtentwicklungsressort scheint es so bald keine besseren Standards für eine verantwortungsvolle Nachverdichtung in Berlin zu geben. Doch je nachdem, wie die Wahlwiederholung im Februar ausfällt, könnte eine andere Zuständigkeit mehr Kompetenz in dem Bereich unter Beweis stellen – den Mieter:innen in Lichtenberg und anderen Nachverdichtungsgebieten der Stadt ist es zu wünschen. Uns allen ist zu wünschen, dass die Potenziale für die Errichtung von leistbaren Wohnungen ausgeschöpft werden.
Ein Beitrag von Moritz Lang und Franziska Schulte
04.05.2023