Auf die letzten 100 Jahre kann Charlotte Oberberg stolz sein. Nicht weil sie ein solch hohes Alter erreicht hat – das sei eher der täglichen Banane zu verdanken, sagt sie –, sondern auf das, was sie geleistet hat. Ihr Lebensmotto: Wenn es Missstände gibt, muss man sich einmischen.
Wo sich andere auf ein Thema konzentrieren, etwa Naturschutz oder Gewerkschaftsarbeit, ist Charlotte Oberbergs Engagement sehr breit angelegt. Sie war unter anderem Bezirksverordnete für die Alternative Liste, Bezirksleiterin beim Berliner Mieterverein, Mitinitiatorin des Vereins Brückenschlag für generationsübergreifendes Wohnen sowie Seniorenvertreterin. Für ihr Engagement erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, so auch die Verdienstmedaille der Bundesrepublik Deutschland. Noch im letzten Jahr, mit 99 Jahren, hat sie in ihrem Seniorenwohnhaus in der Charlottenstraße eine Mieterversammlung geleitet – und energisch durchgegriffen, wenn dazwischen geredet wurde. Das einst kommunale Haus gehört nun der Deutsche Wohnen, und da gibt es natürlich einige Probleme. „Ich war schon als kleines Mädchen kein Engel“, sagt sie verschmitzt. „Wir Kinder haben manchmal die Kohlenhändler in den vierten Stock des Nachbarhauses bestellt.“
So richtig aktiv wurde Charlotte Oberberg erst nach ihrem Ruhestand 1983. Zuvor hatte sie als Sachbearbeiterin im Bezirksamt Kreuzberg gearbeitet, zuletzt als Personalrätin. Sie lebte damals am Kottbusser Tor und erlebte die Kahlschlagsanierung hautnah mit. „In meiner Straße waren mehrere Häuser besetzt, also bin ich einfach dort reingegangen und hab‘ gefragt, was gebraucht wird.“ Die jungen Leute hätten die Häuser schließlich in Ordnung gebracht, findet sie.
Charlotte Oberbergs Spezialität sind Beschwerdebriefe. Ob fehlende Ampeln, der Neubau des GSW-Hochhauses nebenan oder Tempolimits – sie sammelt Unterschriften und schreibt Briefe, an BVG, Bezirksamt und, wenn es sein muss, auch an den Bischof. Mit ihrer Hartnäckigkeit hatte sie einigen Erfolg.
Standesdünkel ist ihr zuwider. Zu ihrer Abschiedsfeier im Bezirksamt lud sie auch die Reinigungskräfte ein. Auch auf militärische Titel gibt sie nichts, seit sie während des letzten Weltkrieges eine Zeitlang in einem Luftwaffenlazarett in Bad Ischl gearbeitet hat. Ansonsten hat sie ihr ganzes Leben in Kreuzberg verbracht. Doch warum ist sie in ein klassisches Seniorenwohnhaus gezogen und nicht in das generationsübergreifende Wohnprojekt „Hofje“, für das sie so lange gekämpft hatte? „Ich wollte nicht nach Buckow, Kreuzberg ist mir ans Herz gewachsen“, erklärt sie.
Am 30. April feierte Charlotte Oberberg ihren 100. Geburtstag. MieterMagazin-Redaktion und Berliner Mieterverein gratulieren ganz herzlich.
Birgit Leiß
26.04.2023