Zugang zu sauberem Wasser, Strom, Gas und Postdiensten ist hierzulande für alle seit Jahrzehnten selbstverständlich. Dafür steht der Begriff Daseinsfürsorge. Vor über 80 Jahren wurde er geprägt. Vieles hat sich seitdem gewandelt. Vor allem in den 1990er Jahren versprachen Privatisierungen mehr Effizienz. Dafür verkauften Kommunen ihre Dienste – und gaben so die Zügel aus der Hand. Mit fatalen Folgen.
Ein Landesamt für Wohnungswesen fordert der Sozialgipfel von der neuen Berliner Regierung. Das Gremium soll als übergeordnete Stelle die Vorgaben für den Wohnungsmarkt in allen Bezirken der Stadt überwachen. „Wir erleben eine kontinuierliche Überschreitung der Mietpreisbremse“, begründet BMV-Geschäftsführerin Ulrike Hamann die Notwendigkeit eines solchen Amtes. Wenn es gelänge, die schon vorhandenen Regularien wirksam durchzusetzen, wäre das bereits ein großer Schritt in die richtige Richtung. Das neu zu bildende Landesamt steht – mit einer Reihe anderer Forderungen – im Grundsatzpapier eines Bündnisses aus Sozial- und Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaften und dem Berliner Mieterverein. Es trägt den Titel: „Bündnis für 100 % tragfähige Daseinsvorsorge“ und weist auf die dramatische soziale Lage hin, die einen funktionierenden und steuernden Staat dringend notwendig macht: „Soziale Grundbedürfnisse wie Gesundheit, Alterssicherung, Barrierefreiheit, Pflege, Mobilität, Wohnen und Bildung dürfen nicht wie herkömmliche Güter am Markt gehandelt werden …“, heißt es in dem gemeinsamen Appell.
Ein Bündnis fordert die tragfähige Daseinsfürsorge
Damit betritt das Bündnis nicht etwa Neuland: Bereits im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zogen staatliche Einrichtungen bis dahin von privaten Firmen betriebene Infrastrukturen an sich, um eine wachsende Bevölkerung besser versorgen zu können. Geprägt wurde der Begriff Daseinsvorsorge in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland. Damit wurde die Inanspruchnahme von öffentlichen Versorgungsleistungen wie Elektrizität, Wasser oder auch Mobilität durch den „verstädterten Bürger“ bezeichnet.
„Daseinsvorsorge ist breit angelegt, aber kein fester Rechtsbegriff – im Laufe der Jahrzehnte haben sich seine Inhalte immer wieder gewandelt“, sagt Oliver Rottmann, Geschäftsführender Vorstand des Kompetenzzentrums Öffentliche Wirtschaft, Infrastruktur und Daseinsvorsorge (KOWID) an der Universität Leipzig. Das hat zum einen seinen Grund darin, dass politische Systeme auch über Umfang und Teilhabe entscheiden.
Zum anderen wandeln sich stets die ökonomischen Rahmenbedingungen und mit ihnen die Diskussionen über Unfug und Notwendigkeit staatlicher Verantwortung: Drastisch beschnitten und begrenzt wurde sie in den 1970er und 80er Jahren vor allem von Neokonservativen wie der ehemaligen britischen Premierministerin Margaret Thatcher und dem Ex-US-Präsidenten Ronald Reagan. In deren Programm standen Privatisierung, Deregulierung und Liberalisierung. Öffentliche Güter sollten aus Gründen einer vorgeblichen Effizienz vom Markt bereitgestellt werden. Während in osteuropäischen Ländern sämtliche Wirtschaften verstaatlicht und zentral gesteuert waren, bestimmte im Westen der Wettbewerb immer mehr den Bereich der Daseinsvorsorge. In den 1990er Jahren, so Rottmann, habe das EU-Recht diese Entwicklung Richtung Liberalisierung in Europa massiv vorangetrieben.
Der große Ausverkauf der 90er Jahre
Viele Bereiche, die bis dahin in Deutschland in kommunaler Hand gewesen waren, wurden im folgenden Jahrzehnt von einer Privatisierungswelle überrollt: Bahn, Post, Energieversorgung, Müllabfuhr, Bäderbetriebe, Krankenhäuser – die Kommunen verkauften alles mögliche an private Unternehmen und Konzerne. Neben der dringend notwendigen Konsolidierung ihrer klammen Haushalte hatten sie die Hoffnung, dass der Wettbewerb zu einem besseren und preiswerteren Angebot für die Bürger:innen führen würde.
An einigen Stellen sei das durchaus eingetreten, so Oliver Rottmann. Neben preisgünstigeren Angeboten etwa beim Telefonieren seien auch stark verkrustete Strukturen im öffentlichen Sektor aufgebrochen worden. Allerdings spiegelte sich die Abkehr der öffentlichen Hand aus der Daseinsvorsorge auch bei der Beschäftigung wider: Arbeiteten zum Zeitpunkt der deutschen Wiedervereinigung fast sieben Millionen Beschäftigte im staatlichen Bereich, waren es Anfang der 2010er Jahre nur noch knapp viereinhalb.
Vor allem aber der Verkauf kommunaler Wohnungsunternehmen hatte fatale Folgen: „Die Privatisierung großer Wohnungsbestände hat dafür gesorgt, dass zu wenig in die Häuser und in preiswerten Neubau investiert wurde, während die Mieten immer weiter stiegen“, erklärt Ulrike Hamann vom BMV.
In welchem Ausmaß Wohnen zur Daseinsvorsorge gehört, ist nicht klar umrissen. Weil aber Menschen „wohnen müssen“, sieht der Berliner Mieterverein diesen Bereich – jenseits von Luxusapartments und Einfamilienhäusern – als notwendigen Teil der sozialen Infrastruktur. Und der müsse – genau wie die Energie-, Gas- und Wasserversorgung – rekommunalisiert werden.
Auf eine entscheidende Folge des „Outsourcens“ bislang staatlicher Daseinsvorsorge weist Oliver Rottmann besonders hin: „Wenn eine Kommune Unternehmen verkauft, ob nun Wohnungsunternehmen oder die Energieversorgung, gibt sie auch die Steuerungshoheit für diesen Bereich aus der Hand.“ Die spielt aber gerade dann eine große Rolle, wenn es um die Zukunftsfähigkeit der Kommunen geht. Denn mit zunehmender Digitalisierung verschwimmen die früher klaren Grenzen zwischen den Bereichen der Daseinsvorsorge immer mehr: Mobilitätskonzepte in Städten erfordern eine Ladeinfrastruktur und damit die Einbindung von Energieversorgern. Smarte Quartiersentwicklung ist ohne Wohnungswirtschaft nicht machbar. Soll die Energiewende gelingen, müssen Strom-, Gas- und Fernwärmenetze zusammen betrachtet werden.
Ebenso braucht es eine übergeordnete Instanz, um Veränderungen und Neuerungen so eng wie möglich mit denjenigen zu planen, die die Angebote nutzen sollen. Werden Bürger:innen in Diskussion um die öffentliche Gestaltung der Daseinsvorsorge eingebunden, stärkt das nicht nur die Demokratie, sondern sorgt auch für Akzeptanz bei schwierigen Projekten. Die Loslösung von einem bevormundenden Staat hin zu einem Dialog auf Augenhöhe ist vielleicht der größte Wandel, den die Daseinsvorsorge derzeit vollzieht.
Rosemarie Mieder
Moderne Begriffserweiterung
In einer 2021 veröffentlichten Studie des Kompetenzzentrums Öffentliche Wirtschaft, Infrastruktur und Daseinsvorsorge (KOWID) werden unter anderem auch folgende Bereiche zur klassischen Daseinsvorsorge gezählt:
- Brand- und Katastrophenschutz, Rettungswesen
- Friedhöfe/Krematorien
- Kultur
- Öffentliche Sicherheit
- Herstellung lebenswichtiger und -rettender Pharmaka, Produkte für den Seuchen- und Katastrophenschutz und die Intensivmedizin
- Gewerbliche Entsorgung/Kreislaufwirtschaft
- Lebensmittelversorgung
- Wohnungswirtschaft
Die digitale Transformation erfordere zudem:
- die Unterhaltung einer leistungsfähigen und flächendeckenden digitalen Infrastruktur
- den Umgang, das Management, die Verwertung und den Schutz von Daten
rm
www.kowid.de
27.04.2023