Das Berliner „Kiezprojekt“ organisierte im Mai zwei sogenannte Organizing-Blitze in Pankower Kiezen, in denen Sozialbindungen bis Ende 2024 auslaufen. Zwei Wochen später folgte eine große Versammlung betroffener Mieterinnen und Mieter. Die Aktionen waren der Startschuss für eine dauerhafte Vernetzung dieser Betroffenen. Eine Reportage über die Geschehnisse in dem deutschlandweit einzigartigen Projekt vorab. Und über jene vor Ort.
Die Stimmung ist erwartungsvoll, als sich am Sonntag, den 7. Mai, um kurz vor 14 Uhr rund 50 Menschen im Platzhaus des Helmholtzplatzes in Prenzlauer Berg zusammenfinden, um gemeinsam einen Organizing-Blitz durchzuführen. Bei einem solchen „Blitz“ strömen gleichzeitig viele Ehrenamtliche in kleinen Gruppen in betroffene Häuser und suchen den direkten Kontakt zu den Bewohner:innen. Hintergrund ist, dass allein in Pankow bis 2024 die Sozialbindungen für rund 3600 Wohnungen auslaufen (das MieterMagazin berichtete in seiner Ausgabe 3/2023 „Soziale Stadterneuerung: Bindungen mit kurzem Atem“). Da jegliche Anschlussregelung fehlt, stehen vielen Menschen Mieterhöhungen bevor, gerade auch bei einkommensschwächeren Haushalten mit Wohnberechtigungsschein (WBS).
Das Kiezprojekt, das aus einem hauptamtlichen Projektteam mit zwei sogenannten Organizer:innen und einem Koordinator sowie ehrenamtlichen Unterstützer:innen besteht, hat den Bezirk Pankow deshalb als eines von zwei Zielgebieten ausgewählt. Ziel ist es, gemeinsam mit Mieter:innen in ihren Quartieren aktiv zu werden und sie langfristig zu begeistern, sich dort zu engagieren und neue Wege zur Lösung von Problemen zu finden und zu gehen.
Vereint und motiviert an die Haustüren
Schon am Vortag hatten sich viele Mitstreiter:innen in Pankow und Prenzlauer Berg getroffen und im Rahmen des ersten Blitzes dutzende Gespräche mit Anwohner:innen geführt. Um dem Kontaktaufbau heute erneut ordentlichen Aufwind zu geben, gibt Organizerin Juli der anwesenden Runde eine Einführung in das Vorhaben und in den dahinterstehenden Organizing-Ansatz: „Unser gemeinsames Ziel ist, möglichst viele Menschen aus den betroffenen Häusern zu erreichen und sie zu einer großen Versammlung in zwei Wochen zu bewegen, um dort gemeinsam weitere Schritte zu erörtern und zu planen.“ Ermittelt wurden die betroffenen Häuser im Vorfeld durch die akribische Arbeit von Aktiven des „Kieztreffen Pankow“.
„An den Haustüren treten wir heute vereint und motiviert als Kiezteam auf“, sagt Juli. Ziel ist es, ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu schaffen. Betont wird aber auch, dass man unterschiedlichen Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen begegnen werde. Im Rahmen des methodischen Ansatzes „Community Organizing“ haben sich dazu auch Gesprächsregeln bewährt, die dem Zuhören eine hohe Priorität einräumen. Wichtig ist, dass alle mit einem positiven Gefühl und der Freude am Ausprobieren an die Sache herangehen.
Eine beteiligte Mieterin gibt einen Einblick in das, was die Mieter:innen vor Ort bewegt: Die „Sozialbindung in unserem Haus war ausgelaufen. Es folgten hohe Mietsteigerungen für manche meiner Nachbar:innen. Und: Schon Monate vor Ablauf der Bindung gingen plötzlich Makler:innen ein und aus, die Interesse an einzelnen Wohnungen zeigten.“ Ihr Haus liegt nur wenige Gehminuten vom heutigen Treffpunkt entfernt. Seit die Wohnungen dort aus der Bindung gefallen sind, veranstaltet die Hausgemeinschaft jeden ersten Sonntag im Monat ein offenes Treffen vor der Haustür. „In dieser Zeit wurde mir deutlich, wie wichtig die Vernetzung im Haus und auch mit anderen Betroffenen für mich persönlich ist.“
Um mögliche Herausforderungen schon vorab zu erkennen und die Beobachtungen der Teilnehmenden zu diskutieren, wird vor dem Start der Aktion beispielhaft ein Haustürgespräch durchgespielt. Das soll den Teilnehmenden Sicherheit geben und verdeutlichen, dass es viele Wege in ein Gespräch gibt. Hilfreich kann es jedoch sein, einen ungefähren Ablauf im Kopf zu haben.
Um den Einstieg in die Gespräche mit den Mieter:innen zu erleichtern, werden Steckbriefe mit wichtigen Informationen ausgeteilt. Darauf sind die Daten zur Bindungsfrist vermerkt, und ob sie im betroffenen Haus bereits ausgelaufen ist oder nicht. Dann machen sich alle in Teams von zwei bis drei Personen auf den Weg zu den ihnen zugewiesenen Häusern. Sie gehen von Tür zu Tür, klingeln, sprechen mit den Bewohner:innen und motivieren sie, zur Versammlung zu kommen. Nach knapp zwei Stunden kommen alle wieder für einen gemeinsamen Abschluss mit Austausch und Abgabe der Kontaktdaten zusammen.
Es zeigt sich eine große Bandbreite an Reaktionen bei den erreichten Mieter:innen. Einige waren gleich interessiert und engagiert, andere skeptisch, manche überfordert. Auch die Erfahrungen zur Situation in den Häusern waren unterschiedlich. Die Eigentümer:innenstruktur ist heterogen und reicht von großen Wohnungsunternehmen bis zum Einzelbesitz von Zahnärzt:innen aus anderen Bundesländern. Einige Häuser erwiesen sich als schon richtig gut organisiert, in anderen wussten die Mieter:innen nicht, was eine Sozialbindung ist. In manchen Häusern läuft die Bindung erst noch aus, in wieder anderen stehen sogar schon Räumungsklagen unmittelbar bevor.
„Blitz“-Erfolg: 200 Bewohner:innen zeigen sich interessiert
Nach zwei Aktionstagen konnte das Kiezprojekt bereits auf eine erfreuliche Bilanz verweisen: „Mehr als 90 Häuser wurden von rund 100 Freiwilligen besucht, wodurch mehrere hundert Mieter:innen in Prenzlauer Berg und Pankow erreicht wurden. Über 200 Bewohner:innen haben ihre Kontaktdaten hinterlassen, um sich langfristig zu vernetzen und gemeinsam für die Sache einzutreten“, berichtete Tanja, die ebenfalls als hauptamtliche Organizerin für das Kiezprojekt tätig ist.
Kurz vor der ersten Versammlung organisierte das Kiezprojekt-Team einen Telefon-Blitz, um die gesammelten Kontakte anzurufen und an die Mieter:innenversammlung zu erinnern. Auch das ein Erfolg: Zum ersten großen Treffen kamen über 150 Menschen. Vor Ort bildeten sie erste Arbeitsgruppen, um gemeinsam Ideen für das weitere Vorgehen zu entwickeln. Ende Juni findet bereits die zweite Versammlung statt.
Die ersten Kräfte sind mit den Ansätzen des Community Organizings mobilisiert. Und es wird spannend zu sehen, wie es weitergeht. In den letzten Wochen konnte die Gruppe jedenfalls zeigen, dass gemeinsames Handeln der Schlüssel für Veränderung sein kann und manch Mieter:in auf diese Weise sehr schnell für weiteren Austausch zu gewinnen ist.
Vera Colditz
Community Organizing und das Berliner Kiezprojekt
Das Konzept Community Organizing stammt aus den USA und wurde in den 1930er Jahren von Saul Alinsky entwickelt. Es ist eine Methode, die darauf abzielt, gemeinsam mit Menschen vor Ort soziale Veränderungen herbeizuführen. Kernaspekt ist, mit persönlichen Gesprächen Motivation aufzubauen.
In Deutschland ist Community Organizing noch relativ unbekannt. Durch eine Zusammenarbeit zwischen der AG Starthilfe, der Plattform für soziale Klimagerechtigkeit Movement Hub und dem Berliner Mieterverein setzt das in diesem Jahr gestartete Berliner Kiezprojekt in den kommenden zwei Jahren auf die Methode, um in ausgewählten Berliner Kiezen und Siedlungen Mieter:inneninitiativen aufzubauen. Haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter:innen wollen dabei Mieter:innen und Nachbarschaften verbinden und bestärken, um sich selbst längerfristig eine organisierte Handlungsfähigkeit und Mitsprache in der sozialen und ökologischen Wohnungskrise zu ermöglichen.
vc
05.07.2023