Der Geruch von Holz, von Sägespänen, mag es gewesen sein, der die 1875 geborene Lehrerstochter Emilie in die Zimmerei mit angeschlossenem Baugeschäft ihres Großvaters zog, in Aken bei Dessau an der Elbe. Emilie wird Zimmermannslehrling, lernt Konstruktion und Holzbau und fertigt Entwürfe und Zeichnungen für Um- und Neubauten an, unter anderem für eine große Ziegelei und eine Ölfabrik. Als Zeichnerin verdient sie ihr eigenes Geld. Doch Architektin will sie werden!
1902, 27 Jahre alt, wird Emilie Winkelmann als Gasthörerin an der Königlich Technischen Universität im hannoverschen Welfenschloss geduldet – gilt das Studium doch nur als Überbrückung bis zur standesgemäßen Heirat. Zur Abschlussprüfung zum Dipl. Ing. ist „E. Winkelmann“, so steht sie ganz unverfänglich genderneutral im Studienbuch, nicht zugelassen. Sie verlässt die Hochschule nach vier Jahren ohne Abschluss. Emilie wandert allein durch den Harz, tief enttäuscht – und gründet 1907 ihr erstes Architekturbüro in Berlin. 1908 gewinnt sie gegen die männliche Konkurrenz den Architekturwettbewerb für ein Vergnügungstheater, ein Ballhaus, an der Blumenstraße im Berliner Friedrichshain: Herausforderung sind die parallel stattfindenden Vorführungen in mehreren Festsälen, denen die Besucher:innen entströmen. Winkelmann konstruiert eine doppelläufige Treppenlösung aus ihrem Lieblingsbaustoff, aus Holz. Leider wurde ihr erstes Renommierobjekt durch den Krieg zerstört.
Erst 1909 werden Frauen für das volle Studium an deutschen Technischen Hochschulen zugelassen, aber noch bis 1921 konnten in Preußen einzelne Professoren offiziell immatrikulierte Frauen vom Studium ausschließen. Der damals führende Kunst- und Architekturkritiker Karl Scheffler nannte 1908 in seinem Buch „Die Frau und die Kunst“ die Gleichberechtigung eine ansteckende Krankheit und prophezeite den Künsten den Niedergang, würden sich die Frauen „gegen ihre Natur und bei schleichendem Verlust ihrer Weiblichkeit“ in ihnen etablieren, einhergehend mit Vermännlichung, Prostitution und Lesbianismus. Vor allem von der Architektur habe sich die Frau fernzuhalten.
Gediegenheit im Landhaus
Acht der Häuser von Emilie Winkelmann stehen in Berlin unter Denkmalschutz, darunter ein Holzmassivhaus, das im Märchenwald zu schlummern scheint, mit kühn waagrecht verzapften Holzbohlen. Die Architektin baute es 1909 für den jüdischen Bankier Bruno Gumpel, im heutigen Eiderstedter Weg 2.
Auch für das Wohnhaus der ebenfalls jüdischen Soziologin Julie Meyer als Bauherrin in der Gerkrathstraße 4 in Nikolassee, in Hanglage an der Rehwiese, traf Winkelmann im gleichen Jahr genau den Geschmack, der in der wachsenden Villenkolonie im Süden Berlins vorherrschte: ein Landhausstil mit wohlproportioniertem Grundriss im Putzbau, einer unaufgeregten, streng symmetrisch gegliederten Hauptfassade mit halbrundem Verandavorbau und säulengetragenem zum großen Vorgarten gewandten Balkon. Als Ruhepol vom Großstadtleben ermöglicht die Rückseite mittels Erker, Treppenhausturm, Balkonen und großen Fenstern ein Aufatmen im Grunewald.
Dann der erste Großauftrag: In der nach dem Maler Walter Leistikow benannten Straße plante Winkelmann 1909 das von ihr selbst später als „Leistikowhaus“ bezeichnete Bauwerk mit luxuriös ausgestatteten und großzügig bemessenen Wohnungen von 190 bis zu 270 Quadratmetern, mit Aufzügen, Lichthöfen und separaten Dienstboteneingängen. 1910 begann die Bautätigkeit, innerhalb von zwei Jahren konnte das Haus bezogen werden. Mit dem Umbau einer großen Pension in der Kurfürstenstraße, einer städtischen Unterkunft für den ostelbischen Landadel, konnte sie ihren Kundenkreis erfolgreich erweitern. 1914 schuf sie das großzügig angelegte „Haus der Frau“ in Leipzig anlässlich der Internationalen Ausstellung für Buchgewerbe und Graphik.
Hinwendung zur Frauenbewegung
Emilie Winkelmann hatte nicht nur das Know-how, sie war auch eine hervorragende Netzwerkerin. Ihre Mitgliedschaft im Lyceumsclub mit Frauen aus der Berliner Upperclass verschaffte ihr nicht nur Aufträge, sie verstärkte auch ihre Hinwendung zur Frauenbewegung. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs begann Emilie mit dem Bau des Viktoria-Studienhauses in Berlin-Charlottenburg, 1915 als erstes Mädcheninternat europaweit eröffnet: mit Studienräumen, Unterkünften für etwa 100 Frauen und einem Theatersaal, heute bekannt als Ottilie-von-Hansemann-Haus, benannt nach der großzügigen Stifterin und engen Freundin von Emilie. Zusammen wohnten sie in einem von Emilie umgebauten Kutscherhaus, in einer „Boston Marriage“.
In Babelsberg, Hermann-Maaß-Straße 18/20, plante die 39-Jährige auf einem 5000 Quadratmeter großen Grundstück 1914 im Auftrag der Genossenschaft für Frauenheimstätten das „Haus an der Sonne“: Sehnsuchts- und Zufluchtsort von berufstätigen, alleinstehenden Frauen, aber auch für Pensionierte, die üblicherweise zumeist abseits der Gesellschaft in möblierten Zimmern hausen mussten. Emilie schuf ihnen kleine Wohnungen, mit Zentralheizung und Bad. Austauschen konnten sich die Frauen in Gemeinschaftsräumen und -küchen.
„Ohne mathematische Fähigkeiten, ohne zeichnerische Begabung, ja selbst ohne einen gewissen praktischen Sinn für Lebensbedingungen, Material- und Geldverhältnisse, wird trotz sonstiger Intelligenz niemand gut durch das Studium und die spätere Praxis kommen”, so die hosentragende erste deutsche Architektin, 1913. Mit diesem Selbstverständnis folgte sie über fünf Jahrzehnte ihrer Berufung: „Ich halte es für falsch, im Baugewerbe die Arbeit der Frau zu betonen, kommt es doch nur auf die Qualität an …“ Signiert hat sie ihre Entwürfe stets nur mit ihren Initialen – die ihren weiblichen Vornamen verbargen. 1928 erst wurde sie in den BDA, den Bund deutscher Architekten, aufgenommen.
Mit der Machtergreifung der Nazis 1933 erhielt sie Berufsverbot: „An den Bauten des Dritten Reiches hatte ich keinen Anteil, weil ich keine Parteigenossin werden wollte.“
Emilie Winkelmann kam 1941 bei der Gräfin von Saldern unter, für die sie das Schloss Grüntal bei Bernau umbaute. Zum Kriegsende flohen die beiden Frauen nach Gut Hovedissen im Kreis Lippe, wo Emilie 1951 starb.
Silke Kettelhake
Straßennamen – die Pflege einer andauernden Ungerechtigkeit
Nach den in Berlin Anfang des 20. Jahrhunderts wirkenden Architekten Alfred Messel und Hermann Muthesius sind Dutzende Straßen benannt. Nach Emilie Winkelmann nur eine in ihrem Geburtsort Aken, eine weitere in Bergkamen und neuerdings auch eine in Potsdam. Etwa 91 Prozent der Straßen sind hierzulande Männern gewidmet. Aus München hieß es 2011: „Nach wie vor beziehen sich die Wünsche nach einer Ehrung von Persönlichkeiten durch eine Straßenbenennung sowohl von privater Seite als auch seitens der Bezirksausschüsse und aus den Reihen des Stadtrats fast ausschließlich auf Männer.“ Geschichte machen Frauen und Männer – die Geschichtsschreibung kennt aber kaum Frauen: Köln, im Mittelalter Hochburg der Seidenproduktion, einer Frauenbranche, hielt bis in die 80er Jahre am männlichen Seidmachergäßchen fest. Berlin hat von seinen an die 10.000 Straßen inzwischen immerhin 3000 nach Frauen benannt. In einzelnen Bezirken sollen solange Straßen mit Frauennamen bezeichnet werden, bis ein Gleichgewicht erreicht sei. Emilie Winkelmann hätte sich vermutlich auch auf diesem Feld für gleiche Verhältnisse für Männer und Frauen stark gemacht.
eska
FrauenOrt Emilie Winkelmann in Potsdam:
https://frauenorte-brandenburg.de/emilie-winkelmann
Gedenktafel vor Ort: Hermann-Maaß-Straße 18/20, 14482 Potsdam-Babelsberg
02.12.2023