Der Name ist Programm: Der Kreuzberger Verein Unterschlupf e.V. bietet Frauen in der Obdachlosigkeit Rückzugsmöglichkeiten, Sicherheit und ein Stück Normalität. Doch die wichtige Arbeit von Gründerin Betti und ihren Mitarbeiterinnen steht vor dem Aus. Ein Hausbesuch.
„Frauen in Obdachlosigkeit sind unsichtbar“, sagt Emmillie zu mir, als ich die Räume von Unterschlupf e.V. in Kreuzberg betrete. „Du siehst es vielen Frauen nicht an, dass sie obdachlos sind.“ Das merke ich. Welche der anwesenden Frauen Gästinnen und welche die Mitarbeitenden des Vereins sind, kann ich nicht sofort unterscheiden. Hier in dem zweistöckigen Gebäude mit Terrasse und Garten ist das Teil des Konzepts. Es geht um Augenhöhe und um Würde, hatte mir Betti, die Gründerin des Vereins, schon einige Tage zuvor am Telefon gesagt.
In den sozialen Medien war ich darauf aufmerksam geworden, dass der Verein für seinen Tagestreff für Frauen in Obdachlosigkeit dringend neue Räume sucht. Ende April soll Schluss sein für Betti und ihre Frauen. Betti hat den Unterschlupf vor gut einem Jahr eröffnet – nun steht der Abriss des Hauses bevor. Betti war das von Anfang an bewusst, dennoch kündigt sie an, nicht sang- und klanglos das Feld zu räumen. Ich wünschte, ich könnte helfen. Doch zunächst lerne ich die beiden Mitarbeiterinnen Emmillie (Emmi) und Marit kennen, die Gästinnen Flummi, Gigi und Michaela sowie die Pinscherdame Kevin, die höchst enttäuscht ist, dass nur ich es bin, die von draußen hereinkommt an diesem kalten Dienstagmorgen, und nicht Betti.
Chaos im Kopf und Angst in der Nacht
Betti ist eigentlich Köchin. Sie führte ihr eigenes Restaurant in Berlin und hat schon lange, bevor sie den Unterschlupf gründete, für obdachlose Frauen gekocht. Gekocht ist zu wenig gesagt, es waren richtige Events. „Wir haben die Tische eingedeckt und es gab Servicepersonal“, wird sie mir später am Tag erzählen. Noch ist sie nicht da, was Kevin zunehmend nervöser macht.
Marit und Emmi führen mich durch die Räume. „Unsere Ladies haben oft totales Chaos im Kopf, sie brauchen einen Ort der Ruhe, um anzukommen und sich zu sortieren.“ Emmi zeigt mir den Essbereich und die Aufenthaltsräume mit den vielen Sofas. Das Beauty-Zimmer, die Nähwerkstatt und der Schlafraum bieten weitere Rückzugsmöglichkeiten. „Viele kommen nachts draußen auf der Straße nicht zur Ruhe, sie haben Angst vor Übergriffen. Also schlafen sie tagsüber hier“, erklärt mir Emmi weiter. Ein Badezimmer mit einer großen Dusche und die Kleiderkammer direkt nebenan befinden sich ebenfalls im Erdgeschoss des Gebäudes.
Es ist wichtig für die Frauen, dass sie nach einer warmen Dusche saubere Kleidung bekommen können, erzählt mir Marit. Viele würden sich freuen, wenn etwas Hübsches dabei ist. Die geräumige Küche, in der wir inzwischen sitzen, geht in ein gemütliches Esszimmer über. Fünf Frauen sind dort, sie frühstücken oder sitzen mit Kopfhörern auf dem Sofa. Das Radio dudelt Hits aus den vergangenen 20 Jahren und auf dem großen Esstisch stehen frische Blumen. Flummi – eine der Stammgästinnen – hüpft durch die Räume, lacht und hilft beim Spülmaschine ausräumen.
„Sie haben ja nichts, deshalb sammeln und behalten sie alles“
Für die Frauen ist der Unterschlupf eine feste Anlaufstelle: Einige gehen von hier aus arbeiten, andere erholen sich von einer kalten, schlaflosen Nacht auf der Straße. Viele würden nur sporadisch kommen, sagt Marit, für einige Stunden reinhuschen, duschen, ihre Kleidung waschen und sich neue aussuchen. Für die Frauen, die gerade hier sind, ist der Unterschlupf noch mehr: Er ist ein Zuhause geworden. Sie kommen täglich hierher und konnten dadurch in mancherlei Hinsicht etwas auf die Beine kommen.
Emmi will mir noch den Keller zeigen, wo sich Vorratsräume, Lagerkapazitäten und die Waschküche befinden. Die Frauen waschen und trocknen ihre Kleidung im Haus. Viele lagern hier auch ihr Hab und Gut. Im Keller liegen Taschen über Taschen, Tüten, Zelte und Isomatten – alles, was die obdachlosen Frauen besitzen. Verglichen mit dem, was ich besitze, ist es nicht viel. Betti und ihre Mitarbeiterinnen erlauben den Frauen die Lagerung, weil sie wissen, was diese Besitztümer den Frauen bedeuten und wie schwierig es ist, einen sicheren Platz für sie zu finden: „Sie haben ja nichts, deshalb sammeln und behalten sie alles“, sagt Emmi zu mir, als wir die zwei Toiletten im Erdgeschoss mit neuem Klopapier versorgen. Die Rollen sind angekettet, denn Klopapier ist auf der Straße ein rares Gut. „Für Frauen ist es nicht einfach, in dieser Stadt ihre Notdurft zu verrichten. Öffentliche Toiletten kosten Geld, viele Straßentoiletten haben nur Pissoirs – für Frauen gänzlich ungeeignet.“ Das werde in der Stadtplanung nicht bedacht, meint Emmi.
Die Wertschätzung für die Frauen zeigt sich auch beim Essen
Kevin hüpft und bellt laut in der Küche, Betti ist eingetroffen. Sie tätschelt das Pinscherfräulein und begrüßt mich freundlich. Sie habe noch kurz zu tun, entschuldigt sie sich, dann können wir reden.
Langsam füllt sich die Küche. Lena, Lilly und Karin sind eingetroffen. Die Drei helfen im Unterschlupf ehrenamtlich, Karin ist Bettis rechte Hand, macht die Buchhaltung und hilft bei der Suche nach neuen Räumen in Kreuzberg. Lena ist Anfang 20, gelernte Köchin und jetzt in Teilzeit in ihrem Lehrberuf beschäftigt – die viel gescholtene Generation Z, die nicht mehr in Vollzeit arbeiten will. Ich frage sie offen heraus, warum sie sich für eine Teilzeitstelle entschieden hat. „Mir hat irgendwann der Sinn hinter dem Kochen gefehlt“, erzählt sie. „Das war für mich alles so weit entfernt von dem, was Essen für mich bedeutet.“ Sie wollte Zeit haben, sich ehrenamtlich zu engagieren. Im Unterschlupf hat Lena eine neue Realität gefunden, die sie motiviert, zu kochen. Gutes Essen, gute Ernährung – für obdachlose Menschen ist das jenseits ihrer Lebensrealität. Deshalb zeigt sich die Wertschätzung für die Frauen im Unterschlupf gerade auch hier beim gemeinsamen Mittagessen. Es gibt Kürbisrisotto mit Belugalinsen, warmen Mohnzopf mit Vanillesauce und Bananenbrot. Betti kocht – unterstützt von Lena – jeden Tag frisch, gesund und immer darauf bedacht, die vielen gespendeten Lebensmittel nicht verkommen zu lassen.
Ein Stück Normalität
Neben den zwei fest angestellten Mitarbeiterinnen bestreitet der Verein alle Aufgaben mit ehrenamtlichen Helferinnen. Viele im Frauenunterschlupf denken wie Lena: Sie wollen Zeit haben, um sich abseits von Job, Ausbildung oder Uni für die Gesellschaft zu engagieren. Lilly hat letzte Woche eine Prüfung hinter sich gebracht und jetzt Semesterferien. Sie freut sich, dass sie nun zwei Mal in der Woche zum Helfen kommen kann. Es ist immer etwas zu tun: backen, kochen, Vorräte sortieren, Regale putzen, ausmisten, aufräumen in der Kleiderkammer, Betten beziehen und vieles mehr. Vor allem aber auch ansprechbar sein für die Frauen, mit ihnen reden. „Auf Augenhöhe“ bedeutet hier vor allem, ein kleines Stück Normalität zu ermöglichen. Zumindest ist das mein Gefühl – ein normales Miteinander in einer Gemeinschaft. „Die Frauen von der Straße sind ja krasse Einzelkämpferinnen. Am Mittagsbuffet müssen wir sie manchmal erinnern, für die Schwester neben ihr etwas übrig zu lassen“, sagt Betti.
„Für unsere psychisch erkrankten Frauen gibt es nirgendwo Platz“
Das Angebot des Vereins ist niedrigschwellig, es gibt keine Voraussetzungen, keine Kriterien. Alle dürfen rein und haben dasselbe Recht, würdig behandelt zu werden. „Anders als andere Einrichtungen sind wir klein genug, um von formalen, bürokratisierten Pfaden und Regeln auch mal abzuweichen“, sagt Betti. „Das ist gut für die Frauen und gut für uns, denn wir können sehr individuell auf die Bedürfnisse eingehen.“
Bea, eine blasse junge Frau, geistert umher und sucht Hilfe bei Emmi. Ihr Handy funktioniert nicht so, wie sie es will. So wie die meisten anderen Frauen hier leidet Bea an einer psychischen Erkrankung. Sie hat Wahnvorstellungen, lebt teilweise in einer anderen Welt. „Rund 90 Prozent der Frauen, die zu uns kommen sind psychisch stark belastet oder psychisch krank“, sagt Betti. Ich frage vorsichtig nach ihrer Erfahrung mit diesen Frauen. „Ich habe viel über verschiedene Krankheitsbilder gelernt und kann gut auf unsere Gästinnen eingehen.“ Ich merke Betti an, dass ihr Engagement für die Frauen auch geprägt ist von eigenen Erfahrungen. „Was wir hier nicht dulden: Gewalt, Rassismus, Homophobie – auch verbale Gewalt. Da mussten auch wir schon einmal ein Hausverbot aussprechen“, erzählt Betti.
Die Lage obdachloser Frauen ist teilweise hoch dramatisch: „Wenn sie wegen psychischer Probleme in die geschlossene Klinik kommen, werden sie dort mit Medikamenten vollgepumpt. Langzeittherapien gibt es nicht für unsere Frauen“, sagt Betti. „Was uns total bewegt, ist auch, was mit den Frauen passiert, wenn sie alt werden. Es gibt keinen Platz für sie, aber sie leiden ja wie andere auch an Demenz, Inkontinenz und anderen Alterserkrankungen. Wer kümmert sich um diese Frauen?” Für Betti ein wichtiger Punkt, doch da scheint auch sie etwas ratlos.
Ein Arbeitnehmer hat vor Gericht einen anderen Wert als eine obdachlose Frau
Bleibt eine der Frauen länger weg, ist das nichts Ungewöhnliches. „Sie sind unruhige Geister, und das hier ist unsere Arbeit. Wenn wir uns jedes Mal Sorgen machen, würde es uns fertig machen“. Emmi scheint hin- und hergerissen. Sie erzählt, dass die Frauen oft monatelang im Gefängnis sitzen. „Manche haben etwas gestohlen, meistens geht es aber ums Schwarzfahren.“ Emmi zeigt auf Michaela, die gerade vom Rauchen wieder hereinkommt. „Ja, da häufen sich ganz schnell über den Inkassodienst und die Verurteilung vor Gericht um die 1.500 Euro an“, bestätigt Michaela „Wir können das nicht bezahlen und müssen die Strafe absitzen. Kannst du dir vorstellen, wie lange ich dann im Knast bin, wenn mein Tagessatz auf 15 Euro festgesetzt ist?“ Michaela zeigt auf mich und fügt hinzu: „Die meisten Tagessätze von normalen Arbeitnehmer:innen wie Dir sind bei 100 Euro.“ Das macht mich sprachlos, ich habe das nicht gewusst. Dass es um die soziale Gerechtigkeit in unserem Land nicht zum Besten steht, wusste ich auch vor Michaelas Bericht, dass unterschiedliche Wertstellungen von Menschen vor Gericht zu normativen Tatsachen werden, schockiert mich – vermutlich ist es aber komplexer.
Keine Alternative zu Kreuzberg
Betti kann und will mit ihrem Unterschlupf nur in Kreuzberg bleiben. Der Bedarf im Bezirk sei groß, außerdem habe sie ihr ganzes Netzwerk hier und das sei weitreichend und nützlich. In einer völlig neuen Umgebung alles von vorne und ganz neu aufbauen – das will sie nicht: „Ich bin 63 Jahre alt, die Gründung des Vereins, das Konzept, die Ausstattung der Räume, das war eine große Sache für mich im letzten Jahr. Ich habe alles allein gemacht“, sagt sie.
An diesem Tag sind alle etwas verzweifelt, denn gestern kam auch von einem der landeseigenen Wohnungsunternehmen eine Absage. „Alle loben unsere Arbeit und betonen, wie wichtig diese sei, aber Räume hat keiner für uns und die Frauen.“
Es war ein intensiver Tag und ich danke Betti und ihren Frauen, dass sie meine vielen Fragen beantwortet haben. Eine bleibt offen: Wie kann es in einer wohlhabenden Gesellschaft einen solchen Mangel an Fürsorgeleistungen für Gesundheit und Menschenwürde geben und offenkundig zu wenig Support für diejenigen, die sich für die Bedürfnisse anderer einsetzen?
Ein Hausbesuch von Franziska Schulte
Helfen Sie mit!
Wir rufen alle Berliner:innen auf, nützliche Hinweise auf leerstehende Räumlichkeiten an uns weiterzugeben. Wir wollen Betti und dem Frauenunterschlupf helfen, ihr Projekt fortzuführen. Der Verein finanziert sich über regelmäßige private Spenden. Eine Kaltmiete für geeignete Räume bis zu 2.000 Euro ist realisierbar. Weitere Informationen zur Tagesstelle Frauenunterschlupf und zum Bedarf der Einrichtung gibt es hier.
14.03.2024