Wohnen wird zum Armutsrisiko. Weite Teile der Berliner Mieterschaft leiden unter einer hohen Mietbelastung und viele Familien harren in zu kleinen Wohnungen aus, weil sie sich die Anmietung von passendem Wohnraum nicht leisten können. Die Ausweitung der Einkommensgrenzen für einen Wohnberechtigungsschein bringt den Menschen wenig, auf die das angeblich zugeschnitten sein soll. Das sind einige Ergebnisse einer Analyse von Mikrozensus-Daten, die der Berliner Mieterverein (BMV) in Auftrag gegeben hat.
Die Stadtsoziologen Sigmar Gude und Michael Häfelinger haben zusammen mit Kollegen der Mieterberatungsgesellschaft asum die gerade neu veröffentlichten Daten des Mikrozensus Wohnen 2022 ausgewertet. Alle vier Jahre wird mit dem bundesweiten Mikrozensus – einer Art Stichproben-Volkszählung – eine Sondererhebung zum Thema Wohnen durchgeführt. Sozialforscher können mit diesen Daten die Wohnungsversorgung der Berliner Mieterhaushalte und deren finanzielle Situation differenziert und genau analysieren. Die Studie sollte herausfinden, welche Gruppen der Mieter:innen und Wohnungssuchenden vom Mangel an bezahlbarem Wohnraum am stärksten betroffen sind.
Von den 1,52 Millionen Berliner Mieterhaushalten leben rund 180.000 unter der Armutsschwelle, weitere 150.000 Haushalte gelten als armutsgefährdet. Zusammen machen sie 22 Prozent der Haushalte aus. Darüber hinaus gibt es 180.000 Haushalte, die nicht armutsgefährdet sind, aber ein so niedriges Einkommen haben, dass sie sich auf dem aktuellen Wohnungsmarkt nicht aus eigener Kraft mit angemessenem Wohnraum versorgen können. Insgesamt steckt also jeder dritte Berliner Haushalt in einer solch prekären Lage. Besonders stark sind davon Alleinwohnende und Haushalte mit vier oder mehr Personen betroffen.
Die Mietbelastung nimmt teilweise beängstigende Ausmaße an. Ein Fünftel der Haushalte zahlt mehr als 40 Prozent des verfügbaren Einkommens für die Miete, ein weiteres Fünftel hat eine Mietbelastung zwischen 30 und 40 Prozent. Landläufig gilt eine Bruttokaltmietbelastung von 30 Prozent noch als unproblematisch. Härtefallregeln greifen meist erst ab dieser Schwelle. Dabei wird aber oft nur die Nettokaltmiete berücksichtigt. Rechnet man die Nebenkosten mit ein, ist eine Belastung von 40 Prozent schnell erreicht.
Bei 30 Prozent ist der Lebensunterhalt großer Familien in Gefahr
Die Autoren der Studie plädieren dafür, nicht mehr an der starren Mietbelastungsquote von 30 Prozent festzuhalten. Der Realität in verschieden großen Haushalten wird sie nicht gerecht. Insbesondere bei größeren Familien ist die Mietzahlungsfähigkeit deutlich geringer: Wenn sie 30 Prozent ihres Salärs für das Wohnen ausgeben, bleibt ihnen nicht mehr genug Geld für den Lebensunterhalt der mehrköpfigen Familie. Die Autoren schlagen deshalb eine Abstufung der Mietbelastungsquoten vor. Für Einpersonenhaushalte soll sie bei 30 Prozent liegen, für zwei Personen bei 26, für drei Personen bei 24 und für Vierpersonenhaushalte bei 22 Prozent. Damit würde gewährleistet, dass alle eine Wohnung bezahlen könnten, die groß genug ist und ihren Einkommensverhältnissen entspricht.
Zu beobachten ist aber, dass Mehrpersonenhaushalte enger zusammenrücken, um die Mietbelastung gering zu halten: Sie wohnen oft in Wohnungen, die objektiv zu klein sind. Die Zahlen zu den Umzügen bestätigen das. Zwischen 2019 und 2022 haben jährlich etwa sieben Prozent der Mieterhaushalte eine Wohnung neu bezogen. Dabei zahlen sie 2,30 Euro pro Quadratmeter mehr als der Durchschnitt. Die Umziehenden haben denn auch ein überdurchschnittliches Einkommen. Offensichtlich können ärmere Haushalte sich die angebotenen Mietwohnungen nicht leisten und ziehen deshalb weniger um.
Generell wohnen Menschen mit niedrigem Verdienst und einer hohen Mietbelastung auf wenig Fläche. Haushalte mit höherem Einkommen leben hingegen auf deutlich mehr Quadratmetern und haben gleichzeitig eine geringere Mietbelastungquote.
Der Zugang zu einer der knapp 90.000 Sozialwohnungen ist nicht leichter geworden. 934.000 Haushalte haben in Berlin einen Anspruch auf den Wohnberechtigungsschein (WBS) und könnten somit zumindest theoretisch eine Sozialwohnung beziehen. Das sind 61,2 Prozent aller Berliner Mieterhaushalte. Diese Zahl ist sprunghaft um 235.000 Haushalte angestiegen, nachdem der Senat die Stufe WBS 220 eingeführt hat. Damit sind nun auch Menschen mit einem mittleren oder leicht überdurchschnittlichen Einkommen dazu berechtigt, bestimmte geförderte Wohnungen zu beziehen.
Der größte Teil der Berliner ist WBS-berechtigt
Die Begründung für den WBS 220 war, dass auch Menschen aus der Mitte der Gesellschaft – als Beispiele dafür genannt werden immer wieder die Krankenschwester und der Polizist – Unterstützung auf dem Wohnungsmarkt bräuchten. Die Studie hat mit beispielhaften Berechnungen herausgefunden, dass Pflegekräfte und Polizeibedienstete in den meisten Fällen gar nicht zu den Begünstigten gehören, weil ihr Einkommen – je nach Haushaltsgröße – meist schon niedrig genug für einen WBS 180 ist.
„Die Studie zeigt, dass der überwiegende Teil der Berliner Bevölkerung WBS-berechtigt ist und sich mit den derzeit auf dem Markt angebotenen Wohnungen nicht mehr mit Wohnraum versorgen kann, ohne in die totale Überlastung des Haushalts zu rutschen“, fasst BMV-Geschäftsführerin Ulrike Hamann-Onnertz zusammen. „Die Situation auf dem Berliner Wohnungsmarkt ist desolat.“
Bei der Frage, welche Wohnungen in welchem Umfang gebaut werden sollen, müssten die Ergebnisse der Studie beachtet werden. „Die Mietbelastungsfähigkeit der Berliner Haushalte gibt genau darüber Auskunft und muss zu Rate gezogen werden, wenn die Berliner Wohnungspolitik für den Teil der Bevölkerung Sorge tragen will, der sich am Wohnungsmarkt derzeit nicht mehr adäquat versorgen kann“, erklärt Hamann-Onnertz. Sie fordert, dass die Politik zum Schutz des noch leistbaren Bestandes den Mut haben müsse, viel stärker als bisher zu regulieren, und dass Berlin sich beim Neubau ausdrücklich auf WBS-fähige Wohnungen konzentriert.
Jens Sethmann
Fünferlei WBS
Nur wer unterhalb eines bestimmten Haushaltseinkommens liegt, darf in eine Sozialwohnung einziehen. Dieses weist man mit einem Wohnberechtigungsschein (WBS) nach. Die Einkommensgrenzen wurden 2001 bundeseinheitlich im Wohnraumförderungsgesetz festgelegt. Ein Single-Haushalt darf bis zu 1000 Euro im Monat verdienen, um noch einen WBS zu bekommen, bei einem Paar mit drei Kindern kann das Haushaltseinkommen bis zu 2650 Euro betragen. Die einmal festgelegten Grenzen halten mit der Preisentwicklung nicht mit. Berlin hat sie vor langer Zeit um 40 Prozent erhöht. Für diesen WBS 140 – so genannt, weil die Einkommensgrenze bei 140 Prozent des Bundeswertes liegt – kann ein Einpersonenhaushalt bis zu 1400 Euro verdienen, die fünfköpfige Familie bis zu 3710 Euro. Um neu gebaute Sozialwohnungen auch für größere Kreise zugänglich zu machen, hat der Senat in den letzten Jahren Fördermodelle entwickelt, die einen Einzug mit einem WBS 160 oder WBS 180 ermöglichen. Das neueste Fördersegment ist sogar für Inhaber eines WBS 220 offen. Das bedeutet, dass Alleinstehende 2200 Euro, Familien mit drei Kindern sogar 5830 Euro Monatseinkommen haben dürfen, um noch eine Sozialwohnung beziehen zu können.
js
www.berliner-mieterverein.de
30.05.2024