Frankreich, der alte „Erzfeind“ Deutschlands setzte nach dem verheerenden Zweiten Weltkrieg alles daran, um ein erneutes Aufrüsten der Deutschen zu verhindern. Im berühmten Schumann-Plan schlug der französische Außenminister Robert Schumann eine Kontrolle der gesamten deutschen Kohle- und Stahlproduktion vor. 1951 gegründet, wurden mit der „Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ (EGKS) die Grundsteine für die spätere Europäische Union gelegt. Gründungsmitglieder der so genannten Montanunion waren neben Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland Belgien, Italien, Luxemburg und die Niederlande.
Die Zusammenarbeit war so erfolgreich, dass sie auf weitere Wirtschaftsbereiche ausgedehnt wurde. Logische Folge war die Umbenennung in Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1958. Im gleichen Jahr war die Geburtsstunde des Europäischen Parlaments – das damals aber noch keine gesetzgeberischen Kompetenzen hatte. Die „wilden 60er“ waren dann eine Zeit des Aufschwungs. Mit dem Wegfall der Zölle florierte die Wirtschaft, und es wurde erstmals eine gemeinsame Agrarpolitik vereinbart. Mit dem Beitritt von Dänemark, Irland und dem Vereinigten Königreich in den 1970er Jahren wuchs die Gemeinschaft auf neun Mitgliedsstaaten an. Erstmals kam der Umweltschutz auf die Tagesordnung. Mit dem Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung wurde 1974 ein Förderprogramm aufgelegt, mit dem bis heute Gelder in strukturschwache Regionen fließen, in Berlin beispielsweise in die ökologische Sanierung von Schulen, die Nachnutzung von Friedhöfen oder die Entwicklung einer „smarten Kehrmaschine“.
Nach dem Ende der Diktaturen in Westeuropa traten in den 1980er Jahren Griechenland, Spanien und Portugal dem Wirtschaftsbündnis bei. Nochmals einen gewaltigen Sprung nach vorne machte die Gemeinschaft in den 1990er Jahren nach dem Zusammenbruch des Kommunismus. Der 1992 geschlossene Vertrag von Maastricht gilt als Meilenstein in der Geschichte des vereinten Europa, legt er doch die Vorschriften für eine künftige gemeinsame Währung, für die Außen- und Sicherheitspolitik sowie eine engere Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres fest. Dieser Vertrag markiert den Beginn der „Europäischen Union“ (EU). Ebenfalls im Jahr 1992 fiel der Startschuss für den europäischen Binnenmarkt. Heute ist die EU die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt. Mit dem Schengener Übereinkommen von 1995 begann der grenzfreie Reiseverkehr, ganz ohne Passkontrolle – damals groß gefeiert. Heute ist der Wegfall der Schlagbäume für alle EU-Bürger:innen so selbstverständlich wie der Euro als gemeinsame Währung.
Hilfe für strukturschwache Regionen
Vor nunmehr 20 Jahren, am 1.Mai 2004, traten auf einen Schlag zehn weitere Länder bei, überwiegend Ostblockstaaten, darunter Polen, Ungarn und Slowenien. Die manchmal als „Big Bang“ bezeichnete EU-Osterweiterung wurde einerseits mit Feuerwerk und Partys an den Grenzübergängen gefeiert, war aber auch mit großen Ängsten auf der Seite der „Alt-Europäer“ verbunden. Doch der befürchtete Zustrom einer Masse von Arbeitssuchenden blieb weitgehend aus, und politisch war mit dem Beitritt endlich die Spaltung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg überwunden. Die Integration der neuen Mitgliedsländer war für die EU dennoch eine große Herausforderung, zumal drei Jahre später noch Bulgarien und Rumänien hinzukamen, zwei Länder, die wirtschaftlich wesentlich schwächer als der Durchschnitt waren. Auch in Bevölkerungszahl und politischer Tradition unterscheiden sich die aktuell 27 Mitgliedstaaten ganz erheblich. Es sei ein „großes gesellschaftliches und politisches Experiment“, verbunden durch gemeinsame Werte wie Pluralismus, Toleranz und Gerechtigkeit, befand das Bundesverfassungsgericht 2009 in seinem „Lissabon-Urteil“. Das Gericht hatte darüber zu entscheiden, ob der Vertrag von Lissabon, mit dem die Bundesrepublik einen Teil ihrer Souveränität an die EU abgeben sollte, mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Die Antwort: Er ist es.
Die Spaltung Europas in Ost und West ist vorüber
Dann, 2016, ein Novum: Die Union wurde nicht größer, sondern durch den Austritt Großbritanniens kleiner. Der „Brexit“, mit dem die Bürger:innen auf der Insel die „Regulierungswut der weltfremden Bürokraten in Brüssel“, aber auch den Umgang mit der Flüchtlingskrise abstraften, schlug große Wellen. Doch das befürchtete politische Erdbeben blieb bislang aus.
Statt mit der vielzitierten Bananenkrümmung beschäftigt sich die EU mittlerweile mehr mit essentiellen Fragen wie beispielsweise der Klimakrise. Dabei nimmt sie eine Vorreiterrolle ein und treibt die nationalen Gesetzgeber zum Handeln regelrecht an, etwa als die Europäische Kommission 2008 verbindliche Vorgaben für die Senkung des CO2-Ausstoßes für die einzelnen Mitgliederstaaten machte. Eine Richtlinie verpflichtet die Mitgliedsstaaten, den Anteil erneuerbarer Energien bei der Stromerzeugung zu erhöhen.
Beim Klimaschutz machtz Europa Tempo
Von der Förderung der Energieeffizienz über eine sozial verträgliche energetische Gebäudesanierung bis hin zur Reparaturpflicht für Handys, die schon nach einem Jahr kaputt gehen – überall tritt die EU aufs Gaspedal. Bei der Wohnungsfrage – für die sie als solches nicht zuständig ist – betätigt sie sich dagegen eher als Bremser. Mit dem Argument der Wettbewerbsverzerrung hat Brüssel schon mehrfach wenig mieterfreundlich in die Wohnungsförderungspolitik einzelner Länder eingegriffen, etwa, wenn es um die staatiche Förderung beim Sozialen Wohnungsbau ging.
Wenn am 9. Juni rund 66 Millionen Wahlberechtigte in Deutschland zur Wahl des Europaparlaments aufgerufen sind, ist es daher auch im Interesse von Mieterinnen und Mietern, mit ihrer Stimme die künftige Weichenstellung mitzubestimmen.
Birgit Leiß
Gesetzgebung, Kontrolle und Haushalt: das Europäische Parlament
Das 1952 gegründete Europäische Parlament ist eines der wichtigsten Organe der Europäischen Union und vertritt die Interessen der Bürger:innen auf europäischer Ebene. Seine Kompetenzen wurden im Laufe seiner Geschichte immer mehr erweitert. Mittlerweile ist es zuständig für die Gesetzgebung, die demokratische Kontrolle aller EU-Institutionen und die Festlegung des EU-Haushalts. Es setzt sich zusammen aus 705 Abgeordneten und wird alle fünf Jahre bei den Europawahlen direkt gewählt. Die Anzahl der Sitze, die jedes Land hat, richtet sich nach dessen Bevölkerungsgröße.
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Die Regierung der EU: die Europäische Kommission
Die 1958 gegründete Europäische Kommission ist quasi die „Regierung“ der EU. Sie macht Vorschläge für neue Rechtsvorschriften, verwaltet den EU-Haushalt und setzt die Beschlüsse des Europäischen Parlaments und des Rates der EU um. Ihr gehören 27 Kommissare an – eine:r aus jedem EU-Land – die jeweils für ein Ressort zuständig sind. Vorgeschlagen werden sie von den EU-Staaten, dann müssen sie sich den Abgeordneten des Europäischen Parlaments vorstellen und werden schließlich vom Europäischen Rat ernannt.
Der Präsident oder die Präsidentin der Kommission wird von den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten unter Berücksichtigung der Wahlergebnisse vorgeschlagen und vom Europäischen Parlament gewählt.
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Who is who: Verwirrung um drei wichtige Räte
Der Europäische Rat und der Rat der EU werden oft miteinander verwechselt. Der Europäische Rat mit Sitz in Brüssel setzt sich zusammen aus den Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten. Er legt die politische Agenda der EU fest, darunter auch die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Im Rat der EU wiederum kommen, je nach behandeltem Politikbereich, die Fach-Minister:innen aus allen EU-Ländern zusammen, um Rechtsvorschriften zu diskutieren, zu ändern und anzunehmen.
Der 1949 gegründete Europarat hingegen ist keine Einrichtung der EU, sondern eine eigene internationale Organisation mit Sitz in Straßburg. Der Europarat hat 47 Mitgliedstaaten und setzt sich für Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ein.
bl
Wer möchte, dass das Parlament in einer bestimmten Sache tätig wird, kann eine Petition einbringen. Voraussetzung ist, dass das Anliegen in den Tätigkeitsbereich der EU fällt und dass man unmittelbar betroffen ist:
www.europarl.europa.eu/at-your-service/de/be-heard/petitions
Wer kann wählen gehen? Wie beantrage ich Briefwahl? Und wie kann ich Helfer:in bei
der Europawahl sein? Die Antworten auf diese und viele weitere Fragen finden sich unter
www.berlin.de/europawahl
30.05.2024