Nach groben Schätzungen schlafen in Europa Nacht für Nacht 895.000 Menschen in einer Notunterkunft oder im Freien. Die Zahl der Obdachlosen in der EU hat sich seit 2009 verdoppelt. Um Auswege aus dieser unerträglichen sozialen Lage zu finden, haben sich im Jahr 2021 EU-Institutionen, Mitgliedsstaaten und Interessenträger auf einer Europäischen Plattform zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit zusammengefunden.
Nach deren Ergebnissen fragt das MieterMagazin den luxemburgischen Sozialdemokraten Nicolas Schmit, der als EU-Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte mit der Problematik der Wohnungslosigkeit in Europa beschäftigt ist.
Herr Schmit, was wurde in den zurückliegenden drei Jahren erreicht?
Zuallererst bin ich stolz, dass alle Mitgliedsstaaten der Plattform angehören. Die Minister:innen aus der gesamten EU haben sich verpflichtet, Obdachlosigkeit zu verhindern, den Zugang zu dauerhaftem Wohnen zu verbessern, Unterstützungsdienste bereitzustellen und zu finanzieren – und sich auszutauschen. Das ist, neben Ursachenanalyse und Datenerhebung, besonders wichtig, wenn wir von erfolgreichen nationalen Strategien lernen wollen. Wir müssen solidarisch
zusammenarbeiten, um Lösungen zu finden, die für jede Stadt und jede Region passend sind. Austausch ist eines der wichtigsten Instrumente.
Auf welche Beispiele können Sie verweisen?
Eines der wirksamsten Projekte ist „Housing First“, also die von Unterstützungsdiensten begleitete Versorgung mit Wohnraum, der erst einmal ohne Vorbedingungen Wohnungslosen zur Verfügung gestellt wird. Finnland ist hier der Vorreiter. Auch die französische Metropole Lyon hat eine Fünfjahresstrategie entwickelt, die auf dem Grundsatz „Housing First“ beruht. Die Tschechische Republik finanziert mit EU-Mitteln erschwinglichen Wohnraum und konzentriert sich in Mährisch-Schlesien* auf die Wohnungslosigkeit von Roma-Familien, die besonders von sozialer Ausgrenzung bedroht sind. In Deutschland – wo die Wohnkosten-Überlastung eine der höchsten in der EU ist – unterstützt der „Europäische Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten Personen“ (EHAP) über 150 Projekte für Wohnungslose. Der Zugang zu Finanzmitteln ist ein Hauptanliegen der Plattform.
Das Ziel der Plattform ist es, die Obdachlosigkeit bis 2030 zu beenden …
Nicolas Schmit: … und seit ihrer Gründung sind wir mit unerwarteten globalen Herausforderungen konfrontiert. Die verschiedenen Krisen, die Flucht einer großen Zahl von Menschen, etwa aus der Ukraine, haben zu einer wachsenden Obdachlosigkeit in Europa geführt. Aber: Auch wenn wir noch einen weiten Weg vor uns haben. Unsere Politik wirkt. Das zeigt das finnische Beispiel, wo es gelungen ist, die Obdachlosigkeit deutlich zu verringern – und wo sie, nach dem Willen der dortigen Regierung, bis 2027 ganz beseitigt sein soll.
Das Interview führte Rosemarie Mieder
* Gebiet im Nordosten der heutigen Tschechischen Republik, das einen Großteil des historischen Österreich-Schlesien umfasst.
„Niemand muss auf der Straße schlafen“
Die Unterstützer der „Europäischen Plattform zur Bekämpfung von Obdachlosigkeit“ – neben allen Mitgliedsstaaten auch das Europäische Parlament, der Wirtschafts- und Sozialausschuss und der Ausschuss der Regionen – haben fünf Ziele vereinbart:
• Niemand muss auf der Straße schlafen, weil es an zugänglichen, sicheren und geeigneten Notunterkünften mangelt.
• Niemand muss länger in Not- und Übergangsunterkünften leben, als für eine dauerhafte Lösung der Unterbringungsfrage notwendig ist.
• Niemand wird ohne das Angebot einer angemessenen Unterkunft aus einer Einrichtung wie etwa einer Haftanstalt, einem Krankenhaus oder einer Pflegeeinrichtung entlassen.
• Niemand wird seiner Wohnung verwiesen, ohne bei Bedarf Unterstützung bei der Suche nach einer angemessenen Unterkunft zu erhalten.
• Niemand wird aufgrund seiner Obdachlosigkeit diskriminiert.
rm
Unzulängliche Daten
Bis heute fehlen umfassende und einheitlich erhobene Daten, um die Situation Obdachloser in Europa zu erfassen. Das kritisiert der Bericht „Poor Housing in Europe“ (Schlechte Wohnverhältnisse in Europa), veröffentlicht von der Europäischen Föderation nationaler Organisationen, die mit Obdachlosen arbeiten (FEANTSA) und der Fondation Abbé Pierre. Die Studie bezieht sich deshalb auf Angaben verschiedener nationaler und lokaler Behörden. Erfasst werden Registrierungen in Nothilfeeinrichtungen. Demnach nahm die Wohnungslosigkeit vor allem in Großstädten dramatisch zu: In Barcelona stieg sie innerhalb eines Jahres um 19 Prozent, in Dublin um 31 Prozent und in Paris um 69 Prozent. In Deutschland liegt Hamburg mit rund 19 .000 Wohnungslosen an der Spitze (Stand September 2022).
rm
29.05.2024