Die Geschichte der Jagowstraße 35 ist symptomatisch für Berlin und seine Altbaukieze: Ein Haus mit Geschichte, bedroht durch neue Eigentümer:innen, die Profit über das Wohl der Bewohner:innen stellen. Der Prozess der Verdrängung begann vor Jahren und soll nun in einer geplanten Luxussanierung und dem Teilabriss münden. Die verbliebenen Mieter:innen sollen raus. Ein Hausbesuch.
Es ist ein sonniger Samstagvormittag Ende April in Berlin-Moabit, als wir insgesamt acht Wohnungsbesichtigungen mit dem Anwalt der Eigentümergesellschaft im Haus der Jagowstraße 35 begleiten. Der Eigentümer hatte Wohnungsbegehungen gefordert, die Mieter:innen haben erreicht, alle Termine auf einen Tag zu legen – und eine Aktion daraus zu machen.
Etwa 30 Menschen sind zur solidarischen Unterstützung gekommen. Sie wollen den betroffenen Mietenden den Rücken stärken und den Eigentümer:innen zeigen, dass hier eine Hausgemeinschaft wohnt, die ihre Rechte weiterhin einfordern wird. Denn der mit Efeu berankte Altbau steht sinnbildlich für das, was auf dem Berliner Wohnungsmarkt falsch läuft. Spekulation mit Immobilien und Boden, Luxussanierung und Abriss verdrängen Mieter:innen aus ihren Wohnungen und gentrifizieren die Kieze. Moabit ist bei Anleger:innen und Investoren schon seit einigen Jahren sehr gefragt. Hier gibt es noch einige wenige Häuser, wie das in der Jagowstraße 35, aus denen man Profit schlagen kann.
Bevor die Abrissgenehmigung erteilt war, haben die Investoren im vergangenen Jahr die freiwerdenden Wohnungen in der Jagowstraße 35 entkernt und rückgebaut. Unter chaotischen Baustellenbedingungen und ohne Rücksicht auf die Mieter:innen im Haus begann der Prozess der sogenannten „kalten Entmietung“. Einige haben den Druck und die Ungewissheit nicht ausgehalten und sind ausgezogen, andere sind geblieben, um für ihr Zuhause zu kämpfen und weil sie die Chance auf ein neues, bezahlbares Zuhause in ihrem Kiez als gering einschätzen.
Aus dem innenstadtnahen Arbeiterkiez nahe des Moabiter Gefängnisses und dem Hauptbahnhof ist in den vergangenen Jahren ein Viertel für Gutverdienende und Wohnungseigentümer:innen geworden. Auch in der Jagowstraße 35 sind die Wohnungen bereits umgewandelt und sollen nach dem geplanten Abriss und Neubau des Vorderhauses, einer Tiefgarage und der Sanierung von Seitenflügel und Quergebäude über eine nachgeschaltete Verwertungsgesellschaft einzeln verkauft werden – mit Gewinn. Noch immer haben die Mieter:innen keine Ahnung, was mit ihnen geschehen soll.
Um 12 Uhr beginnen die Begehungen. Rechtsanwalt Björn Matthias Jotzo, ehemaliger Sprecher der FDP-Fraktion im Abgeordnetenhaus, begutachtet nach und nach sämtliche Wohnungen, bis auf eine: Mieter Bernd T. liegt im Krankenhaus, seine Tür bleibt heute zu.
Offen bleibt die Frage, welche Konsequenzen die Dokumentation des Eigentümeranwalts für die Mieter:innen hat, insbesondere für die Teile des Gebäudes, die abgerissen werden sollen.
Während wir gemeinsam durch die Wohnungen gehen, liegt die Verunsicherung der Mieter:innen spürbar in der Luft. Auch Jotzo wirkt angespannt. Eine engagierte Mieterin führt in jeder Wohnung Protokoll darüber, was der Anwalt tut. „Wir lassen nicht zu, dass die wenigen Rechte, die wir noch haben, auch noch ignoriert werden“, sagt sie.
Nachbarschaftlicher Zusammenhalt als Antwort
Die Bewohner:innen der Jagowstraße 35 haben Tische vor dem Haus aufgebaut, Transparente aufgehängt und beschriftete Kartons aufgestellt. Es gibt Kaffee und Kuchen. Der friedliche Protest soll auch bei den Anwohner:innen Aufmerksamkeit erregen. Eine ältere Dame sitzt auf einem Sofa, das in einer Parkbucht steht und blickt mit einer Tasse Kaffee in der Hand verträumt auf die Runde, die sich auf der Straße niedergelassen hat. Das Haus gegenüber, die Jagowstraße 12, leistet seelischen Beistand und hat die Tore zum Hinterhaus für Snacks und Getränke geöffnet. In knalligem Pink haben sie einen Zebrastreifen als symbolische Verbindung zwischen den beiden Häusern auf die Straße gemalt. Die Nachbar:innen aus der 12 kennen die Situation aus eigener Erfahrung, sie haben einen ähnlichen Kampf gekämpft – und gewonnen. Allerdings liegt das schon Jahrzehnte zurück. Heute gehört das Haus seinen Bewohner:innen und wird von ihnen selbst verwaltet.
Armin D., langjähriger Mieter in der Jagowstraße 35, erzählt einem Aktiven aus dem Mietenwahnsinn Bündnis Berlin von den günstigen Mieten, die die Bewohner:innen dank alter Mietverträge hier bezahlen. Das Haus gehörte lange einem Privatbesitzer, dessen Erbin es nach seinem Tod im September 2017 verkaufte. 2019 erwarb dann eine GmbH mit Sitz in der Potsdamer Straße das Wohnhaus. Die beiden Eigentümerwechsel brachten Veränderungen mit sich, die das Leben der Bewohner:innen schon seit Jahren erschweren: Vernachlässigung, ausbleibende Mängelbeseitigung in den Wohnungen, Hausfluren und Höfen sowie Lärm und Staub durch die Entkernungen der bereits „freigezogenen“ Wohnungen gehören seit Jahren zu ihrem Alltag. Den vergangenen Winter haben viele der Mieter:innen mehrere Wochen ohne Heizung verbracht.
Laut geworden sind die Mieter:innen der Jagowstraße 35 deshalb schon vor einer ganzen Weile. Sie suchten Unterstützung bei Bezirksbürgermeisterin Stefanie Remlinger und Baustadtrat Ephraim Gothe. Ihre Stimmen wurden zwar gehört, doch es fehlt dem Bezirk an rechtlichen Möglichkeiten, heißt es. Man müsse den Abriss und die Luxussanierung genehmigen. Die Baugenehmigung für einen Neubau mit Tiefgarage sowie die Modernisierung des Seitenflügels und des Quergebäudes wurden also inklusive Abrissgenehmigung für das Vorderhaus inzwischen vom Bezirksamt erteilt. Auch die von einigen Bezirkspolitiker:innen und Mieter:innen geforderte Klage nach Paragraph 6 Wirtschaftsstrafrecht (Durchführung einer baulichen Veränderung in missbräuchlicher Weise) wurde vom Bezirk nicht weiter verfolgt. Man habe keine Erfahrung in der Anwendung, das Rechtsrisiko ist nicht einzuschätzen.
Kündigung, Umsetzung, Mietsteigerungen – wie geht es weiter?
Bislang gab es keine Verwertungskündigungen für die 19 verbliebenen Mieter:innen, doch niemand kann derzeit die rechtliche Lage der Mieter:innen einschätzen.
In Umsetzwohnungen sollen die Mieter:innen ziehen, wenn die Baumaßnahmen beginnen. Auf Nachfrage bei Anwalt Jotzo, ob diese Umsetzwohnungen bereits identifiziert seien und wo sich diese befänden, gibt es nur die Antwort: „Da sind wir dran.“ Mindestens 24 Monate sollen die Menschen in den Ersatzwohnungen leben, diese Aussage kann ihm noch entlockt werden. Ob das rechtlich zulässig ist und ob es wirklich so geschehen wird, bleibt fraglich.
Profit über Gemeinschaft: Die Haltung der Eigentümer
Fälle wie die der Jagowstraße 35 zeigen die Dringlichkeit von Maßnahmen auf politischer Ebene, um das Gleichgewicht zwischen Profitinteressen und dem Wohl der Allgemeinheit wiederherzustellen. „Es ist an der Zeit, dass die Interessen der Mieter:innen über den Profit gestellt werden“, sagt eine Nachbarin vor dem Haus völlig entnervt. „Die Wohnungsnot sollte kein Gegenstand des Marktes sein, sondern einer der sozialen Gerechtigkeit und des Respekts vor dem Recht auf angemessenes Wohnen.“
Die Hausgemeinschaft der Jagowstraße 35 hat klare Vorstellungen, was zu ihrem Schutz getan werden kann. Sie fordert vom Bezirk Mitte und dem schwarz-roten Senat ein sofortiges Einfrieren von Abrissgenehmigungen, nicht nur aus wohnungs- und sozialpolitischen, sondern auch aus klimapolitischen Gründen. Außerdem fordern sie einen Dialog mit den Eigentümern, in dem es um behutsame Sanierung und eine mögliche Aufstockung des abrissbedrohten Vorderhauses gehen könnte. Laut Stadtrat Gothe habe es einen Versuch gegeben, die Eigentümer meldeten sich jedoch nicht und ließen sich ausschließlich über ihren Anwalt vertreten.
Vera Colditz und Franziska Schulte haben die Besichtigungen begleitet.
20.06.2024