Das Tuntenhaus in der Kastanienallee 86 hat es geschafft: nach drei Monaten Kampf kommt der Altbau in gemeinwohlorientierte Hände. Berlins ältestes queeres Wohnprojekt ist gerettet.
Plutonia Plüschowa ist 1997 ins Tuntenhaus gezogen: „Ich bin damals aus der Provinz gekommen, hier war ein Ort, wo ich mich wohl und sicher fühlte – ein Ort, wo ich mich ausprobieren und weiterentwickeln konnte.“ Plutonia wohnt mit Stefanie Gras in einer Fünfer-WG. Mit der unzeitgemäßen Ausstattung – Kohleofen, Außenklo auf halber Treppe – haben sie kein Problem. Gebadet wird im Gemeinschaftsbad auf dem Dachboden oder in einer der Wohnungen, die über ein Bad verfügen. Die meisten Türen auf den Stockwerken stehen ohnehin offen. Wenn die Bewohner:innen in Frauenkleidung, geschminkt und mit Perücke auf die Straße gehen, werden sie oft beschimpft und angepöbelt. „Ich leiste da auch Aufklärungsarbeit und diskutiere mit den Leuten: Tuntentum ist politisch“, erklärt Stefanie selbstbewusst.
Im Februar 2024 haben sie erfahren, dass ihr Haus verkauft wurde. Nach dem ersten Schock wurden sie aktiv: Tanzdemos organisieren, Rave-Kundgebung inklusive Dragshow auf die Beine stellen und das Gespräch mit Politiker:innen suchen. Höhepunkt war ein Tuntenspaziergang durchs rheinland-pfälzische Wörth, dem Wohnsitz des Käufers. „Wäre die Hausgemeinschaft verdrängt worden, wäre das ein immenser Verlust gewesen“, erklärt Stéphane Flesch – und das nicht nur für die 36 Bewohner:innen selber. Das Haus trägt auch in einem der teuersten Kieze Berlins zur sozialen und kulturellen Vielfalt bei.
Aufatmen: Vorkauf durch den Bezirk
So gibt es im Hof eine Verteilstelle für gerettete Lebensmittel und einmal im Monat eine „Küche für alle“. Stéphane hat acht Jahre lang im Tuntenhaus gewohnt: „Das war eine ganz wichtige Zeit in meiner Biografie. Durch die geringere Miete hatte ich mehr Zeit für soziales und politisches Engagement.
Mitte Mai konnten die Bewohner:innen dann aufatmen: Der Bezirk Pankow übte das Vorkaufsrecht aus – nach der Neuköllner Weichselstraße 52 war es das zweite Mal seit dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts im Jahr 2021, das die Vorkaufspraxis der Berliner Bezirke von da an praktisch unmöglich machte. Doch wie in Neukölln begründete der Bezirk Pankow den Vorkauf mit dem schlechten baulichen Zustand des Gebäudes.
Ganz ohne Mietsteigerung geht es nicht
Die für die Übernahme des Hauses vorgesehene Käuferin, die Stiftung Edith Maryon, wird das Haus sanieren und anschließend in Erbpacht an die Genossenschaft Selbstbau eG verkaufen – zu einem Preis, in den auch die hohen Sanierungskosten einfließen. Dafür wurden der Selbstbau Fördermittel aus dem Bestandserwerbsprogramm des Senats in Aussicht gestellt. Dass die Mieten nach der Sanierung steigen, ist unvermeidbar. „Wir sind einfach nur glücklich und immer noch völlig überwältigt von dieser Entwicklung und Unterstützung“, sagen die Bewohner:innen des Tuntenhauses.
Birgit Leiß
Drei Tuntenhäuser in Berlins jüngerer Vergangenheit
Tunten sind homosexuelle Männer, die ihre feminine Seite betonen und gelegentlich Frauenkleidung anziehen. Die eigentlich abwertende Bezeichnung wurde durch die Tuntenbewegung positiv umgedeutet – auch als Kampfansage an die bürgerliche Schwulenszene. Das erste Berliner Tuntenhaus existierte von 1981 bis 1983 in der Schöneberger Bülowstraße. Berühmt wurde der „Forellenhof“ in der Mainzer Straße in Friedrichshain. Etwa 30 Tunten hatten dort am 1.Mai 1990 ein Haus besetzt. Im November 1990 wurde es zusammen mit anderen Häusern nach Straßenschlachten geräumt. Ein Teil der Gruppe besetzte kurz danach die leerstehende Kastanienallee 86 und erhielt Mietverträge von der kommunalen Wohnungsbaugesellschaft Prenzlauer Berg. 1999 wurde das Haus rückübertragen und 2004 schließlich an die Kastanienallee 86 GbR verkauft.
bl
27.06.2024