Vor 150 Jahren erschien eine bemerkenswerte Schrift: Sie kritisierte eine Städteplanung, der es in erster Linie um bürgerliche Repräsentation ging und die die Arbeiterwohnungen vernachlässigte. Das Traktat stellte baulich durchdachte Vorschläge für einen sozialen Wohnungsbau und ein Begrünungskonzept dagegen. Das Besondere: Hinter der Publikation stand eine Frau. Den Stadtplanern ihrer Zeit war sie weit voraus.
Die Adelheid-Poninska-Straße liegt am Rande Berlins, in Staaken. Dabei steht die Namensgeberin doch auf einzigartige Weise für eine dichtbevölkerte Metropole: „Sie war eine Städtebautheoretikerin der Großstadt“, erklärt die Schweizer Architekturhistorikerin Eliana Perotti. Bewiesen hat Poninska dies in erster Linie mit ihrem Traktat „Die Großstädte in ihrer Wohnungsnot und die Grundlagen einer durchgreifenden Abhilfe“, mit dem sie männlicher Expertise bei weitem den Rang ablief. Die 260 Seiten umfassende Schrift erschien vor 150 Jahren und war das erste städtebauliche Traktat im deutschsprachigen Raum überhaupt. Perotti: „Sie hat darin den gesamten Mechanismus einer Großstadt betrachtet, auch alle sozialen Komponenten.“ Damit war sie eine Pionierin – und dazu volkswirtschaftlich, sozialwissenschaftlich sowie bautechnisch vollkommen auf der Höhe ihrer Zeit.
Ihr großes theoretisches Wissen erwarb die Stadtplanerin nicht auf einer Universität. Zu denen hatten Frauen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts so gut wie keinen Zugang. Poninska, die 1804 als Gräfin zu Dohna-Schlodien im Haus eines preußischen Offiziers und Großgrundbesitzers geboren wurde, war Autodidaktin. Wie bei vielen ihrer Zeitgenossinnen reifte bei ihr über karitatives Engagement und philanthropische Kreise ein soziales Verantwortungsgefühl, das sie schließlich auch an städtebauliche Fragen heranführte. Spiegelten sich doch gerade darin die sozialen Probleme der fortschreitenden Industrialisierung.
„Arbeiterwohnungen wurden übersehen“
Immer mehr Menschen drängten in die großen Städte und lebten zusammengepfercht in Mietskasernen. Wie etwa in Berlin, wo allein zwischen 1867 und 1871 die Bevölkerung um 17,64 Prozent gewachsen war, wie es im Vorwort beschrieben wird. Eliana Perotti: „Übervölkerung, keine Kanalisation, miserable hygienische Zustände – die Lebensumstände in den Arbeitervierteln waren katastrophal.“
Adelheid Poninska, die mit ihrem Mann viel reiste, kannte die Back-to-back-Behausungen in England, die Elendsquartiere von Paris, das „steinerne Berlin“, wohl auch das Hamburger Gängeviertel. Den Anstoß für ihre Hinwendung zur Städtebaukritik gaben ihr vermutlich das Erweiterungsprojekt der Wiener Altstadt und der Bau der Ringstraße. Ärgerlich stellte sie nach dem Besuch einer Ausstellung zu den Wettbewerbsbeiträgen im Oktober fest, dass „fast alle Concurrenten in ihren nahezu einhundert Plänen eines der wesentlichsten Stücke, die bei jeder Stadterweiterung in Betracht zu ziehen sind, die Arbeiterwohnungen, übersehen und sich gar nicht darum bekümmert hatten“. Stattdessen registrierte die aufmerksame Beobachterin die Vertreibung der alteingesessenen Bevölkerung aus Wiens Altstadt durch die Errichtung von Prunkbauten. In dem neuen bürgerlichen Bedürfnis nach Repräsentation, Bildung, Kultur und Konsum sah sie die hauptsächlichen Gründe für die große Wohnungsnot. So kritisierte Poninska „die … leidenschaftlich erregte Baulust in Berlin und … das colossale Anwachsen der Hauptstadt …“, bei der sie Maßnahmen „bezüglich einer Abhilfe der immer steigenden Wohnungsnot“ gänzlich vermisse. In ihrem Traktat belässt sie es nicht bei Kritik, sondern formuliert konkrete planerische und bauliche Maßnahmen und diskutiert ihre Durchführbarkeit. Sie beschäftigt sich mit der Typologie von Arbeiterwohnungen und ihrer Wohnanlagen und bewertet auch mustergültige Werkssiedlungen vor allem deutscher Fabriken. Allerdings – so ihr Fazit – kämen die immer nur einer „Elite der Arbeiter“ zugute. Als eine „mit den Bedürfnissen der verschiedenen Stände absolut vertrauten Frau“ interessiere sie sich aber in erster Linie für die Bedürftigsten. Die hätten kaum Zugang zu solchen Siedlungen, darum müsste für sie eine neue Form von Wohnanlagen geplant werden.
Poninska entwirft selbst einen Musterwohnkomplex mit Plänen und Erläuterungen in der Hoffnung, er würde „in der Theorie begriffen und in der Praxis zur Geltung kommen“. Ihre Vorschläge sehen nicht nur billigere Mieten, bessere Wohnungen und einen Anteil an Gärten vor. Ihre Stadtplanung bedenkt alle alltäglichen Lebensumstände wie die Betreuung von Kindern und die Lage der Wohnungen zu den Arbeitsstätten. Die Wohnanlagen sollten sich „theils noch innerhalb des Weichbildes der Stadt, in der Nähe der Fabriken … theils auch außerhalb desselben …“ befinden, „wo dann die Verbindung zwischen Arbeitsstätte und Wohnung mittels Eisenbahn, meistens wohl Pferdebahn, und zwar zu ermässigten Preisen für Arbeiterzüge … herzustellen ist.“
„Bauherren auf bindende Mietsätze verpflichten“
Um kostengünstig bauen zu können und nach und nach die Wohnverhältnisse besser und großzügiger zu gestalten, vertritt Poninska eine sozial gerechte Form des Eigentums an städtischem Grund und Boden. Städtebaupolitik könne ihrer Ansicht nach erst wirksam werden, wenn der Begriff von Eigentum der Allgemeinheit angepasst würde. Gemeinden und der Staat sollten weitreichende Machtbefugnisse bekommen, um Bauland vor Spekulationen zu bewahren. Sie geht so weit, zu verlangen, dass Bauherren verpflichtet werden müssten, sich auf bindende Mietsätze festzulegen. Neu zu gründende Wohnungsämter sollten eine Kontrollfunktion ausüben.
Die Überlegungen von Adelheid Poninska legen auch erstmals ein umfassendes Konzept für grüne Freiräume vor. Eine Gürtelzone rings um die Stadt solle „freie Flur“ sein, „welche die compacten Steinmassen … rings umgiebt“. Diese Ringzone, eine halbe Meile breit, müsse vom Stadtzentrum zu Fuß oder mit der Pferdebahn gut erreicht werden können.
Ihre Idee eines solchen grünen Rings ist später von Städteplanern immer wieder aufgegriffen und etwa in Wien auch umgesetzt worden. Da kannte den Namen Adelheid Poninska längst niemand mehr. Zumal sie es nicht für erfolgversprechend gehalten hatte, ihre Schrift unter ihrem Namen zu veröffentlichen. Vielmehr sollte ein männliches Pseudonym („Arminius“) in dem frauenfeindlichen Milieu für Akzeptanz der Ideen sorgen und diese so einem möglichst großen Expertenkreis zugänglich gemacht werden. Denn als Frau musste sie befürchten, nicht ernst genommen zu werden – kannte sie doch die Herabwürdigungen ihrer Person als eine „sentimentale gelehrtseynwollende hässliche Preussin“.
Bei ihrem Tod 1881 in Leipzig war ihre Schrift nahezu vergessen – und wenn später in Städteplanungen und Artikeln Bezug darauf genommen wurde, so blieb sie hinter dem Namen „Arminius“ versteckt.
Heute ist Adelheid Poninska durchaus wieder bekannt – den ihr gebührenden Platz nimmt diese wichtige Theoretikerin jedoch noch immer nicht ein. In Berlin wäre der mitten in der Stadt gewesen.
Rosemarie Mieder
Der Lesetipp zum Thema
Wohnungsbau, Architektur, Denkmalpflege, Landschaftsgestaltung und Regionalplanung: Auf den Aktionsbühnen drängen sich noch immer die Männer in den Vordergrund. Welch substantiellen und oft alternativen Beitrag Frauen seit mehr als 150 Jahren zur urbanen Entwicklung leisten, wie sie unsere Städte bereichert und auch verändert haben, macht eine Anthologie auf sehr lesenswerte Art deutlich. Sie führt uns mit zehn Protagonistinnen nicht nur durch die Geschichte der Städteplanung seit dem 19. Jahrhundert, sondern quer durch die Welt: von Europa über Amerika bis nach China. Lebensgeschichten, Karrieren und Spuren von bekannten und unbekannten Stadtgestalterinnen.
rm
27.10.2024