Anders als CDU/CSU und FDP behaupten, leidet der Bundeshaushalt nicht nur unter einem Ausgaben-, sondern auch unter einem Einnahmenproblem. Denn bei den Steuereinnahmen gibt es massive Ungerechtigkeiten. Während die breite Bevölkerung ihren Steuerpflichten weitgehend nachkommt, gewährt der Staat vermögenden Haushalten sowie großen Immobilienunternehmen diverse Steuererleichterungen, die den Staat jährlich mehrere Milliarden Euro an Einnahmen kosten.
„Gerechtigkeitslücken schließen. Gemeinwohl stärken“ – so lautet der Titel eines Papiers der beiden Bundestagsabgeordneten von Bündnis 90/Die Grünen Katharina Beck und Andreas Audretsch, vorgestellt auf dem Zukunftskongress der Bundestagsfraktion im September 2024. Sie fordern darin eine Schließung dieser Lücken im Steuersystem, um mehr finanzielle Spielräume für das Gemeinwohl zu schaffen. Besonders im Bereich Immobilien und bei Erbschaften bestehen große Ungleichheiten. Diese tragen maßgeblich zur wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich bei und haben gravierende Folgen für das gesellschaftliche Zusammenleben.
Im Folgenden fassen wir sechs Vorschläge der Bundestagsabgeordneten aus dem Papier zusammen und sprechen mit dem Steuerexperten Christoph Trautvetter vom Netzwerk Steuergerechtigkeit über diese und weitere Gerechtigkeitslücken beim Thema Wohnen.
Forderung 1: Abschaffung der Steuerfreiheit von Gewinnen aus Immobilienverkäufen
Die bisherige Steuerfreiheit auf Gewinne aus Immobilienverkäufen nach Ablauf einer zehnjährigen (Anti-)Spekulationsfrist soll abgeschafft werden. Diese Regelung hat maßgeblich die Spekulation mit Wohnraum vorangetrieben. Künftig soll für nicht selbstgenutztes Immobilieneigentum die übliche Kapitalbesteuerung greifen. Erwartete Mehreinnahmen für den Staat: 6 Milliarden Euro im Jahr.
Herr Trautvetter, die Zehn-Jahres-Frist sollte ursprünglich Spekulationen mit Immobilien verhindern. Doch nur wenige wissen, dass nach Ablauf der Frist keine Erwerbteuer anfällt. Was bezweckt diese Regelung, für wen ist sie gedacht und wie muss diese Lücke geschlossen werden?
Trautvetter: Eine Steuer auf Spekulationsgewinne ist sinnvoll. Seit 2008 werden Wertzuwächse beim Verkauf von Aktien besteuert, jedoch nicht bei Immobilien, Bitcoins und Oldtimern. Abgesehen davon, dass jede Steuererhebung Aufwand ist, argumentieren die Gegner, dass Wertsteigerungen zum Teil inflationsbedingt sind. Doch angesichts der großen Wertsteigerungen bei Immobilien in den letzten Jahren ist der Inflationsanteil sehr gering. Zudem können Eigentümer:innen jedes Jahr einen theoretischen Wertverlust – die sogenannte Abschreibung – ansetzen und damit Steuern sparen. In der Steuererklärung sinkt der Wert der Immobilie jedes Jahr, während in der Realität der Verkaufspreis steigt. Es ist also absolut sinnvoll, Verkaufsgewinne von Immobilien genauso wie bei Aktien zu besteuern oder zumindest diese Steuergutschriften nachträglich zurückzufordern. Wie viel Mehreinnahmen der Staat damit in den nächsten Jahren erzielen kann, hängt davon ab, ob man die großen Wertsteigerungen der letzten Jahre noch rückwirkend erfassen kann oder nicht.
Forderung 2: Beendigung der Gewerbesteuerfreiheit für vermögensverwaltende Immobiliengesellschaften
Vermögensverwaltende Immobiliengesellschaften sind bislang von der Gewerbesteuer befreit, was ihnen eine unfaire Besserstellung gegenüber anderen Branchen verschafft. Geschätzte Mehreinnahmen für die Kommunen bei Aufhebung dieser Gewerbesteuerbefreiung: 1,5 Milliarden Euro.
Was genau sind vermögensverwaltende Kapitalgesellschaften und warum zahlen sie keine Gewerbesteuer?
Trautvetter: Immobiliengesellschaften, die ausschließlich Wohnungen vermieten und nicht aktiv im Immobilienhandel tätig sind oder beispielsweise ein Heizkraftwerk betreiben, können die Gewerbesteuer vermeiden. Grund ist die sogenannte erweiterte Kürzung, eine Regelung aus der Zeit des Nationalsozialismus, die ursprünglich dazu diente, Investitionen in Immobilien zu fördern. Heute gilt sie auch, wenn Eigentümer:innen lediglich mit Bestandsimmobilien spekulieren. Diese Regelung sollte abgeschafft und durch gezielte Fördermaßnahmen ersetzt werden, um Investitionen sinnvoller zu lenken.
Forderung 3: Umgehung der Grunderwerbsteuer durch „Share Deals“ verhindern
Beim Immobilienkauf fällt normalerweise für den Erwerber die Grunderwerbsteuer an. Diese Steuerpflicht wird jedoch oft umgangen, wenn der Käufer nicht die Immobilie direkt, sondern die Geschäftsanteile eines Unternehmens erwirbt, das die Immobilie besitzt – ein sogenannter „Share-Deal“. Die Reform der Share Deals im Jahr 2021, bei der der Schwellenwert für eine Steuerbefreiung von 95 auf 90 Prozent der Unternehmensanteile gesenkt wurde, erweist sich als ineffektiv. Aktuelles Beispiel: Vonovias Erwerb der Deutsche Wohnen. Vor drei Jahren hatte Vonovia 87 Prozent der Anteile und musste keine Grunderwerbsteuer zahlen. Mit einem Trick sicherte sich Vonovia nun die restlichen 13 Prozent und vermied erneut die Steuer, indem sie 20 Prozent der bisherigen Anteile in einem gemeinsamen Joint Venture mit einem Finanzdienstleister „parkte“.
Wie häufig kommen diese Share Deals vor? Was wäre eine gerechte Lösung, die vor allem Mietende nicht zusätzlich belastet?
Trautvetter: Trotz jahrelanger Debatten und mehrerer Studien gibt es keine verlässlichen Zahlen zum Umfang der Share Deals. Das liegt daran, dass der Handel mit Anteilen an Unternehmen, die in Deutschland Immobilien besitzen, nicht systematisch erfasst und ausgewertet wird. Schätzungen gehen von einem jährlichen Verlust an Steuereinnahmen von rund 1 Milliarde Euro aus, auch wenn die Reform von 2021 und geringere Handelsaktivität diesen möglicherweise etwas reduziert haben. Der Schaden konzentriert sich auf wenige große Deals, wo Share Deals sehr häufig sind. Allein beim Vonovia-Deal entging dem Staat mehr als 1 Milliarde Euro. Gerecht wäre, wenn alle – unabhängig davon ob Großkonzern oder Eigenheimkäufer – die Steuer zahlen müssten, wobei der Gesetzgeber Ausnahmen für selbstgenutzte Wohnimmobilien oder Bauherren macht. Technische Lösungen für eine gerechte Steuererhebung werden seit Jahren diskutiert, aber bisher von einigen Ländern blockiert. Für Mietende könnte die Verteuerung des spekulativen Immobilienhandels sogar vorteilhaft sein, da sie langfristig spekulativen Preistreibereien entgegenwirkt.
Forderung 4: Abschaffung der Steuerbefreiung bei Erbschaften ab 300 Wohnungen
Wer eine Immobilie erbt, muss Erbschaftsteuer zahlen, wenn der Wert der Immobilie einen Freibetrag überschreitet – unabhängig davon, ob es sich um 2 oder 299 Wohnungen handelt. Erbt man hingegen 300 oder mehr Wohnungen, entfällt die Erbschaftsteuer vollständig. Steuerexpert:innen schätzen, dass den Bundesländern dadurch jährlich mehr als 1 Milliarde Euro an Steuereinnahmen entgehen.
Was ist der Hintergrund dieser Steuerregelung? Welche Auswirkungen hat sie? Und welche Steuern würden anfallen, wenn ich 300 Wohnungen verkaufe?
Trautvetter: Dieses absurde Steuerprivileg ist ein Erfolg der Lobbyisten. Sowohl der Bundesfinanzhof als auch das Bundesverfassungsgericht haben sich bereits deutlich dagegen positioniert. Das Bundesfinanzministerium ignoriert jedoch diese Urteile. Die faktische Steuerbefreiung für große Immobilienvermögen wird damit begründet, dass Erben sonst gezwungen sein könnten, die geerbten Wohnungen an Spekulanten zu verkaufen. Belege dafür gibt es nicht. Es liegen nicht einmal Zahlen vor, wie viele Fälle und Wohnungen überhaupt jährlich betroffen wären. Markterschütterungen wären bei einer Abschaffung der Befreiung wohl kaum zu erwarten. Abgesehen davon verkaufen viele Erben die Wohnungen ohnehin nach Ablauf der siebenjährigen Haltefrist – die Zehn-Jahres-Frist gilt nur für Immobilien im Privatvermögen. Dann fallen immerhin Steuern auf die Verkaufsgewinne an – es sei denn, sie nutzen einen Share Deal, um die Steuer vollständig zu umgehen.
Forderung 5: Eindämmung der Steuerflucht durch eine globale Milliardärssteuer
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) schätzt, dass es in Deutschland über 250 Milliardärshaushalte gibt. Diese besonders vermögenden Haushalte könnten einen größeren Beitrag zu den Finanzierungsaufgaben des Staates leisten, ohne dadurch stark belastet zu werden. Um eine Abwanderung von Vermögen ins Ausland zu verhindern, schlagen die grünen Abgeordneten eine globale Milliardärssteuer vor. Eine solche hat Brasilien, das noch bis Dezember 2024 die G20-Präsidentschaft innehat, den G20-Ländern vorgeschlagen, um von Hochvermögenden einen fairen Anteil zur Lösung der globalen Probleme zu erhalten. Steuerflucht wäre damit sinnlos. Laut DIW könnten die Einnahmen mehr als 5,7 Milliarden Euro in Deutschland betragen.
Wie realistisch ist eine solche Steuer? Existieren nationale oder europäische Alternativen, um die großen Vermögenden stärker in die Pflicht zu nehmen? Und welchen Anteil haben Immobilien-Milliardäre?
Trautvetter: In den letzten drei Jahrzehnten hofften wir, die Superreichen würden zur Lösung unserer Probleme beitragen, wenn wir sie nur ließen. Diese Hoffnung führte zur Abschaffung der Gemeinnützigkeit im Wohnungswesen und zur Halbierung des Steuersatzes für reinvestierte Mieteinnahmen und Dividenden. Dadurch häuften Superreiche riesige Vermögen an, einige stiegen mit tausenden Wohnungen zu Immobilienmilliardär:innen auf. Ein geringer Teil dieses Vermögens floss tatsächlich in sozialen Wohnungsbau und nachhaltiges Wirtschaften, aber der überwiegende Teil eben nicht. Die globale Milliardärssteuer würde diesen Superreichen einen Teil ihrer undemokratischen Entscheidungsmacht über unsere wirtschaftlichen Ressourcen nehmen. Dazu wird auf Ebene der G20 und bald wohl auch bei der UN verhandelt. Der Weg zu einer internationalen Lösung ist jedoch lang. Positiv ist, dass Deutschland schon heute allein oder mit willigen Partnern wie Frankreich und Brasilien vorangehen könnte. Es gibt hier nämlich seit 1972 ein sehr wirksames Gesetz gegen Steuerflucht – die Wegzugsbesteuerung. Und die zweite gute Botschaft: Weil wir bisher so wenig über die großen Vermögen wissen, dürften die Einnahmen noch deutlich höher sein, als vom DIW geschätzt. Unsere Schätzungen liegen bei 15 bis 30 Milliarden Euro pro Jahr.
Forderung 6: Fairere Besteuerung von Kapitaleinkünften
Arbeitseinkommen werden oft stärker besteuert als Kapitaleinkünfte. Während die Steuer bei Kapitalerträgen bei 25 Prozent liegt, können Arbeitseinkommen mit bis zu 45 Prozent besteuert werden. Zwar erreichen die meisten Arbeitnehmer:innen hierzulande nicht den Höchstsatz, doch bleibt die Ungleichheit zwischen der Besteuerung von Arbeit und Kapital bestehen. Daher ist es sinnvoll, Kapitaleinkünfte stärker zu besteuern. Gleichzeitig braucht es effektive Maßnahmen gegen Steuerflucht, die sich nicht nur auf Milliardäre beziehen.
Wertzuwächse aus Boden und Immobilien zählen zu den Kapitaleinkünften. Wie sollten Mieteinnahmen und Wertzuwächse besteuert werden? Investitionen ins Wohnen erfordern Anreize. Würden noch Wohnungen angeboten, wenn diese Kapitaleinkünfte höher besteuert würden?
Trautvetter: Immobilienmilliardäre profitieren durch die erweiterte Kürzung und zahlen daher nur etwa 16 Prozent Steuern. Das führt aber nicht notwendigerweise zu mehr Investitionen in Wohnungsbau oder niedrigere Mieten. Sie können das Geld zum Beispiel auch zum Kauf von Apple-Aktien oder kanadischen Bestandswohnungen nutzen – und das tun sie tatsächlich recht häufig. Wenn man die Steuerprivilegien für Immobilieneigentümer:innen abschaffen und eine moderate Vermögensteuer für Immobilienmilliardär:innen erhebt, würden sie deshalb nicht aufhören, in Immobilien zu investieren oder ihre Wohnungen zu vermieten. Schließlich behalten sie dann immer noch etwa die Hälfte aller Gewinne. Mit den Einnahmen könnte man sozialen Wohnungsbau fördern oder Anreize für den ökologischen Umbau schaffen. Das gelang schon einmal: Vor fast hundert Jahren subventionierte die Hauszinssteuer gemeinnützige und genossenschaftliche Wohnungen, die zum großen Teil noch heute günstig und rentabel vermietet werden.
Weitere Ansätze für ein gerechtes Steuersystem
Neben den Forderungen der Bundestagsabgeordneten gibt es weitere Gerechtigkeitslücken, die zur Förderung von Ungleichheit beitragen. So verschieben beispielsweise ausländische Investor:innen Gewinne aus deutschen Immobilien als Kreditzinsen in Steueroasen. Darüber hinaus fließt anonymes, häufig illegales Geld aus der ganzen Welt in den deutschen Wohnungsmarkt und treibt dadurch die Preise künstlich in die Höhe. Unternehmen, die ihren Wohnungsbestand ökologisch umbauen möchten, sind wiederum durch unzureichende steuerliche Abschreibungsmöglichkeiten benachteiligt. Ein naheliegendes Beispiel für Ungerechtigkeiten ist zudem die Weitergabe der Grundsteuerlast an Mieter:innen, die häufig über die Betriebskostenabrechnung umgelegt wird.
Die Grundsteuer kann auf die Mietenden umgelegt werden, und das obwohl sie eine Eigentümersteuer ist, die den Gemeinden für Infrastrukturmaßnahmen zugutekommt. Warum stellt sie darüber hinaus eine Gerechtigkeitslücke dar?
Trautvetter: Mehr als die Hälfte der Deutschen wohnt zur Miete und besitzt keine Immobilien. Die wirklich wertvollen Immobilien in begehrten Lagen konzentrieren sich in den Händen einer kleinen Gruppe von Eigentümer:innen. Eine Steuer ist für sie gut zu rechtfertigen, weil die begehrenswerte Lage ein gesellschaftliches Werk ist. Deswegen ist sie bei Ökonomen genauso wie bei Bürgermeister:innen beliebt. Aber die Grundsteuer wirkt wie eine Vermögensteuer des kleinen Mannes und trifft auch diejenigen, die ihre Immobilie auf Kredit gekauft haben. 2021 zwang ein Verfassungsgerichtsurteil zur Reform und Aktualisierung der Jahrzehnte alten Bewertungen. Vorschläge, wertvolle Immobilien in guter Lage höher zu besteuern, scheiterten jedoch, weil sie letztlich die ohnehin hohen Mieten in den Innenstädten nach oben getrieben hätten. Vermietende können die Steuer unabhängig von der Mietpreisbremse auf ihre Mieter:innen umlegen. Hätte man jedoch diese Umlagefähigkeit abgeschafft, wäre es wegen der Mietpreisbremse nicht zu massenhaften Mieterhöhungen gekommen. Doch die Union blockierte diesen Ansatz. Stattdessen durften die Bundesländer eigene Regeln erlassen. In Bayern zahlt das Einfamilienhaus an der großen, lauten Straße am Stadtrand jetzt mehr Grundsteuer als die schicke Eigentumswohnung in bester und ruhiger Innenstadtlage. Überhaupt verlangt der Staat von Raucher:innen insgesamt mehr Steuern als von allen Immobiliennutzer:innen.
fs
14.11.2024