Die Weiße Siedlung mit fast 1.700 Wohnungen prägt mit ihren fünf hellen Gebäudekomplexen die Skyline von Neukölln. Seit dem Auslaufen der Sozialbindungen 2016 gehören die Wohnungen dem Immobilienkonzern Adler. Heute beklagen viele Mietende gravierende Mängel und die Ignoranz des Vermieters. Wie es gelang, eine starke Mieter:inneninitiative in dieser großen Siedlung aufzubauen, erzählen Juli Westendorf, Kiezprojekt Berlin und Georgia Lummert vom Kiezteam Neukölln im Interview.
Warum haben sich die Haupt- und Ehrenamtlichen im Kiezprojekt für eine so große Siedlung entschieden?
Georgia: Uns war von Anfang an bewusst, dass die Größe der Siedlung eine Herausforderung darstellt. Dennoch war es dem Kiezteam Neukölln von DWe (Deutsche Wohnen enteignen; Anm. d. Red.) wichtig, Mieter:innen zu erreichen, die oft nicht von klassisch aktivistischen Strukturen oder den Unterstützungsangeboten des Bezirks erfasst werden. Viele der Bewohner:innen kennen ihre Mieterrechte nicht oder haben Angst, ihre Wohnung zu verlieren, wenn sie sich gegen Missstände wehren. Deshalb war es umso wichtiger, gemeinsam etwas zu unternehmen. Organisierung ist gerade in einer anonymen Großwohnsiedlung schwierig, kann aber auch besonders wirkungsvoll sein.
Juli: Während des Volksentscheids zur Vergesellschaftung großer Wohnungskonzerne sammelte das Kiezteam Neukölln in der Weißen Siedlung Unterschriften und erfuhr so von den massiven Mängeln in den Wohnungen. Eine Organisierung ist dann besonders sinnvoll, wenn viele Mieter:innen von denselben Problemen betroffen sind – kaputte Fahrstühle, undichte Fenster, Schimmel – und die Vermieterin, die Adler Group, nicht auf individuelle Beschwerden reagiert. Außerdem leben hier viele Mieter:innen, die in mehrfacher Hinsicht Diskriminierungserfahrungen gemacht haben und auf dem Wohnungsmarkt besonders benachteiligt sind. Deshalb war es auch eine politische Entscheidung des Kiezprojekts, die Organisierung in der Weißen Siedlung mit hauptamtlichen Kapazitäten zu unterstützen.
Wie gelang es, die Mietenden der Großsiedlung zu erreichen?
Georgia: Unsere Organisierungsarbeit begann mit Haustürgesprächen, um mehr über die Missstände zu erfahren und Mieter:innen zur Zusammenarbeit zu ermutigen. Zusätzlich suchten wir den Kontakt zu bestehenden sozialen Einrichtungen wie dem Nachbarschaftstreff oder dem Jugendclub, um bereits engagierte Bewohner:innen zu vernetzen. Daraus entstand im Sommer 2023 die Kiez-Initiative Weiße Siedlung.
Juli: Es war uns wichtig, zunächst eine starke, vielfältige Kerngruppe aufzubauen. Diese verfasste einen Brandbrief an Adler mit den drängendsten Forderungen und sammelte Hunderte Unterschriften aus der gesamten Siedlung. Auf diese Weise gewannen wir viele neue Mietende für die Initiative.
Habt ihr auch zu einer großen Mieter:innenversammlung eingeladen?
Georgia: Eine große Versammlung hat bisher nicht stattgefunden. Stattdessen finden seit einem Jahr alle zwei Wochen Treffen für die Mietenden statt. Besonders bei speziellen Anlässen, etwa wenn ein Anwalt aus dem BMV eingeladen wird, der über Möglichkeiten zur Mängelmeldung informiert, kommen mehr als 30 Personen zusammen. Auch in Krisenzeiten, wie nach einem Brand im Frühjahr 2024, der viele Mieter:innen zwang, ihre Wohnungen auf unbestimmte Zeit zu verlassen, sind die Treffen gut besucht. Sie haben sich inzwischen als zentrale Anlaufstelle für Probleme etabliert.
Gab es eine offizielle Gründungssitzung der Initiative?
Juli: Im Juli 2023 fand ein erstes Treffen mit engagierten Nachbar:innen statt. Seitdem kommt die Kerngruppe regelmäßig zusammen. Der Name „Kiez-Initiative Weiße Siedlung“ wurde zwar erst später beschlossen, doch die Initiative besteht seit über einem Jahr.
Ihr habt bereits viel mediale Aufmerksamkeit erreicht. Welche Aktionen habt ihr bisher umgesetzt?
Georgia: Im April 2024 luden wir zu einer Kundgebung ein, bei der wir den von 1.000 Mieter:innen unterschriebenen Brandbrief an Adler übergeben wollten. Die Veranstaltung zog 150 Mieter:innen sowie Vertreter:innen aus der Bezirks- und Landespolitik und der Presse an. Von Adler ist zwar niemand erschienen, aber es gab Berichte in der Presse und einen Beitrag in der Abendschau des RBB. Auch nach dem bereits erwähnten Brand im Februar 2024 sorgte unser offener Brief an Adler für viel mediale Aufmerksamkeit.
Juli: Die Kundgebung war ein bedeutender Meilenstein im Aufbau der Kiez-Initiative und half dabei, die Frustration über Adlers Untätigkeit zu bündeln und viele neue Unterstützer:innen sowohl in der Siedlung als auch in der Politik zu gewinnen. Die öffentliche Aufmerksamkeit ist uns wichtig, um nicht nur politischen Druck auszuüben, sondern auch das skrupellose Verhalten großer Wohnungsunternehmen sichtbar zu machen.
Wie verhält sich die Bezirkspolitik gegenüber Adler?
Juli: Durch die Kundgebung besteht nun auch ein direkter Kontakt zum Bezirk Neukölln. Die Initiative hat sich mit dem zuständigen Bezirksstadtrat Jochen Biedermann (Grüne) getroffen, um die Probleme mit Adler zu schildern und ihre Forderungen vorzutragen. Solche kurzen Wege helfen, damit der Bezirk zum Beispiel durch die Bau- und Wohnungsaufsicht konsequenter vorgehen kann, wenn Adler Mängel in der Siedlung nicht beseitigt und seinen Pflichten als Vermieter nicht nachkommt.
Wie geht es nun weiter?
Georgia: Derzeit suchen wir in allen 29 Häusern der Siedlung Hausverantwortliche, die die interne Vernetzung organisieren, beispielsweise über WhatsApp-Gruppen. In einem Haus gab es bereits eine Versammlung, bei der ein Viertel der Bewohner:innen gemeinsam Mängelanzeigen verschickte. Reagiert Adler nicht, folgen juristische Schritte und die Durchsetzung von Mietminderungen.
Juli: Wir setzen diesen Plan gerade mit den Mieter:innen eines Hauses um und werden die gewonnenen Erfahrungen auf die gesamte Siedlung übertragen. Inspiriert von Kotti & Co. nennen wir unser Vorgehen „Miete senken – selber machen“. Neben dem Druck auf Adler wollen wir auch das nachbarschaftliche Miteinander stärken.
Was sind die Ziele der Initiative?
Georgia: Wir drängen weiterhin auf die sofortige Behebung der Mängel und eine verlässliche Reaktion auf Mängelmeldungen. Zudem fordern wir ein moderiertes Gespräch mit Adler, um gemeinsam Lösungen zu finden. In den kommenden Monaten werden Hausversammlungen stattfinden, bei denen Mieter:innen gemeinsam Mängelanzeigen verfassen. Gemeinsam mit dem BMV und solidarischen Anwält:innen können wir den Mieter:innen helfen, auch den Rechtsweg zu gehen, sollte die Mängelbeseitigung durch Adler nicht erfolgen. Parallel planen wir öffentliche Aktionen wie Demonstrationen und bleiben im Austausch mit der Bezirkspolitik.
Juli: Neben den materiellen Erfolgen wie funktionierenden Fahrstühlen oder beseitigten Schimmelschäden streben wir eine starke und wehrhafte Mieter:inneninitiative an, die in allen Häusern präsent ist. Ein langfristiges Ziel der Mieter:innen bleibt die Enteignung von Adler.
Vielen Dank für das Interview!
fs
16.10.2024