Das „Geschützte Marktsegment“ soll jenen Menschen Wohnungen zur Verfügung stellen, die auf dem regulären Wohnungsmarkt überhaupt keine Chance (mehr) haben. Ein gutes Instrument, ein Nischen-Dasein und jede Menge Reformbedarf.
Als Reaktion auf die Wohnungsnot der 1980er Jahre gibt es seit 1993 in Berlin für Wohnungsnotfälle das „Geschützte Marktsegment“ (GMS): Ein festgelegtes Kontingent an Wohnungen soll besonders vulnerablen Bevölkerungsgruppen und Mieter:innen zur Verfügung stehen, die aufgrund ihrer sozialen Lage keine Chance auf eine Wohnung haben oder akut von Wohnungslosigkeit bedroht oder betroffen sind. Seit damals sichern Kooperationsverträge zwischen dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) beziehungsweise den Fachabteilungen Soziales in den Bezirksämtern und den Vermieter:innen die jeweiligen Kontingente und halten die Vermietungsbedingungen fest. Auch heute gehen die Bezirke für Menschen im Wohnungsnotfall eine Bürgschaft für die angemietete Wohnung ein.
Die Kriterien für eine Wohnung im GMS
Potenzielle Mieter:innen müssen sehr spezifische Kriterien erfüllen. Das GMS richtet sich an Personen, die wohnungslos oder unmittelbar von Wohnungslosigkeit bedroht sind, bei denen das bestehende Mietvertragsverhältnis nicht durch das Jobcenter oder die Sozialhilfe aufrechterhalten werden kann, die vor einer Entlassung aus betreuenden Einrichtungen oder einer Haftstrafe stehen, zwangsgeräumte Personen sowie jene, die in Notunterkünften leben oder diejenigen, die nach dem Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz (ASOG) untergebracht sind. Voraussetzung ist außerdem, dass sie mindestens ein Jahr in Berlin leben und eine „positive sozialpädagogische Prognose“ aufweisen. Für manche Menschen ist das GMS oft die letzte Möglichkeit, eine Wohnung zu bekommen. Anders als bei anderen sozialen Hilfen besteht im GMS jedoch kein Rechtsanspruch auf eine Wohnung.
Die Lage hat sich dramatisch verschärft, die Konkurrenz im unteren Preissegment ist riesig
1993 standen den 3.500 Wohnungen im GMS etwa 5.000 wohnungslose Berliner:innen gegenüber. Heute gibt es in unserer Stadt etwa 40.000 Wohnungslose, doch die Zahl der Wohnungen im GMS ist sogar kleiner geworden: Bei den landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften sind es 1.350 Wohnungen, im Bündnis für Wohnungsneubau und bezahlbares Wohnen wurden mit den privaten Wohnungsunternehmen weitere 1.150 Wohnungen vereinbart. Inzwischen scheint es utopisch, im angespannten und zugleich profitgetriebenen Wohnungsmarkt unserer Stadt 40.000 Wohnungen für das Geschützte Marktsegement zu fordern. Wichtig wäre es aber dennoch, denn in der vorherrschenden Wohnungsnot findet sich ein großer Teil Wohnungsloser und Wohnungssuchender in einer Konkurrenzsituation um bezahlbaren Wohnraum wieder. Betroffene, Behörden und soziale Träger ringen seit einigen Jahren um die wichtige Ressource Wohnraum: Neben dem GMS benötigt auch das Obdachlosen-Projekt „Housing First“ Wohnungen im unteren Preissegment; hinzu kommen Wohnungen, die für die sogenannten „67er Hilfen“ (Sozialgesetzbuch XII, Paragraph 67) benötigt werden.
Zielzahlen noch nie erreicht
Sowohl die Wohnungswirtschaft als auch der Senat gehen davon aus, dass der Bedarf in den kommenden Jahren weiter ansteigen wird. Die realen Wohnungsvergaben sind ein Tropfen auf den heißen Stein: Seit der Einführung des GMS lag die Vermittlungszahl weit unter den – eigentlich vertraglich verpflichteten – Zielzahlen. Das zeigt eine parlamentarische Anfrage der Grünen-Abgeordneten Katrin Schmidberger und Taylan Kurt, die am 13. November zum Fachgespräch mit rund 50 Teilnehmenden aus Bezirksämtern, sozialen Trägern, Obdachlosen- und Wohnungslosenvertretungen sowie Verbänden ins Berliner Abgeordnetenhaus geladen hatten. Das Fachgespräch diente der Vorbereitung eines Gesetzesantrags der Berliner Grünen für eine Reform des GMS.
Vertragliche Verpflichtung einführen
Private Wohnungsunternehmen haben in der Regel keine vertragliche Pflicht, im GMS zu vermieten. Ausgenommen davon ist nur die Vonovia/Deutsche Wohnen, die im Zuge der Übernahme der ehemaligen landeseigenen GSW die vertragliche Pflicht von 230 Wohnungen pro Jahr mitnahm. Laut Geschäftsbericht aus dem Jahr 2022 beläuft sich der Wohnungsbestand in Berlin auf 144.094 Wohneinheiten. Ganze 230 Wohnungen sind davon dem GMS zugeordnet. Von diesen 230 Wohnungen wurden 2022 lediglich 57 vermietet. Dass das keine Ausnahme ist, geht aus der Antwort auf eine schriftliche Anfrage von Niklas Schenker (LINKE) vom 20. Januar 2023 hervor: Seit 2013 hat die Deutsche Wohnen von den 230 verabredeten Wohnungen im Durchschnitt jährlich nur 60 Wohnungen zur Verfügung gestellt. Dieser Wert zeigt, dass Vonovia/Deutsche Wohnen den ohnehin geringen Anteil ihrer Wohnungen, die für das GMS vorgesehen sind, nur zu einem Viertel tatsächlich bereitstellt.
Antragsmuster vereinheitlichen und objektive Kriterien festlegen
Bei den landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften beträgt die Vermittlungsquote bei einem Kontingent von 1.350 Wohnungen seit Jahren immerhin zwischen 82 und 90 Prozent. Seit 1993 konnten Behörden und landeseigene Wohnungsunternehmen mehr als 31.000 Haushalte in Wohnraum bringen. Diese langjährigen Bemühungen verdienen Wertschätzung, betonte auch ein Vertreter des Verbands Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen (BBU) im Fachgespräch.
Die Probleme mit der Wohnungsvermittlung im GMS liegen nicht nur bei den Zielzahlen. Einige Sozialarbeiter:innen berichteten, dass sie des Öfteren den Aufwand scheuen, Anträge für ihre Klient:innen zu stellen. Der sogenannte M-Schein berechtigt die Anmietung einer Wohnung im GMS. Doch immer wieder erleben die Sozialarbeiter:innen, dass Menschen in besonderen Umständen durch das Raster fallen, zum Beispiel junge Erwachsene, die aus überbelegten, konfliktbehafteten Elternhaushalten ausziehen müssen und akut von Wohnungslosigkeit bedroht sind.
Hinzu kommt, dass es kein einheitliches Verfahren in den Bezirken gibt. Die Mitarbeitenden in den Fachabteilungen soziale Wohnhilfen, die die Anträge bearbeiten, erstellen auf Basis der Begutachtung der Lebenssituation und der sozialpsychiatrischen Gesundheit der Antragstellenden einen Score, der für die Einstufung in das GMS maßgeblich ist. Die Kritik einiger Sachbearbeiter:innen, dass die Scores nicht über ein Raster gebildet werden, scheint berechtigt. An die Stelle des Fragenkatalogs, der je nach Gutachter:in zu subjektiven Einstufungen – und damit auch zu Fehleinschätzungen – führt, sollte ein einheitliches Verfahren für alle Bezirke treten.
Verbindliche Zahlen auch für den Neubau
Die Zahlen machen deutlich, dass das GMS die realen Bedarfe nicht abdecken kann. Dessen sind sich Politik, Verwaltung und Wohnungswirtschaft bewusst. Das Bündnis für Wohnungsneubau und bezahlbares Wohnen hat das GMS in seine Bündnisvereinbarungen aufgenommen. Demnach soll Berlin landeseigene Grundstücke mittels Erbbaupacht an gemeinwohlorientierte oder soziale Träger vergeben. Das GMS steht dabei im Fokus, soziale Belange und besondere Bedarfe sollen Vorrang haben.
Was fehlt, sind konkrete Informationen zur Anzahl von Trägerwohnungen sowie das Geschützte Marktsegment im Neubau. Die Bündnispartner konnten die Wohnungsbauunternehmen offenbar nicht zu vergleichbaren sozialen Vorgaben wie im Bestand verpflichten. Lediglich zur Zahl der Wohnraumvermittlungen im Rahmen des GMS gab es die Festlegung der insgesamt 2.500 Wohneinheiten, die je hälftig von den landeseigenen sowie den privaten Wohnungsunternehmen zu erbringen sind. Allerdings hat es keine Konsequenzen, wenn sie diese Zahlen nicht erreichen. Hier hätte die Politik ordnungsrechtlich verpflichtende Vorgaben mit entsprechenden Folgen bei Nichtbeachtung machen müssen.
Projekte mit Vorbildfunktion statt Konkurrenz
Beim Fachgespräch im Abgeordnetenhaus war man sich einig: Es darf keine Konkurrenz zwischen dem GMS und Projekten wie „Housing First“ zur Beendigung von Obdachlosigkeit oder dem Wohnraumvermittlungsprojekt für junge Menschen „Social B&B“ geben, das der Straßensozialarbeitsträger Gangway ins Leben gerufen hat. Dort schaffen sie, was die Zuständigen im Senat und in den Bezirksfachstellen aufgrund fehlender Kapazitäten oft nicht leisten können: kleinteilige Akquisearbeit bei Vermieter:innen.
Das Projekt „Housing First“ hat ein gutes Image. Es ist nicht nur bekannter als das GMS, Engagement für obdachlose Menschen ist gesellschaftlich geachtet. Manche Vermietende steigen hier eher ein und stellen eine Wohnung zur Verfügung. Andere Vermieter:innen setzen sich seit langem für wohnungslose Menschen ein und legen Wert auf eine gute Kommunikation mit ihren Mieter:innen. Bekannter darf das Geschützte Marktsegment in der Öffentlichkeit allemal werden – vorbildlich wird es dann, wenn es die gesellschaftlichen Bedarfe deckt und alle Vermieter:innen verstanden haben, dass mit der Vermietung von Wohnraum immer auch die soziale Verantwortung für Mensch und Umwelt einhergeht.
Ein Beitrag von Vera Colditz und Franziska Schulte
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18.11.2023